Nachfolge in Zeiten des Zorns

Letztes Jahr im Oktober: Ich sitze in der Regionalbahn und höre, wie jemand ganz am anderen Ende des Waggons laut sagt: Der Habeck gehört erschossen! Ich will ja eigentlich ein Buch lesen, aber die weibliche Stimme kann ich nicht ausblenden, sie klingt wie eine Bekannte (die so etwas freilich nie niemals sagen würde).

Die unbekannt-bekannte Stimme im Zug monologisiert lautstark weiter, neue Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. Keiner ihrer Gesprächsparter (es sind wohl mehrere) widerspricht. Sind die denn alle einverstanden, gewählte Politiker, die man nicht mag und deren einziges „Verbrechen“ es ist, andere Positionen zu vertreten als man selbst, mit Gewalt zu beseitigen? Die junge Frau hält sich ganz offenkundig für eine von den Guten. Und je länger sie sich im Recht fühlt, desto mehr Hass auf andere genehmigt sie sich.

Selbstgerechtigkeit ist ein starkes Gefühl. Sie verleitet mich dazu, Gott zu spielen. Als ich aussteige, fällt mir eine Szene aus der Bibel ein: Da wird Jesus „guter Meister“ genannt und er weist das sofort zurück: „Gott allein ist gut“, sagt er. Jesus weiß genau, wie brutal und übergriffig selbstgerechte Menschen sein können. Er hat es am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Ich bin nicht Gott. Ich bin auch nicht immer gut. Und genau deshalb kann ich mit mir und anderen Geduld haben. Sie stehen lassen mit ihren manchmal wunderlichen oder nervigen Ansichten. Fair und friedlich bleiben, statt auf Rache und Vernichtung zu sinnen. So wird zwar nicht alles, aber manches wieder ein bisschen besser. 

Aber den Hass und die mörderische Sprache kann man nicht stehen lassen. Nick Cave sagt in „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“:

"Ich habe das Gefühl, … dass es da draußen unermessllichen Zorn gibt, der irgendwie zum Leben erwackt wurde und sich nun gegenseitig entfacht. … Es fühlt sich die ganze Zeit an, als wären wir kurz vor einer Explosion."

In den letzten Wochen haben viele Menschen, auch viele Christen, ein deutliches Zeichen gesetzt, indem sie auf die Straßen gegangen sind. Gegen Akteure und Bewegungen, die offenbar Gott spielen wollen, indem sie anderen ihrer Grundrechte berauben.

Aber es ist nicht nur das, was mich an die Bahnfahrt vom Herbst erinnert. Im Oktober fühlte sich das Bahn-Erlebnis noch wie ein grotesker Ausreißer an, aber aus dem dumpfen Krakeelen ist inzwischen handfeste Gewalt geworden – eben vor allem gegen grüne Politiker:innen. Die Polizei ist erstaunlich zurückhaltend angesichts dieser Übergriffe. Man könnte fast meinen, sie wendet ihre Schmerzgriffe vor allem da an, wo die Protestierenden unbewaffnet, friedlich und verletzlich daherkommen. Und konservative Politiker kommentieren den Bruch demokratischer Spielregeln immer noch mit einem hämischen „selber schuld“. In den Unionsparteien und bei den Freien Wählern haben einige offenbar ein recht opportunistisches Verhältnis zur Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Sabine am Orde schrieb dazu kürzlich:

Noch viel schlimmer aber ist, dass diese entweder nicht begreifen, wie ernst die Lage ist – oder bereit sind, dies parteipolitischem Kalkül zu opfern. Die Attacken richten sich ja nicht nur gegen die Grünen, sondern ­gegen die Demokratie. Und damit auch gegen sie.

Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass es ein langes, zähes Ringen darum geben wird, welchen Weg unser Land einschlägt. Die katholischen Bischöfe haben sich schon erfreulich klar positioniert – gegen einen Populismus, der „stereotypen Ressentiments freie Bahn verschafft – gegen Geflüchtete und Migranten, gegen Muslime, gegen die vermeintliche Verschwörung der sogenannten globalen Eliten, immer stärker auch wieder gegen Jüdinnen und Juden“.

Die Bischöfe wissen es, und wir wissen es im Grunde ja auch: Nur wenn wir nicht der Versuchung erliegen, Gott zu spielen (vor allem nicht den zornigen Gott), gelingt es uns auch, menschlich mit uns selbst und anderen umzugehen. Die Passionszeit ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken.

Wutfasten sollte freilich nicht auf ein paar Wochen im Jahr beschränkt sein.

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Mit der Erde im Bunde: Frauen und die solidarische Lebensweise

Mitten in der Offenbarung des Johannes erscheint eine namenlose Frauengestalt, die unter Gefahren ein Kind zu Welt bringt und schließlich vor dem Drachen fliehen muss, der dort wütet. Es ist eine surreale Szene. Der Drache speit ihr einen Wasserschwall hinterher, aber dann schluckt die Erde das Wasser einfach weg und rettet so die Frau.

Mich hat dieses krasse Bild jüngst ganz unmittelbar angesprochen. Erstens, weil sich eine Mutter um das Überleben ihres Kindes in einer aus den Fugen geratenen Welt sorgt. Diese Fürsorge für kommende Generationen (und für alles Schwache und Schutzbedürftige) hat ja auch bei uns ein überwiegend weibliches Gesicht. Nicht nur das von Klima-Aktivistinnen, sondern auch in den meisten, wenn nicht allen sozialen Berufen. Und ehrenamtlichen Funktionen, auch und gerade in den Kirchen.

Der Fotograf Adrien Taylor schreibt: „I was blown away by the beauty of the Bangladeshi people — both in their character and appearance. Bangladesh faces losing 18% of its land, displacing thirty million people, with one metre sea-level rise.“
unsplash-logoAdrien Taylor

Dagegen steht der Drache für alles, was aktuell unter „toxischer Männlichkeit“ thematisiert wird: Aggression, Ausbeutung, Dominanz, Dogmatismus, Unterwerfung. Der Drache erbricht eine Flut von Hass gegen die Frau. Ich finde, es trifft die Situation hier und heute wirklich gut, wenn man betrachtet, wie junge Frauen wie Greta Thunberg von den Alpha-Fachmännern entweder mundtot gemacht oder gleich mit Vernichtung bedroht werden. Auf der re;publica wurde letzte Woche in vielen Foren diskutiert, wie diese Flut zu stoppen wäre.

Es sind sicher nicht ausschließlich Männer, die das betreiben, aber eben vorwiegend. Und die Wurzeln der Klimakatastrophe liegen in einer typisch „männlichen“ Lebensweise, die Fleischverzehr und Verbrennungsmotoren für identitätsstiftend hält. Das haben ja auch Ulrich Brand und Markus Wissen in „Imperiale Lebensweise“ deutlich gemacht. Diese Lebenseinstellung hinterlässt überall verbrannte Erde. Und Eltern, die mit ihren Kindern vor steigendem Meeresspiegel und sich stetig verschärfenden Naturkatastrophen fliehen müssen.

Und nun ist es ausgerechnet die Erde, die der Frau zu Hilfe kommt. „Weibliche“ Kooperation neutralisiert „männliche“ Konkurrenz und Aggression. Eine Partnerschaft zwischen der Erde und der verwundbaren Mutter tut sich auf. Das hat mich an Joana Macys Betonung von Dankbarkeit und Verbundenheit mit der Schöpfung erinnert. Und an Bruno Latours These, dass „das Terrestrische“ inzwischen als eigenständiger Akteur in der globalen Politik auftritt (N.B.: Das Kapital tut das schon längst, einige sprechen daher auch vom „Kapitalozän“).

Die Allianz zwischen der Frau und der Erde ist ein schönes Bild für eine solidarische Lebenweise – das Gegenstück zum imperialen Modus der Existenz.

Wenn wir also heute als Christ*innen und Kirchen fragen, wo unser Platz in diesen Auseinandersetzungen ist, dann legt uns diese Vision nahe, ihn an der Seite all der Frauen (und Kinder) zu finden, die den Großteil der Kosten für die imperiale Lebensweise tragen. Und an der Seite der Erde, die sich gegen den patriarchalen Kapitalismus aufbäumt.

Solche Bündnisse gilt es zu schmieden und zu stärken, zum Beispiel beim Earth Day, der 2020 zum 50. Mal stattfindet. Überall, wo Männerbünde in Politik, Wirtschaft und Kirche dominieren, ist – um Himmels willen – Wachsamkeit und Widerstand angesagt.

Nur dann wird es uns allen besser gehen.

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Öde Ewigkeit?

Im Konfiunterricht gestern kam die Rede auf das ewige Leben und prompt fragte einer, ob das eigentlich wünschenswert sei, ewig zu leben. Immerhin könnte es ja schrecklich langweilig werden.

Das freilich ist die Horrorvorstellung, nicht erst seit Ludwig Thomas Münchner im Himmel – wobei den ja weniger die Ewigkeit schreckte, im Hofbräuhaus hielte er es durchaus ewig aus, sondern eher das ätherisch-Immaterielle der himmlischen Existenz. Die Ewigkeit als bloße Endlosschleife des ewig Gleichen gehört eher in die Reihe der Höllenvisionen. „Schlechte Unendlichkeit“, schreibt Bernhard Waldenfels, und erinnert an den Sisyphus-Mythos.

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Uroš Jovičić

Wie antwortet man auf so einen Einwand? Mir fiel spontan Folgendes ein:

Seit es Menschen gibt, machen sie Musik. Sie singen, sie spielen Instrumente, sie komponieren – Jahrtausende lang. Die Musik der letzten 500 Jahre ist großteils aufgeschrieben, wir kennen sie also. Es sind immer dieselben 8 oder 12 Töne der diatonischen bzw. chromatischen Tonleiter. Und doch ist uns noch nicht langweilig geworden. Im Gegenteil, wenn deine Lieblingsband ein neues Album herausbringst, bist du voller Spannung und Vorfreude. Niemand stellt Berechnungen an, wann der Tag erreicht ist, an dem alles komponiert ist, was komponiert werden kann.

Wenn schon unsere menschliche Kreativität so groß ist, dass wir mit zwölf Tönen 500 Jahre Musik machen können, ohne uns zu langweilen und ohne dass sich alles nur wiederholt, warum sollte es in Gottes Ewigkeit und mit seinem Erfindungsreichtum jemals langweilig werden?

Wäre etwas mehr Zeit gewesen, hätten wir auch noch über G.K. Chestertons Beobachtung reden können, dass kleine Kinder von Wiederholungen kaum genug bekommen können, während Erwachsene davon genervt sind. Für ihn ist das ein Zeichen abnehmender Vitalität. Also stellt er sich Gott in dieser Hinsicht vor wie ein Kind, „jünger als wir“: Er wird nie müde, Gänseblümchen einzeln zu machen und sich jeden Morgen Sonnenaufgänge anzusehen. Und ich denke mir: Vielleicht ist ja auch deshalb Gottes Barmherzigkeit „jeden Morgen neu“.

Irgendwo zwischen diesen beiden Überlegungen spannt sich das weite Feld der ewigen Freude auf.

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Gott ist genervt: Unharmonische Weihnachtsgedanken.

Weihnachten herrscht in unseren Familien und Freundeskreisen manchmal, aber beileibe nicht immer ungetrübte Freude. Hin und wieder ist einer genervt. Das Essen misslingt oder entspricht nicht den Erwartungen, Gäste verspäten sich, mühsam ausgesuchte Geschenke treffen auf eher mäßige Begeisterung, der Gesprächsstoff geht aus, weil zu viele Themen mit Konflikten besetzt und die Harmlosigkeiten alle schon abgegrast sind. Irgendwann fällt ein falsches Wort, oder jemand bekommt etwas gut Gemeintes in den falschen Hals. Es folgt betretenes oder beleidigtes Schweigen, manchmal auch ein erhitzter Wortwechsel.

Einen solchen finden wir zu Weihnachten auch beim Propheten Jesaja. Mit dem feinen Unterschied, dass hier Gott der Genervte ist:

Und der HERR redete abermals zu Ahas und sprach: Fordere dir ein Zeichen vom HERRN, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! Aber Ahas sprach: Ich will’s nicht fordern, damit ich den HERRN nicht versuche.

Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. (Jesaja 7,10-14)

Der Prophet Jesaja und Ahas, der König von Jerusalem, haben Stress: Die Sicherheitslage ist angespannt. Es droht Krieg mit den nördlichen Nachbarstaaten. Jesaja fordert Ahas auf, zu glauben, und das heißt, sich angesichts sehr realer Gefahr auf Gottes Treue zu verlassen. Ahas indes glaubt nicht, dass Gott ihn und sein Volk retten wird. Jesaja bietet dem König im Namen Gottes an, sich – quasi als vertrauensbildende Maßnahme – ein Zeichen auszusuchen, der aber lehnt – freilich nur scheinbar demütig – ab. In Wahrheit ist das ein Affront: Er will sich die Möglichkeit offen halten, die mächtigen Assyrer um Hilfe zu bitten – eine brutale Supermacht, viel schlimmer als die jetzigen Feinde.

Gott ist genervt davon, wie dieser König hier herumlaviert. Wenn sich Ahas eine andere Schutzmacht sucht als Gott, steht damit auch die besondere Beziehung Gottes mit dem Königshaus aus Davids Linie in Frage. Und damit die Zukunft des Volkes Gottes. Also kündigt der Prophet von sich aus ein Zeichen an, ungebeten: Ein Kind wird in Kürze zur Welt kommen, das seine junge Mutter „Immanuel“ nennt: „Gott mit uns“. Bevor der Kleine gut und böse unterscheiden kann, sagt Jesaja gleich anschließend, werden die Reiche der Aggressoren verwüstet sein. Leider auch der größte Teil von Ahas’ eigenem Königreich, weil Ahas – das zeichnet sich schon ab – auch diese erneute Einladung zum Vertrauen ausschlägt.

Die gute Nachricht in der schlechten Nachricht lautet: Es ist kein totaler Untergang, der jetzt droht. Aber es bleibt unklar, ob der Name „Immanuel“ ein dankbares Bekenntnis, oder ein trotziges ist, oder vielleicht auch nur ein verzweifeltes Flehen.

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Ilya Yakover

* * *

Ein Mann im Belagerungszustand. Das können wir verstehen: Auch für uns Heutige scheint die Frage eher die zu sein, welches der vielen Unheile, die derzeit drohen, uns zuerst erreicht:

  • Die Atomraketen aus Nordkorea und Donald Trumps Vergeltung?
  • Die Folgen der Kriege in der Ukraine und Syrien?
  • Die nächste große Wirtschaftskrise, gegen die sich nur wenige Superreiche versichern können?
  • Das labile Klima unseres Planeten – Stürme, Dürren, Überflutung?
  • Der massive Rechtsruck in Polen, Ungarn, Österreich und Sachsen mit seinem aggressiven Argwohn gegen alles Fremde und jeden, der aus der völkischen Reihe tanzt?

Aus Angst vor vermeintlichen Gefahren wenden sich auch heute viele an Helfer, die noch größeren Schaden anrichten. Irrsinnigerweise sind (in Ungarn, Polen oder den USA) auch viele fromme Christen darunter. Sie gewinnen kurzfristig an Sicherheit und opfern langfristig ihre Freiheit, wenn sie knallharte Machtpolitiker wählen, die Meinungs- und Pressefreiheit abschaffen oder ständig den Finger ab Abzug haben.

Kein Zweifel: Auch davon ist Gott genervt. Er hat es satt. Was wird er dagegen unternehmen?

* * *

Er unternimmt Folgendes:

Fast 800 Jahre nach Jesaja legt der Evangelist Matthäus den Satz von der Jungfrau und dem Immanuel einem Engel in den Mund, der Josef im Traum erscheint und ihn auffordert, die schwangere Maria nicht zu verlassen.

Wieder macht Gott seinem Volk in schweren Zeiten ein Angebot. Wieder durch die Geburt eines Kindes.

Nur hat Herodes das, was Ahas noch überlegte, längst hinter sich: Er ist bereits mit einer brutalen und gierigen Supermacht verbündet. Die Römer garantieren, dass seine Sippe an der Macht bleibt. Er ist König von Augustus Gnaden, so wie Assad in Syrien heute nicht ohne Putins Hilfe regieren könnte. Herodes ist paranoid, prunksüchtig, gewalttätig und heimtückisch, wie der Kindermord von Bethlehem beweist. Sogar ein paar seiner eigenen Söhnen ließ er umbringen, damit sie ihn nicht vom Thron verdrängen. Der neugeborene Immanuel – Jesus – muss mit seinen Eltern vor Herodes nach Ägypten fliehen. In jenes Land, dessen König zu Moses Zeiten kleine israelitische Jungs ermorden ließ. Aus Gründen der staatlichen Sicherheit, wie es dann immer heißt.

Gott ist genervt vom Verhalten der Mächtigen. Für Herodes ist die Geburt des Immanuel der Anfang vom Ende, ein Zeichen seines Untergangs. Die mörderische Intrige gegen das Jesuskind schlägt fehl. Er stirbt nach qualvoller Krankheit, seine Dynastie tritt ab. Statt seiner Söhne regiert jetzt ein römischer Statthalter in Jerusalem. Die Stimmung im Land ist so polarisiert, dass noch zwei Generationen später heftige Unruhen ausbrechen. Die Stadt und der Tempel werden dabei zerstört. Nur ein Rest überlebt und zerstreut sich über die ganze Welt – Jesaja reloaded.

* * *

Jesus, der neue Immanuel, wächst inmitten dieser Ereignisse auf. Die Evangelisten sehen in ihm das Gegenbild zu einer Politik der Angst, der Korruption und Ausbeutung, des Vertrauens auf Rüstungstechnik, Waffengewalt und Geheimpolizei. Er wird gut und böse provokant anders unterscheiden als die meisten seiner Zeitgenossen. Er wird zur Gewaltlosigkeit aufrufen, zum friedlichen Aufstand gegen Macht und Mammon, zum radikalen Vertrauen auf Gottes Fürsorge, sein Mit-Sein mitten in den Turbulenzen des Lebens. Wie Jesaja ruft er Menschen auf, in einer alternativen Welt zu leben, die von Gott und seiner Treue bestimmt wird, und sich keine Angst einjagen zu lassen.

Der Immanuel zeigt: Gott hat sich durch die Hintertüre in die Welt geschlichen. Er ist mit den Armen, mit den Friedfertigen, mit den Leidenden, er ist einer von ihnen und teilt ihr Leben. Er erleidet wie sie den Hass, der ihm von den Unterdrückern entgegenschlägt, und ebenso die Wut des Mobs, der Sündenböcke sucht und Blut sehen will.

Mob und Macht versuchen diese Störung aus der Welt zu schaffen, aber am dritten Tag ist sie wieder da und breitet sich aus wie ein Gerücht, von Mund zu Mund und Herz zu Herz. Ein Gerücht von der Treue Gottes denen gegenüber, die ihm vertrauen. Selbst im Angesicht von Krisen, Krieg, Katastrophen und Tod.

* * *

Gott ist genervt von allem, was Menschen zerstört, ihre Würde mit Füßen tritt, Zusammenhalt und Vertrauen zersetzt, Gewinn über Gemeinwohl stellt. Er hat sich endgültig auf die Seite all derer geschlagen, die unter Unrecht leiden und nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Nun fordert er uns heraus, uns zu ihm zu stellen. Und unsererseits darauf zu vertrauen, dass Gottes Macht größer ist als all die Drohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen.

Weihnachten – das ist aus der Jesaja-Perspektive die Frage, welcher Schutzmacht wir uns anvertrauen, einzeln und gemeinsam. Und was dabei aus uns wird. Vielleicht haben sogar einige der Dinge, die uns an Weihnachten genervt haben, mit solchen Schutzmächten und unserer Abhängigkeit von ihnen zu tun:

  • Dem wehrhaften Nationalstaat mit Polizei, Armee (und, wenn nötig, Bürgerwehren)? Der stellt Ordnung über Leben, Überwachung über Vertrauen und Gleichschritt über Freiheit.
  • Der Supermacht des freien Marktes, des Geldes und des cleveren Kalküls? Sie bringt wenige Gewinner und viele Verlierer hervor. Sie stürzt mich in die Tretmühle der Selbstoptimierung – und wenn alles ausgereizt ist, werde ich ausgemustert.
  • Starken und aggressiven Anführern, die laut, rücksichtslos und breitbeinig daherkommen und von sich behaupten, für „das Volk“ zu sprechen? Sie leben von Opfer-Typen und Opportunisten, beuten Angst, Neid und Hass aus. Sie spalten und säen Misstrauen. Andere machen sie innerlich kleiner, um selbst größer zu wirken.
  • Der Hoffnung auf Ruhm, Bewunderung und Anerkennung auf den analogen und digitalen Bühnen dieser Welt? Statt ich selber zu sein (und zu entdecken, was das eigentlich bedeuten würde), werde ich immer überlegen, was gerade gefragt ist und gut ankommt. Was Beifall (die „Likes“) oder Aufsehen erregt (die beliebten „Tabubrüche“). Was eben gerade als Projektionsfläche vorhandener Stimmungen taugt.

Ständig werden wir bewertet und beurteilt. Das strengt an und macht müde. Kein Wunder, dass wir genervt sind. Weihnachten ist eine Gelegenheit, dem auf die Spur zu kommen, was uns das Leben wirklich verleidet.

Und dann die Alternative zu betrachten: Ich vertraue dem Einen, der als Kind kam und es nicht als Zumutung empfand, klein zu sein. Der auch als Erwachsener Vertrauen schenkte und sich verletzlich machte. Der nicht das eigene Überleben und Wohlergehen im Sinn hatte. Der Menschen nicht taxierte und sich überlegte, welchen Nutzen sie für ihn wohl haben. Der Leute zusammenbringt, die sich von selbst nie zusammenfinden würden. Dem Immanuel.

Es ist riskant, Gott zu vertrauen. Es ist schwer, sich von ihm allein beschenken und beschützen zu lassen. Aber es ist auch der Weg zu einem erfüllten Leben – und zum Frieden mit mir selbst, meinen Mitmenschen und Gott.

Sein Segen und Wohlgefallen sei mit uns allen.

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Er spricht wieder

Zum Ende des Kirchenjahres kommen düstere Themen und Gestalten zur Sprache – Dämonen zum Beispiel. Liegt’s am trüben Novemberwetter, braucht es diesen Griff in die Gruselkiste? Ganz sicher brauchen können wir die Haltung, die aus den biblischen Texten dazu spricht: Alles andere als resignativ ist sie, kämpferisch und voller Hoffnung. Wie zum Beispiel in diesem Abschnitt aus dem Lukasevangelium:

Und er trieb einen Dämon aus, der war stumm. Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Stumme, und die Menge verwunderte sich. Einige aber unter ihnen sprachen: Er treibt die Dämonen aus durch Beelzebul, den Obersten der Dämonen. Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel.

Er aber kannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt über das andre. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die Dämonen aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Wenn ein gewappneter Starker seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute. Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.

An der Fassade vieler älterer Kirchen gibt es Wasserspeier. Dämonen wurden da aus dem Stein gemeißelt als skurrile Fabelwesen, aus deren Rachen einst das Regenwasser spritzte. Wer unachtsam darunter stand, konnte empfindlich nass werden. Die Steinmetze hatten ganz offensichtlich ihren Spaß an den finsteren Gestalten. Drinnen in der Kirche, auf den Altären und den Fenstern, sind Heilige und Szenen aus der Bibel abgebildet. Draußen aber haben die bösen Geister ihren Platz – als Erinnerung daran, dass in dieser Welt nicht nur gute Kräfte am Werk sind. Und vielleicht auch daran, dass wir nicht immer alles verstehen und exakt einordnen können, was um uns herum passiert.

Diese Faszination für skurrile Fratzen und Fabelwesen begegnet uns heute eher in der Fantasyliteratur – von Harry Potter bis zum Herrn der Ringe und von der Twilight-Saga bis Game of Thrones. Dort haben Geister und Dämonen an den Rändern unseres aufgeklärten Denkens – auch irgendwie „draußen“ – ganz genüsslich überlebt. Aber die konkrete Erfahrung, dass es zerstörerische Kräfte draußen in der Welt gibt, oder Orte mit einer bedrückenden Atmosphäre, die teilen wir mit Jesus und seinen Zeitgenossen. Wir reden ja auch ab und zu vom „Ungeist“ des erstarkenden Rechtsextremismus oder der Rechthaberei in der Kirche, und von den „Dämonen der Vergangenheit“, wenn Rassisten ihre Fackelzüge abhalten und ihre Macht wieder öffentlich zur Schau stellen.

* * *

Wenn in der Bibel von Dämonen die Rede ist, dann geht es dabei um Erfahrungen von Ohnmacht. Wir sehen das hier ganz konkret: Ein Mensch, der keinen Ton mehr herausbringt, ist in vieler Hinsicht hilflos. An den Gesprächen seiner Umgebung nimmt er nicht mehr teil. Aber auch seine Familie und Freunde sind hilflos. Sie müssen erraten, was er braucht und wie es ihm geht, sie bleiben im Ungewissen darüber, was er von ihnen hält und was ihn quält. Beziehungen, in denen nicht mehr geredet wird (oder in denen nur noch einer redet), sind voller Leid. Wer sich als ohnmächtig erlebt, der hat – so sagen wir – nichts zu melden.

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Cristian Newman

Nicht alle, die glauben, nichts zu melden zu haben, verstummen freilich darüber. Manche werden tatsächlich wütend. Leider auf die falschen Leute. Die Zeit schrieb dazu jüngst:

„In letzter Zeit scheint es doch so, dass immer mehr Menschen wütend sind, auf die Politik, auf die Eliten. Sie sind es aber weniger, weil das oberste Prozent ihnen seit Jahrzehnten gigantische Summen wegnimmt, sondern eher aus Angst, dass ihnen die  – zuwandernden – untersten Prozente in Zukunft etwas wegnehmen könnten. Dabei haben die sprichwörtlichen 99 Prozent hier einen gemeinsamen Gegner.“

Einstweilen also bekämpfen Schwache die noch Schwächeren: Geringverdiener lassen sich gegen Hartz-IV-Empfänger aufhetzen, Osteuropäer und Russlanddeutsche gegen Muslime und so weiter. Auch das ist eine Form von Aberglauben: Schlag den Schwächeren, dann geht’s dir bestimmt besser. Ein Aberglaube, die Ohnmacht eher steigert als überwindet. Das Geld der Reichen und Mächtigen liegt derweil unangetastet irgendwo zwischen Panama und Paradise.

* * *

Zurück zu unserer Geschichte: Besatzung und Besessenheit, Übermacht und Ohnmacht hängen offenbar zusammen. Es ist wohl kein Zufall, dass in weiten Teilen des Alten Testaments von Dämonen nicht die Rede ist; damals war Israel zwar gefährdet, aber relativ frei. Jesus dagegen hat im von den Römern – einer brutalen Militärdiktatur – besetzten Palästina häufig solche verstörenden Begegnungen mit Besessenen. Allerdings wird das alles nicht genüsslich ausgemalt und breitgetreten. Nüchterner, ja einsilbiger lässt sich der Vorfall kaum beschreiben, als Lukas das hier tut: Der Besessene ist stumm. Jesus treibt den Geist aus. Der Mann redet wieder. Die Leute staunen. Fertig. Null Gruseleffekte. Keine sensationelle Action.

Manche von Ihnen würden vielleicht zustimmen, wenn ich sage: Dass Männer den Mund nicht aufbekommen, ist ja innerhalb gewisser Grenzen nichts Ungewöhnliches. Hier freilich stellt sich die Frage: Wann hat dieser Mann aufgehört, sich mitzuteilen? Fand er nichts Bedeutsames mehr zu sagen, verzweifelte er am Sinn des Redens, fehlten ihm die Worte für den Schmerz oder die Leere? Und was waren die ersten Worte, die dann sprach: Hat er sich bei Jesus bedankt? Hat er nach seiner Frau und seinen Kindern gefragt? Hat er endlich verraten, was ihm die Sprache verschlagen hatte?

Wir erfahren all das auch deshalb nicht, weil die Geschichte schon weitergegangen ist: Es entbrennt nämlich ein Streit darüber, wie das alles zu deuten ist – wie die Dämonen wirken, und vor allem durch wen.

* * *

Jesu Kritiker, die nicht näher charakterisiert werden, bedienen sich einer waschechten Verschwörungstheorie. Kurz zusammengefasst lautet sie: Alles nur Theaterdonner, alles nur üble Maskerade. Jesus bringt nur scheinbar Befreiung von den bösen Geistern, in Wirklichkeit ist er der gerissenste Agent des Bösen. Die Nebenwirkungen seiner Therapie sind schlimmer als die Krankheit, die er damit zu kurieren scheint: Er führt Menschen noch weiter weg von Gott und einem gelingenden Leben. Er nimmt ihnen auch noch das letzte bisschen Kraft und Würde.

Einen Gegner zu dämonisieren, ihn als das absolut Böse oder dessen williges Werkzeug hinzustellen, war damals ein beliebtes Mittel der Auseinandersetzung, das war es im Mittelalter und während der Reformation, und das ist es heute noch. Mehr Misstrauen geht nicht. Diese Woche haben wir uns an die Reichspogromnacht erinnert. Sie hat gezeigt, wohin so etwas führt. Auch wir Menschen des 21. Jahrhunderts kennen solche Verschwörungstheorien. Sie erklären angeblich alles und ändern nichts. Im Bus, beim Friseur, in der Kantine sind sie zu hören. Sie ergießen sich über das Internet in die Köpfe und Gespräche wie der Schwall kalten Novemberregens aus einem Wasserspeier:

  • Die Anschläge vom 11. September wurden von der CIA oder vom Mossad inszeniert.
  • Die Bundesregierung holt Flüchtlinge ins Land, weil sie das „Staatsvolk“ austauschen will.
  • Die Kirchenleitung will Bibel und Bekenntnis abschaffen.
  • Die Kondensstreifen am Himmel bestehen nicht aus harmlosen Eiskristallen, sondern giftigen Chemikalien.
  • Und wenn jemand diesen wirren Spekulationen widerspricht, beweist das bloß, dass die Presse lügt und wie mächtig und allgegenwärtig die Feinde längst schon sind.

Sascha Lobo bezeichnete diese Geisteshaltung vor einiger Zeit als „Pseudoskepsis“. Diese “zweifelt an allem außer an sich selbst.“ Das trifft auch auf Jesu Kritiker zu: Sie zweifeln an allem außer an sich selbst. Wenn jemand anders als sie Macht über Dämonen hat, kann diese nur aus einer dunklen Quelle kommen. Ihre Welt der Dämonen ist genauso militärisch organisiert wie das römische Weltreich. Sie folgt derselben Einteilung der Welt in oben und unten, Freund und Feind, nach der auch das heidnische Imperium funktioniert.

* * *

Jesus dreht den Spieß nicht um, er dämonisiert seine Gegner nicht. Sondern er zeigt ihnen, dass ihre Behauptungen erstens widersprüchlich sind, und dass sie zweitens darüber den Blick für Gottes Wirken verloren haben. Denn jemand, der keine Stimme hat, vor aller Welt wieder spricht, dann ist das kein böser Trick, sondern erkennbar Gottes Werk. Es hat eine geistliche Dimension: Der stumme Mann war ein Ebenbild jener „stummen Götzen“, die Griechen und Römer anbeten. Jetzt spricht er. So ist er Ebenbild des Gottes Israels, der zu uns Menschen spricht und sich mitteilt: Vom Beginn der Welt an bis jetzt, wo er sich in Jesus aufmacht, die Welt neu zu machen.

In den alten und neuen Verschwörungstheorien begegnet uns die ungesunde Faszination des Bösen. Es erscheint übermächtig und allgegenwärtig. Jesu Gegner sind ihr erlegen. Sie finden nichts zu sagen über Gott. Sie erkennen Gottes Wirken selbst dann nicht mehr, wenn es vor ihrer Nase geschieht. Sie sehen nicht, dass das gewünschte „Zeichen vom Himmel“ längst da ist. In dieser Hinsicht sind sie genauso blockiert wie der Stumme.

Jesus setzt dagegen die Faszination des Reiches Gottes. Es überwältigt nicht den Menschen, sondern die Ohnmacht. Es kommt von unten und aus dem Nichts, durch einen Wanderprediger aus der galiläischen Provinz. Es kommt klein und punktuell, immer umkämpft, aber es kommt unaufhaltsam. Das Bollwerk der Macht bekommt Risse – einen nach dem anderen.

* * *

Jesus schließt mit dem Angebot, sich von dieser unguten Fixierung auf das Böse und die Ohnmacht befreien zu lassen, Ohnmacht und Passivität zu überwinden und sich ihm anzuschließen. Wie wäre es also, wenn wir in der neuen Woche nicht nach Missständen und Problemen suchen – die gibt es zuhauf –, sondern nach Zeichen für Gottes Wirken? Vielleicht können wir dabei sogar zu seinen Komplizen werden, selbst Zeichen setzen?

Menschen, die keine Stimme haben, gibt es genug: Arme ziehen sich verschämt aus dem öffentlichen Leben zurück, Fremde werden bestenfalls geduldet und können sich kaum wehren gegen Behördenwillkür, politische Häftlinge werden von auoritären Regimes mundtot gemacht, psychisch Kranke reden nicht über ihr Leiden, weil sie nicht in den Verdacht geraten wollen, verrückt und gefährlich zu sein.

Wenn wir in solchen Momenten nicht stumm bleiben, sondern ein Wort für andere einlegen und mit ihnen sprechen, dann kann das viel bewirken. Darin steckt nicht nur ein Vorgeschmack auf Gottes Reich, dann ist es schon angebrochen.

Und wenn mal wieder jemand Verschwörungstheorien zum Besten gibt, erzählt von solchen Erfahrungen. Erfahrungen, die zeigen, dass Gott nicht fern ist und das Böse nicht übermächtig.

Selbst wenn (was unwahrscheinlich ist!) niemand anders Euch hören will – Gott hört zu. Macht mutig den Mund auf. Dafür hat er Euch eine Stimme gegeben.

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Jenseits der Machthaber und Rechthaber

In einer wenig bekannten und reichlich dramatischen Geschichte im 2. Buch der Könige wird Samaria belagert. Drinnen stehen sich der Machthaber, der König von Israel, und der Rechthaber vom Dienst, der Prophet Elischa, gegenüber: Zwei Typen, die man auch (oder gerade?) in den Kirchen häufiger antrifft.

Die wahren Helden des spannenden Dramas sind allerdings ganz andere Leute. Wer die sind und was sich eventuell von ihnen lernen ließe, das könnt Ihr hier anhören:

Ein König kriegt die Krise

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Schöpfung – in eigenen, einfachen Worten

Am ersten Oktober ist Erntedank. Ich habe für den Familiengottesdienst eine kleine, freie Nacherzählung zur ersten Schöpfungsgeschichte geschrieben, in der es um die Themen Vielfalt und Schönheit geht. Statt im Imperfekt steht alles im Präsens und Perfekt. Ich fand – finde! – das ganz angemessen. Vielleicht inspiriert sie auch einige von euch…

Am Anfang hat Gott den Himmel und die Erde gemacht. Dazu hat er erst einmal Licht gebraucht. Deswegen gibt es bei uns Tag und Nacht: Mal ist es hell, und mal dunkel. Gott hat der Erde dazu einen kleinen Schubs gegeben. Nun dreht sie sich wie ein großer Kreisel.

Auf der Erde hat Gott dem Meer seinen Platz gegeben und dem Land. Auf dem Land lässt er Kräuter, Blumen und Bäume wachsen. Ganz viele verschiedene: Brennnesseln und Basilikum, Zitronengras und Zuckerrohr, Kartoffeln und Kapuzinerkresse, Mohnblumen und Meerrettich, Weizen und Walnüsse, Hagebutten und Himbeeren, Bananen und Birnen.

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Luke Michael

Damit nicht alle Tage gleich sind, hat Gott die Jahreszeiten geschaffen. Die Tage werden zum Sommer hin länger, zum Winter kürzer. Und den Mond, der ab- und zunimmt, und wieder ab, und wieder zu. Sterne, die man nur im Winter sieht, und manche, die sich erst im Sommer zeigen. Und dann hat er, quer über den Himmel, die Milchstraße gebaut.

Weil die Pflanzen alle still stehen, hat Gott Tiere gemacht. Manche schwimmen im Wasser, andere fliegen am Himmel und nochmal andere krabbeln und laufen über das Land. Viele Arten von Tieren. Tiere in allen möglichen Farben. Ganz winzige Tiere und riesig große Tiere. Mehr Tiere, als der Tiergarten hat. Mehr Tiere, als deine Tierbücher fassen. Sie dürfen von den Pflanzen fressen, sie düngen, dürfen Blüten bestäuben, und Samen für neue Pflanzen vergraben und ausstreuen dürfen sie auch. So helfen sie Gott.

Die Früchte sind die Nahrung für die Menschen: Obst und Gemüse, je nach Jahreszeit mehr vom einen oder mehr vom anderen. Die Menschen hat Gott geschaffen, damit er ein Gegenüber hat: Jemand, der sich mit ihm freut darüber, wie bunt diese Welt ist. Jemand, der gerne Neues entdeckt und die Abwechslung liebt. Jemand, der es genießen kann, wenn die Sonne den Abendhimmel orange färbt und der aus Orangen Saft macht, oder Marmelade, oder Obstsalat. Jemand, der findet, sauer macht lustig. Und jemand, der sich kümmert um all die Tiere, die Pflanzen, die Luft und das Wasser.

Jemand wie dich.

Denn dich hat Gott auch gemacht. Du bist etwas ganz Besonderes. Schau dich mal an. Dich gibts nur ein einziges Mal.

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Zum Beten in den Keller: Gott im Berg 2017

Die Müdigkeit steckt mir noch ein bisschen in den Knochen, aber die Dankbarkeit und Freude überwiegt. Zum zehnten Mal sind wir in diesem Jahr zum Beten in den Keller gegangen am Karfreitag. Und gut 1.700 Leute aus Erlangen und Umgebung sind mitgekommen. Das ist das erste, was ich jedes Jahr wieder so erstaunlich finde. Dass die Zeitung anders als in den Jahren zuvor nur einen knappen Hinweis brachte, hat sich kaum ausgewirkt auf den steten Besucherstrom Richtung Kellergelände.

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Das zweite, was mich erstaunt hat, war die außergewöhnliche Ruhe in diesem Jahr. Bis auf wenige Ausnahmen ging es im und vor dem Berg für mein Gefühle spürbar ruhiger zu als ich es aus den letzten Durchgängen in Erinnerung habe. Womöglich ist das auch ein positiver Lerneffekt, der damit zu tun hat, dass viele zum wiederholten Mal da waren.

Drittens staune ich, was aus den Gesprächen und Ideen im Team nach Wochen von Planung und Vorbereitung, gelegentlich zähen (aber nie überflüssigen) Diskussionen, nach manchen praktischen Tüfteleien und ein paar pragmatischen Entscheidungen dann alles im Henninger-Keller steht, wenn am Donnerstag kurz vor 18 Uhr die ersten Leute den Berg betreten.

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Viertens staune ich über die Wirkung, die sich in der Kombination aus Ort, Atmosphäre und Installationen entfaltet. Manche bleiben lange stehen, um etwas auf sich wirken zu lassen. Viele Besucher*innen kommen sichtbar bewegt zurück ans Tageslicht, einige brauchen eine ganze Weile, bis sie wieder Worte finden.

Fünftens staune ich, wie intuitiv und leicht es inzwischen fällt, die Passion in Bezug zur heutigen Welt- und Lebenserfahrung zu setzen, ohne dabei auf in vielerlei Hinsicht problematische Deutungsmuster wie Sühne, Strafleiden und Opfer zurückzugreifen. Stattdessen geht es um die Mitmenschlichkeit Gottes, es geht um die Bereitschaft, sich vom Leid anderer betreffen zu lassen, um die Hoffnung, dass Gott auch in den schlimmsten und dunkelsten Stunden nahe ist und versteht.

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Ich glaube, erst vor diesem Hintergrund wird die Botschaft von der Auferstehung wirklich nachvollziehbar, dass man nämlich dem konkreten Leiden Jesu in der Passionsgeschichte die konkreten Leiden heutiger Menschen gegenüberstellt und dabei den sozialen und politischen Horizont nicht ausblendet.

Ohne diesen Bezug laufen wir Gefahr, Ostern misszuverstehen als etwas Geschichtsloses und Weltfremdes – und damit auch Leid und Tod nicht ernst zu nehmen, auszuhalten und uns davon verwandeln zu lassen, sondern das alles zu verharmlosen, zu ignorieren und mit triumphalistischen Phrasen und Appellen zu überlagern. Das wäre weder christlich noch gesund für die Seele.

Licht und Wärme fühlen sich eben ganz anders an, wenn man gerade aus dem Keller kommt.

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Heiligkeit, die sich die Hände schmutzig macht

Kennt wahrscheinlich jeder schon: Das Kreuz lässt sich so deuten, dass der vertikale Balken die Gottes- und der horizontale die Nächstenliebe symbolisiert. Dann steht es entweder für das Doppelgebot der Liebe oder (freilich kein Gegensatz) für die Liebe Gottes zu den Menschen und die Liebe der Menschen untereinander.

So weit, so schön und so passend.

Die beiden Kreuzbalken entsprechen so gesehen auch den beiden Tafeln der Zehn Gebote. Die erste Tafel hat mit dem Verhältnis zu Gott zu tun und schützt seine Integrität vor menschlichen Zugriffen: Die Einzigartigkeit, das Bilderverbot, der Name und der Sabbat (die letzten beiden stehen für alle übrigen Kultgesetze). Die zweite Tafel hat mit den Mitmenschen zu tun: Eltern, Unversehrtheit, Partner, Besitz und Wahrhaftigkeit.

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Wenn man nun fragt, was Jesus ans Kreuz gebracht hat, dann stößt man auf ein ganzes Bündel von Konflikten, die sein Wirken nach sich zog. Und interessanterweise lassen diese sich relativ stringent auf die zwei Tafeln verteilen. Jesus verletzt – in den Augen seiner Gegner (ob das nun Pharisäer oder Saddzuzäer waren) – die Gebote der ersten Tafel. Er missachtet die Sabbatruhe, er relativiert gängige Vorstellungen von Reinheit, er kündigt das Ende des Tempels und des Opferbetriebes dort an. Und selbst aus römischer Sicht zeigt er sich auch dem Gottkaiser und dessen irdischen Repräsentanten gegenüber ziemlich respektlos.

Umgekehrt wirft Jesus den Gegnern vor, in ihrer Praxis gegen den Sinn der Gebote der zweiten Tafel zu verstoßen: Statt die Alten zu versorgen, spenden manche das Geld an den Tempel. Männer verstoßen ihre Frauen und die sind dagegen weitgehend wehrlos. Zur Schau gestellte Frömmigkeit soll einen sozialen Vorteil verschaffen, und wer weniger intensiv glaubt, wird verächtlich gemacht und mit Schimpfwörtern belegt. Vergebung für Betrug oder Gewalttaten gibt es auch ohne Opfer und rituelle Reinigung. Das sind nur die Fälle, die mir sofort eingefallen sind.Kreuz:Tafeln

Insofern steht das Kreuz in eben dieser Deutung auch dafür, warum Jesus den Kreuzestod starb und das aller Wahrscheinlichkeit nach auch kommen sah und in Kauf nahm. Er stellte viele gängige Deutungen und Umsetzungen der Gebote in Frage. Und er verschob die Aufmerksamkeit weg vom Kult und all dem Kleingedruckten der „rechten“ Gottesliebe hin zu einem barmherzigen, offenen und versöhnlichen Umgang mit dem Nächsten, der ethnische und religiöse Grenzen überschreitet.

Interessanterweise gibt es das ja immer noch, auch unter Jesusnachfolgern: Diesen Streit, ob zuviel Nächstenliebe (und damit auch soziales und politisches Engagement) der Reinheit unserer Gottesliebe abträglich ist, oder ob das gar kein Gegensatz ist und auch besser nicht als solcher behandelt werden sollte. Ich finde diese rotznasige, empathische Heiligkeit mit den schmutzigen Händen und den weiten Grenzen jedenfalls viel attraktiver als die sterile, strenge und skrupelhafte Variante.

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Plötzlich nackt?

Ich war letzte Woche bei der Erzählung von der Versuchung im Garten Eden. Eine Folge der Episode mit der verbotenen Frucht ist, dass die Menschen merken, dass sie nackt sind. Sehen sie also endlich das Offensichtliche? Oder ist das gar keine Frage der Optik, sondern des Bewusstseins und der Kategorien des Verstehens?

Die Menschen haben sich entschlossen, etwas (die Frucht vom Baum der Erkenntnis) anders zu sehen als Gott. Mit Erfolg, sie fallen nämlich nicht tot um. Man kann die Dinge also anders sehen! Aber just an diesem Punkt der Erkenntnis tritt eine entscheidende Veränderung ein: Sie sehen einander an und stellen fest, dass man die Dinge nicht nur anders sehen kann als Gott, sondern auch anders als man selbst. Und dass sie selbst zu diesen „Dingen“ gehören, die man anders sehen kann.

Ich sehe also dich an und sehe, dass du mich ansiehst. Aber ich weiß jetzt, dass du mich nicht unbedingt so siehst, wie ich mich selbst sehe. Und erst recht nicht so, wie ich gesehen werden möchte (auch das sind nun zwei verschiedene Dinge!). Das Bild von mir, das in deinem Kopf existiert, kann ich nicht kontrollieren und ändern. Aber es bestimmt, wie du mit mir umgehst: Wirst du das, was du an und in mir siehst, dazu verwenden, mir wohlwollend und liebevoll zu begegnen, oder wirst du mich verachten und mich bloßstellen? Ich kann mir nicht sicher sein. Ich merke ja, wie berechnend ich gerade denke. Ich bin deiner Willkür ebenso ausgeliefert wie du meiner. Anders ausgedrückt: Ich habe die Deutungshoheit über mich selbst verloren.

Weil ich dieses Bild nicht direkt bestimmen kann, das du von mir hast, zeige ich dir von nun an nur bestimmte Ansichten von mir. Nämlich die Seiten, die mich in ein möglichst günstiges Licht rücken: Puzzleteile, von denen ich erwarte und hoffe, dass du sie zu meinem Wunschbild zusammensetzt. Alles andere verhülle ich mit Feigenblättern und mache es unsichtbar.

Unsere Beziehung ist durch dieses Image-Management schon kompliziert geworden. Aber der Knoten wird noch dicker. Denn es reicht nicht, meine (echten oder auch nur vermeintlichen) Schattenseiten zu verbergen. Ich muss auch verbergen, dass ich etwas verberge. Sonst wirst du irgendwann misstrauisch fragen, was es hier nicht zu sehen gibt. Dann wirst du entweder nachbohren oder alles, was ich an Gutem preisgebe von mir, nur noch verdächtig finden.

Daher verstecken sich die Menschen sogar vor Gott: Sie müssen verbergen, dass sie etwas verbergen. Es wird richtig, richtig kompliziert.

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Foto: unsplash.com

Doch auch so lässt sich die verlorene Naivität – „die Welt ist so, wie ich sie sehe, und das siehst du genauso“ – nicht mehr retten. Die Menschen müssen das, was sie verbergen, ja sogar vor sich selbst verstecken, um im Folgenden so tun zu können, als sei die eigene Sicht der Welt die einzig wirkliche und mögliche. Kein sehr überzeugendes Manöver, aber ein verbreitetes. Es ist ein Kennzeichen von Diktatoren, dass sie nur die Aussagen über sich gelten lassen, die ihrem Wunschbild entsprechen. Und es ist die Grunddynamik aller Filterblasen und Echokammern.

Nein, die Geschichte vom Garten handelt nicht von einer fernen Vergangenheit…

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Verführung braucht keine Lügen

Immer wieder einmal habe ich gelesen, die Schlange habe die Frau im Garten Eden belogen. Aber das musste sie gar nicht. In der Übersetzung von Buber/Rosenzweig lautet ihr Kommentar nicht „ihr dürft von keinem der Bäume essen“, sondern einfach nur: „Ob schon Gott sprach: Esst nicht von allen Bäumen des Gartens …!“

Viel mehr war gar nicht nötig (der Versucher im Neuen Testament lügt ja auch nicht…), und exakt darin trifft sich diese Episode mit dem, was wir heute täglich erleben: Stimmen, die uns unablässig beeinflussen. Die auf vermeintliche und tatsächliche Wahrheiten verweisen, aber in einer ganz bestimmten Zuspitzung. Nämlich so, dass sie die Ausnahmen von der Regel unter der Hand zum Regelfall werden lassen, indem sie eine bestimmte Fixierung auslösen.

Um mit einem unverfänglichen Beispiel einzusteigen: Bewohner meiner Heimatstadt lassen sich relativ leicht davon überzeugen, dass Kraftfahrer aus benachbarten Städten und Landkreisen mit der Straßenverkehrsordnung auf Kriegsfuß stehen. Wenn ich also sage, dass nicht alle Forchheimer oder Fürther anständig Auto fahren können, dann fällt jedem ein Erlebnis ein, das diese Aussage stützt (auswärtige Nummernschilder sind nämlich auffälliger als heimische). Und so ist es nicht weit von „nicht alle Forchheimer können Auto fahren“ zu „die Forchheimer können alle nicht Auto fahren“. Indem ich eine Verbindung zwischen einem bestimmten Verstoß und einer Gruppe Fremder herstelle (und das gegebenenfalls öfter wiederhole), charakterisiert er irgendwann die ganze Gruppe, obwohl anfänglich jeder wusste, dass das Quatsch ist. Das „nicht“ vom Satzfang wandert immer weiter nach hinten.

Und nun hören wir täglich Sätze wie

  • Nicht alle Zuwanderer kommen in friedlicher Absicht
  • Nicht alle Politiker sind immun gegen Bestechung
  • Nicht alle Muslime halten die Demokratie für eine gute Staatsform
  • Nicht alle ALG-II Empfänger suchen ernsthaft nach einem Job
  • [für den „frommen“ Leser, der es nicht politisch möchte: Nicht alle Pfarrer/Landeskirchler/Katholiken sind „gläubig“]

Die, die so etwas sagen, verweisen vordergründig erst einmal nur auf offensichtliche, wenn auch seltene Möglichkeiten – Dinge, die sich nie ganz ausschließen lassen. Sie sagen ihre Banalitäten aber so oft und so lange, bis sich unsere Wahrnehmung immer weiter verengt. Bis 99,9% der Geflüchteten so friedlich sein können, wie sie wollen, und dennoch unter Generalverdacht stehen. Und wer sich für sie einsetzt, wer das schiefe Bild zurechtrückt, wird der Schönfärberei, der Manipulation und fanatiserter “politischer Korrektheit“ beschuldigt. Denn (um die perfide Strategie noch einen Schritt weiter zu treiben) „nicht alle, die sich für Geflüchtete einsetzen, sind selbstlos, tolerant und arbeiten mit lauteren Mitteln“.

Für solche Vergiftungen menschlichen Zusammenlebens und gesellschaftlicher Kommunikation kann uns die alte Geschichte aus dem Buch Genesis die Augen öffnen. Allein deswegen sollten wir sie immer wieder lesen und besprechen. Denn hier und heute müssen wir Gutes und Böses mit Gottes Hilfe unterscheiden. Andernfalls wird jedes Paradies zur Hölle.

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Der Tag des sprechenden Feuers

Alle Schafe in meiner Herde erinnern sich noch an den Tag des sprechenden Feuers. Seither ist nämlich nichts mehr so, wie es war. Das kommt davon, wenn man zu weit geht.

Keines von uns kann sich an die Zeit erinnern, als Mose noch nicht da war. Aber uns allen fiel auf, dass er nicht wie die anderen Hirten war. Die älteren unter uns wussten noch von ihren Eltern und Großeltern, dass er irgendwann vor einem halben Menschenleben und von irgendwoher bei Jethros Sippe auftauchte. Er blieb, und weil er keinen anderen Beruf erlernt hatte, bekam er eine Herde Schafe zugeteilt.

Wir kannten Mose nur als jemand, der in sich zu ruhen schien. Er wirkte versöhnt mit sich und seinem Leben, wenn er abends am Feuer saß und zu den Sternen hinaufschaute. Aber das war nicht immer so: Anfangs soll er rastlos und gehetzt gewirkt haben. Immer wieder suchten seine Augen den südlichen Horizont über der Steppe ab und wenn sie etwas entdeckten, dann wurde der Griff um seinen Stock so fest, dass die Fingerknöchel weiß waren. Dabei wollte außer uns und seiner Frau eigentlich nie jemand etwas von ihm. Angst und Fluchtreflex wichen irgendwann einer Leere und tiefen Resignation. Dann mussten wir Schafe ihn fast dazu antreiben, neues Weideland zu finden oder uns zum Wasserloch zu lotsen. Sein Gang war ungelenk und schwerfällig. Er schien durch uns hindurchzusehen, als wären wir Rauch- oder Nebelschwaden. Innerlich war er meilenweit weg. Aber er fand den Weg zurück. Zurück in das Hier und Jetzt, in die staubige, sonnenverbrannte und schweißgetränkte Wirklichkeit. Irgendwann lachte er wieder. Und manchmal summte er sogar ein Lied.

Den ängstlichen und den abwesenden Mose hätten wir durchaus ziehen lassen. Aber der Abschied vom angekommenen Mose traf uns alle ziemlich hart.

Ich muss sagen, ich hatte schon ein schlechtes Gefühl, als wir an jenem Tag den Rand der Steppe überschritten und uns in die Wüste hinein bewegten. Es hatte doch seinen guten Grund, dass Mose uns bisher nie dorthin geführt hatte. Was außer Sand und Felsen, Leere und Gefahr erwartet einen dort? Das Irritiendste daran war, dass wir alle das Gefühl hatten, Mose wisse nicht so recht, was er dort wolle. Aber das wäre doch das Mindeste, was man als Schaf von seinem Führer/Hirten erwarten kann! Zögerlich trotteten wir also hinter ihm her. Aber er schien unseren Bummelstreik gar nicht zu bemerken, und irgendwann gaben wir ihn dann auch auf. Etwas Unbekanntes zog diesen Menschen an.

Ebenso unvermittelt, wie er losmarschiert war, blieb er auf einmal stehen und kniff die Augen zusammen. „Versucht er, sich an den Rückweg zu erinnern?“, fragte ich mich besorgt und ärgerte mich nicht zum ersten Mal, dass ich seine Sprache nicht sprechen konnte und er die unsere so schlecht verstand.

Irgendwann fiel uns auf, dass er einen brennenden Busch anstarrte.

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Feuer finden wir Schafe nicht attraktiv. Wir brauchen es nicht wie die Menschen, um uns daran zu wärmen oder damit Essen zuzubereiten. Wir können es weder anzünden noch löschen. Aber wir wissen genau, wie schnell es sich in trockenem Gras und Gebüsch ausbreitet und wie gefährlich das werden kann. Abstand wahren heißt daher die Devise, die wir schon im Lämmergarten lernen. Doch das war kein gewöhnliches Feuer. Es flackerte, aber kein Rauch schien aufzusteigen, kein Zweig knisterte und fiel glühend zu Boden. Hitze hätte man in der flirrenden Wüstenluft ohnehin kaum bemerkt.

Was war das?

Das Feuer rief Mose beim Namen. Es sprach nicht in der Sprache der Midianiter und auch nicht in der der Ägypter, die Mose ab und zu benutzte, wenn er einen Fluch ausstieß. Mose antwortete in derselben Sprache: „Hinneni – hier bin ich.“ Das Feuer sagte zu Mose, er solle näher kommen und die Schuhe ausziehen. Barfuß stand er auf dem nackten Fels vor dem Feuer, das im Busch war und doch nicht da war oder wenigstens nicht so, wie ein gewöhnliches Feuer da ist und brennt. Es war eine Anwesenheit, die sich nicht greifen ließ – nicht mit Händen, nicht mit Worten – die aber deswegen nicht weniger wirklich zu sein schien. Und sie war ausgesprochen packend: Die Worte gingen nicht einfach nur ins Ohr, sondern sie schienen wie die Wärme der Wüstensonne ohne erkennbaren Widerstand die Haut zu durchdringen und tief ins Innere hineinzustrahlen.

Mose war wieder verstummt.

Aus der Ferne war schwer zu verstehen, was das Feuer ihm sagte. Anscheinend ging es um Menschen, die Mose kannte und über deren kritische Lage er Bescheid wusste. Zumindest fragte er kein einziges Mal nach. Er stand einfach nur da, starrte in die Flammen und nickte ab und zu fast unmerklich mit dem Kopf. Aber je länger er so dastand, desto mehr richtete sich sein Rücken auf. Sein Körper spannte sich wie die Sehne eines unsichtbaren Bogens, und die Schultern wirkten auch schon breiter als noch vor einigen Minuten.

Das Feuer sprach inzwischen weiter von einem Land, wo Milch und Honig fließen. Ich dachte, jetzt übertreibt es aber maßlos. Wo bitteschön gibt es sowas? Aber Mose schien in dieser unwirtlichen Umgebung förmlich riechen und schmecken zu können, was ihm zu Ohren kam. Vor uns stand nicht mehr der Hirte, der seinem Schwiegervater half und dessen Leben den Bahnen das gewohnten Alltags folgte, sondern jemand, der nach einem langen und tiefen Schlaf aufgestanden war. Hellwach lauschte er der Stimme.

Nach einer Weile wurde es still und das Feuer ging aus. Doch es war nicht weg: Als Mose uns entgegenkam, auf nackten Sohlen, die Schuhe in der Hand, sah ich es in seinen Augen leuchten. Und ich erkannte etwas vom Tonfall der Feuerstimme wieder, als er uns rief, um den Heimweg anzutreten.

Mich überkam ein seltsames Gefühl, das ich bisher nicht gekannt hatte: Eine Spur von Traurigkeit, als hätte ich etwas Wertvolles verloren, gepaart mit dem Wunsch, sich wie ein Adler aufschwingen zu können, hoch hinauf in die wirbelnde Luft, um den Horizont abzusuchen und es zu finden. Es war, als würde sich in mir alles ausdehnen – Kummer, Verletzlichkeit, Verlangen, Hoffnung, Mut – als wäre meine Seele eine dieser Wüstenpflanzen, die in der Trockenheit verschrumpeln und dann beim ersten Regen ihre Blätter nach allen Seiten recken; als hätte das frische Wasser dieser Begegnung den alltäglichen Durst gestillt und einen noch tieferen geweckt.

Das war nicht mein Gefühl – Schafe empfinden so etwas eigentlich nicht, es schwappte nur über mich hinweg und ließ dann wieder nach. Aber ich habe an diesem Tag etwas Entscheidendes über die Menschen gelernt: Sprechendes Feuer kann in ihnen wohnen. Und wenn es einen erfasst hat, springt es zum nächsten. Es gibt den Alten die Frische der Jugendlichkeit und Jugendlichen die Festigkeit des Alters. Die Grenzen des Möglichen werden neu gezogen. Denn das erste, was das Feuer in ihnen verbrennt, ist Gleichgültigkeit, Abstumpfung und Resignation. Das zweite ist Angst und Sorge, der verkümmerte Geist. Menschen sind merkwürdig: Sie können sich verändern und zugleich mehr denn je sie selbst werden. Und wenn das Feuer sie packt, zieht notfalls einer allein los und nimmt es mit einem Tyrannen auf.

Wie es mit Mose weiterging? Das wisst Ihr bestimmt viel besser als ich. Wir haben ihn damals an das Feuer aus der Wüste verloren. Aber mein Gefühl sagt mir, die Welt der Menschen hat an jenem Tag einen Fackelträger der Hoffnung gewonnen. Das sprechende Feuer ist immer noch in der Welt unterwegs. Wenn es bei Euch vorbeikommt – jetzt wisst Ihr ja Bescheid.

Und denkt daran, die Schuhe auszuziehen.

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Von Schönheit und Endlichkeit

Der Apfelbaum vor meinem Fenster hat über die letzte Woche die meisten seiner Blätter verloren. Der farbenfrohe Herbst geht erkennbar seinem Ende entgegen. Es wird täglich etwas dunkler, und irgendwie konfrontiert mich das mit meiner eigenen Endlichkeit. Wer bin ich, was kann ich ausrichten, und was hat bleibenden Wert im Leben? Paulus schrieb dazu vor fast 2.000 Jahren:

Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. (Römer 14,7-9)

In der Süddeutschen Zeitung schrieb Heribert Prantl dieser Tage:

Früher wurden die Uhren angehalten, wenn einer starb Und heute? Werden die Toten oft anonym und billig beigesetzt. Und die Lebenden beschweren sich, wenn sie sich für eine Beerdigung freinehmen müssen.

Keiner stirbt sich selber – lässt sich das heute noch uneingeschränkt sagen? Und müsste man vielleicht gleich hinzufügen: Weil eben viele sich selber leben, ändert auch der Tod nichts mehr daran? Großfamilien und Dorfgemeinschaften sind selten geworden, Nachbarschaften vielfach anonym und kaum einer arbeitet noch so lange im gleichen Unternehmen, dass die Kollegen 20 Jahre nach der Pensionierung noch Kontakt haben und zur Trauerfeier erscheinen.

Viele trifft dabei gar keine Schuld, sie sind weder beziehungsgestört noch anderweitig schwierig. Eher handelt es sich um eine beständige Erosion von Beziehungen, ein Verdunsten von Zugehörigkeit, ein Ausdünnen von Zusammenhalt. Vielleicht wird ja auch deswegen der letzte Rest gefühlter Zugehörigkeit zur Nation so überhöht, zur so künstlichen wie kümmerlichen „Leitkultur“ aus Christkind mit Goldlocken (als Zugpferd für den dazugehörigen Markt), aus „O du Fröhliche“, ein bisschen Goethe und Helene Fischer.

Das ist, wie ein Freund kürzlich sagte, eine „schwache Identität“. Um so erbitterter und verzweifelter wird sie behauptet. Eine schwache Identität liegt auch dort vor, wo die Alten Jüngere um ihre Jugend beneiden und die Jungen die Alten verachten, weil sie beide – Junge wie Alte – das Alter nur als einen großen Defekt wahrnehmen.

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Im Gegensatz dazu können wir das, wovon Paulus hier schreibt, als „starke Identität“ verstehen. Das Maß aller Dinge ist nicht die Nation, die Kultur, Jugend und Fitness, oder dass alles so bleibt, wie es war. Das Maß aller Dinge ist Jesus Christus und seine Gegenwart in unserem Leben. Ein Leben, das nur ein Gestern, ein Morgen und dazwischen ein dünnes Jetzt kennt, ist trostlos, sagte Romano Guardini einmal. Der Strom der Zeit schiebt mich voran wie ein Gletscher das Geröll mitschleift. Denn wenn Jesus mir nahe kommt, verändert das auch meine Gegenwart. Angesichts seiner Nähe sehe ich mich selbst in einem größeren Zusammenhang. Der Horizont wird weiter, das Leben gewinnt an Tiefe. Es gibt mehr als nur vorn und hinten. Manches Unbedeutende wird aus dieser neuen Perspektive bedeutend, und manches, was einmal wichtig erschien, verliert an Bedeutung.

Indem Paulus vom Leben und vom Sterben spricht, macht er schon deutlich, dass er weiß, nichts wird so bleiben, wie es ist. Das Sterben gehört zum Leben dazu und es kündigt sich im Laufe eines Menschenlebens immer wieder einmal an: Manchmal mit einem Paukenschlag, in einer niederschmetternden Diagnose, oder wenn ich um Haaresbreite einer tödlichen Gefahr entgehe. Manchmal ganz zart und leise, in einem Abschied, im Vergessen, im Nachlassen der Kräfte, in Momenten der Einsamkeit, in der Begegnung mit meinen zerbrechlichen Seiten oder der Zerbrechlichkeit anderer.

Wir brauchen uns also gar nicht künstlich daran erinnern, dass nichts bleibt wie es ist und dass wir sterblich sind. Es reicht völlig, dass wir die gelegentlichen Hinweise darauf zur Kenntnis – und uns zu Herzen nehmen. Denn der Blick auf unsere Endlichkeit kann uns auch daran erinnern: Wenn wir das Leben bewusst leben, kann sich darin auch etwas vollenden und zu etwas Bleibendem werden. Noch einmal Guardini:

Alter … bedeutet nicht nur das Ausrinnen einer Quelle, der nichts mehr nachströmt; oder das Erschlaffen einer Form, die vorher stark und gespannt war; sondern es ist selbst Leben, von eigener Art und eigenem Wert. […] »Voll-Enden« heißt wohl, zu Ende bringen, aber so, dass darin das sich erfüllt, worum es geht. So ist der Tod nicht das Nullwerden, sondern der Endwert des Lebens – etwas, das unsere Zeit vergessen hat.

Das prägt eine andere Identität: Meine Persönlichkeit, was mich ausmacht, wer ich bin, kann ich mir vorstellen wie ein Portrait. Auf diesem Bild ist mein Charakter ablesbar. Das, was gleich bleibt an mir: Lebensgewohnheiten, Verhaltensmuster, Denkweisen, Temperament, mein Mittelpunkt und mein stabiler Kern. Und hoffentlich auch, wie Gott mich gedacht hat.

Aber so ein Bild ist immer eine eingefrorene Momentaufnahme. Deswegen, fährt Guardini fort, können wir uns uns selbst, unsere Persönlichkeit, unser Leben auch wie eine Melodie vorstellen. Ein Ton folgt auf den nächsten, ein Takt auf den anderen. Die Harmonien wechseln, etwa von Dur nach Moll und zurück, und erst am Ende wird klar, ob der Schlussakkord fröhlich ist oder düster, beschwingt oder ruhig.

Vielleicht lässt sich das so weiterdenken: Wenn ich „des Herrn“ bin, wenn ich Christus gehöre, wenn ich aus dieser Beziehung heraus mein Leben führe und gestalte, dann bekommt diese Melodie eine Begleitung. Paulus beschreibt sie mit ein paar kurzen Hinweisen: Christus ist gestorben und wieder lebendig geworden. Und er kehrt damit die Reihenfolge um, in der er unser Leben beschreibt: Statt erst vom Leben und dann vom Sterben zu sprechen, redet er nun erst vom Tod und dann von der Auferstehung. Denn es ist kraft seiner Auferstehung, dass Jesus „eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht“ – so heißt es ganz am Anfang des Römerbriefs. Er ist das Maß aller Dinge – der wahre Herr dieser Welt und meines Lebens.

Während also mein Leben auf ein Ende zuläuft, das hoffentlich Vollendung und Erfüllung bedeutet und nicht nur Zerfall oder Leerwerden, kommt mir in Christus das Leben der neuen Welt entgegen. Es erreicht mich wie eine Symphonie, die leise und tief mit einem einzelnen pulsierenden Herzschlag beginnt, dann aber immer bewegter und vielstimmiger wird, bis auch ich nicht mehr ungerührt zuhören kann, sondern im Takt wippe und klopfe, bis ich Luft hole und die Stimmbänder anspanne, den Mund öffne und mit meiner ganz eigenen Melodie einstimme.

Dieses zu-Christus-Gehören macht eine „starke Identität“ möglich, nämlich einen anderen, versöhnten Umgang mit meiner Endlichkeit: Wer endlich sein kann, der kann auch endlich sein. Vor ein paar Wochen bekam ich die Aufgabe gestellt, auf einen nahen Friedhof zu gehen und mir dort zu überlegen, wie mein Grabstein einmal aussehen sollte. Ich saß dort eine Weile in der Sonne, dann fielen mir ein paar Zeilen des großen kanadischen Liedermachers Leonard Cohen ein. Cohen ist im September 82 Jahre alt geworden. Ein Lied aus dem Jahr 1984 hat er wiederholt als sein bestes bezeichnet. Er war ungefähr so alt wie ich jetzt, als er die ebenso schlichten wie wunderschönen Worte schrieb:

If it be your will
That I speak no more
And my voice be still
As it was before
I will speak no more
I shall abide until
I am spoken for
If it be your will
[…]

If it be your will
If there is a choice
Let the rivers fill
Let the hills rejoice
Let your mercy spill
On all these burning hearts in hell
If it be your will
To make us well

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Putin, Punk-Prophetinnen und die „Powers that be“

Vor zwei Jahren erhielten die Aktivistinnen von Pussy Riot den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, vergeben vom Senat der Freien Hansestadt Bremen und der Heinrich Böll Stiftung. In der Begründung dazu hieß es:

Bei ihrem Auftritt in der Moskauer Erlöserkathedrale riefen sie in ihrem „Punkgebet“ Mutter Maria als feministischen Beistand an, um das Bündnis zwischen der orthodoxen Kirche und dem Kreml zu bekämpfen. In dem Prozess, der gegen die Aktionsgruppe geführt wurde, verteidigten sie sich mutig. Aus der Lagerhaft heraus setzten Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina ihren Widerstand fort. Nach ihrer Entlassung stellten sie sich als Aufgabe, über das System der russischen Straflager aufzuklären und Solidarität für die Gefangenen zu organisieren.

Interessant ist, wie sich Spiritualität und Politik hier verbinden. Ich wurde erst jetzt durch ein Kapitel aus Spiritual Activism von Alastair McIntosh darauf aufmerksam (danke an Thomas Zeitler für den Hinweis!). McIntosh zitiert aus den Erklärungen, die die Musikerinnen während ihres Gerichtsverfahrens abgaben. Auf den Seiten der FAZ ist das auszugsweise in Übersetzung nachzulesen. Und da zeigt sich, wie ernst und durchdacht die Aktion war, die in vielen Berichten nur als schriller Tabubruch und trotzige Provokation dargestellt wurde.

Pussy Riot Putin by AK Rockefeller, on Flickr
Pussy Riot Putin“ (CC BY 2.0) by AK Rockefeller

Marija Aljochina erklärte, dass Putin persönlich gar nicht gemeint war mit der Aktion, sondern ein System, dem der Machtmensch womöglich selbst verfallen ist:

„Wenn wir von Putin reden, meinen wir nicht in erster Linie die Person W. W. Putin, sondern Putin als das von ihm selbst erschaffene System – die praktisch vollkommen von einer Hand gelenkte Machthierarchie.“

McIntosh spricht hier vom „politischen Unbewussten“, das sich nur schwer explizit, dafür aber bildlich, symbolisch und intuitiv erfassen lässt, und greift den Begriff des autonomen Komplexes aus der Psychologie C.G. Jungs auf (Komplexe können bei Jung auch überindividuell auftreten, dann sind sie keine abgespaltenen, verleugneten Persönlichkeitsanteile, die es zu integrieren gilt, sondern ein gefährliches Phänomen). „Putin“ ist „ein mit Gefühlen aufgeladenes libidinöses Feld“, schreibt McInstosh. Der Politiker Wladimir Putin steht möglicherweise selbst unter dem Eindruck des Systems, das er installiert hat.

Und die Wirkung dieses Komplexes ist, dass Menschen resignieren und sich ohnmächtig fühlen. Erst gestern rätselte ich mit einem Freund darüber, warum der Widerstand gegen die Willkür der Regierung in Russland so unglaublich schwach ausgeprägt ist. Passend dazu sagte damals Aljochina:

Diese Leute haben aufgehört, sich als Bürger zu fühlen. Sie fühlen sich einfach als automatische Massen. Sie haben nicht einmal das Gefühl, dass ihnen der Wald direkt neben ihrem Haus gehört. Ich bezweifle sogar, dass sie ihr eigenes Haus als ihren Besitz betrachten. Denn wenn jemand mit dem Bagger am Hauseingang dieser Leute vorfährt und ihnen sagt, dass sie das Feld räumen müssen: „Entschuldigung, wir reißen Ihr Haus jetzt ab. Hier kommt jetzt ein Wohnsitz für einen Funktionär hin“, dann werden sie gehorsam ihre Sachen packen und auf die Straße gehen. Und sie werden da so lange sitzen bleiben, bis die Regierung ihnen sagt, wie es weitergeht. Sie sind vollkommen amorph – das ist sehr traurig.

Nachdem ich fast ein halbes Jahr im Untersuchungsgefängnis verbracht habe, ist mir klargeworden, dass das Gefängnis Russland im Miniaturmaßstab ist.

Die Macht des Systems ist (noch) ungebrochen, aber der Prozess gegen Pussy Riot hat es demaskiert, und sei es auch noch so punktuell und vorübergehend. Der Druck, sich durch ständige Propaganda selbst zu legitimieren, nimmt zu, und damit auch die Anfälligkeit für Fehler. Denn auch wenn die Nachfrage nach Augenöffnern derzeit nicht hoch ist – wer will, kann eben doch sehen, wie brüchig die Legitimation der Macht ist. Darauf weist Nadjeschda Tolokonnikowa hin:

Mit unserer Aufführung haben wir es gewagt, das visuelle Bild der orthodoxen Kultur ohne den Segen des Patriarchen mit der Protestkultur in Verbindung zu bringen, damit gescheite Menschen auf die Idee kommen, dass die orthodoxe Kultur nicht nur der russisch-orthodoxen Kirche, dem Patriarchen und Putin gehört. Sie kann auch auf Seiten der bürgerlichen Rebellion und der Proteststimmungen in Russland stehen.

[…] Im Vergleich zum Justizapparat sind wir nichts; wir haben verloren. Andererseits haben wir gewonnen. Die ganze Welt sieht jetzt, dass das Strafverfahren gegen uns manipuliert ist. Das System kann den repressiven Charakter dieses Prozesses nicht verbergen.

Das Gebet in der Kathedrale war aber auch ein prophetischer Weckruf an die orthodoxe Kirche, die korrupte Politik verklärt und von der Nähe zur Macht profitiert, dafür steht Patriarch Kyrill, dessen Vermögen 2012 auf 4 Milliarden Dollar geschätzt wurde. Der Patriarch war entsprechend empört über die Respektlosigkeit dieser Ruhestörung und sprach von Blasphemie. Die Punk-Prophetinnen hingegen wiesen darauf hin, dass ihr Gebet – ganz im Gegenteil – höchst aufrichtig und ernst gemeint war.

Eine zeitgemäße Form der Tempelreinigung ragt also unter den wenigen Protesten gegen das „Putin-System“ oder den „Putin-Komplex“ heraus. Das spricht für McIntoshs Vermutung, dass Glaube und Spiritualität eine wichtige Dimension im politischen Ringen um Gerechtigkeit darstellen. Bei Gene Sharp vermisst er diese Hinweise. Srdja Popovic greift lieber auf Kunstmythen zurück (das hat, wie Terry Eagleton zeigt, der deutsche Idealismus nach der Aufklärung auch versucht). Und in Philipp Ruchs „Wer, wenn nicht wir“ ist diese spirituelle Leerstelle überall mit Händen zu greifen und durch kein anderweitig generiertes Pathos so recht zu ersetzen.

Davon lässt sich doch sicher lernen. In den letzten Monaten haben sich genügend autonome Komplexe bemerkbar gemacht, die den inneren und äußeren Frieden gefährden. Können wir Protestanten neben den bürgerlichen Protestformen (die wir auf der Ebene moralischer Appelle ja vielfach unterstützen) auch prophetische, und lässt sich das ökumenisch ausweiten?

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Sinnliche Solidarität, oder: Was Gerechtigkeit mit Genuss zu tun hat

Ich hätte mir das Thema nicht ausgesucht, aber jemand aus der Runde interessierte sich für den „Zehnten“. Also lasen wir beim Propheten Maleachi (3,10) und dann Deuteronomium 14,22-29. Welch ein Kontrast! Während der Prophetentext eher plump für eine Art Tempelabgabe mit Payback-Punkten oder Dividende wirbt und sich dabei nicht scheut, an das berechnende Wesen der Spender zu appellieren, klingen im Pentateuch ganz andere Töne an. Vielleicht ist das der Grund, warum so selten darüber gepredigt wird und auf den Kanzeln und an den Rednerpulten meistens die Konkurrenz aus der Zeit des zweiten Tempels das Rennen macht.

Aber bevor jemand hier aufhört zu lesen, weil er Kirchenfinanzierung für ein dröges Thema hält: Es geht im Folgenden um nichts weniger als zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen von Gott, von menschlichen Beziehungen und dem Umgang mit mir selbst.

Bei Maleachi braucht Gott, kurz gesagt, Geld für den Tempel und verspricht den potenziellen Spendern im Gegenzug vermehrten Segen. Ein gefundenes Fressen für die Verkünder des Wohlstandsevangeliums, die ihn genau so verstehen: Do ut des. Wohlwollender wäre die Interpretation, dass es sich um einen Appell gegen Mangelmentalität und Knauserigkeit handelt und eine Art sportlichen Wettbewerb in Sachen Großzügigkeit, den Gottes Fundraiser hier vorschlägt.

Die Anweisungen aus der Zeit des ersten Tempels zeichnen ein anderes Bild. Die Israeliten sollen ein Zehntel ihrer Ernteerträge beiseite legen, und wenn der Weg zum Heiligtum zu weit ist oder die Gaben zu schwer, dann soll das Ganze zu Geld gemacht werden. Und dann lautet die Anweisung in Dtn 14,26 (zitiert nach Buber/Rosenzweig):

… gib das Geld aus für alles, wonach deine Seele lüstet, für Pflugtier, für Kleinvieh, für Wein, für Rauschsaft, für alles, was deine Seele von dir verlangt, iß dort vor SEINEM deines Gottes Antlitz, freue dich, du und dein Haus, und der Lewit, der in deinen Toren ist, ihn verlasse nicht

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Foto: Jay Wennington, unsplash.com

Ein ausgelassenes Festessen findet statt, bei dem der Alkohol reichlich fließt und zu dem neben der Familie auch die Leviten eingeladen sind, die keinen Grundbesitz haben – Lust und Sinnlichkeit stehen im Vordergrund. Jedes dritte Jahr entfällt der Weg zum Heiligtum, das Fest findet am Wohnort statt, dafür sind nun neben den Leviten auch Witwen, Waisen und Fremdlinge mit am Tisch. Allmählich beginne ich zu ahnen, was Paulus mit seinem „fröhlichen Geber“ im zweiten Korintherbrief wohl gemeint haben könnte: Einen Wohltätigkeitsrausch, eine Sozialparty, einen Umverteilungsschmaus.

Teilen ist mehr als mir selbst einen Genuss zu versagen um einem anderen zu helfen. Freilich wird auch hier etwas nicht konsumiert, sondern auf die Seite gelegt, aber dann verschwindet das Ersparte nicht sang- und klanglos. Sondern es wird mit viel Sang und Klang geteilt, und zwar nicht anonym, sondern ganz konkret mit Menschen, deren Gesicht ich beim gemeinsamen Mahl sehen kann, und denen ich auf den Straßen meiner Stadt begegne. Diese sinnliche Praxis des Teilens setzt Beziehungen voraus und begründet neue. Hier liegt der Unterschied zu heutigen Benefizgalas, bei den die Betuchten unter sich und die Armen außen vor bleiben.

Die Mentalität des Mangels und das Denken in Defiziten wird also anders angepackt als mit dem Verweis auf zukünftigen Segen (oder eine Belohnung im „Himmel“). Durch das Sammeln und Sparen wird eine Situation des momentanen Überflusses erfahrbar, in der das Teilen leicht fällt und sich mit intensiven, guten Erinnerungen verbindet. Und wenn es gut läuft, dann spüren alle Beteiligten, dass der Gewinn den Verzicht oder Verlust mehr als aufwiegt. Vielleicht muss man dann auch die Gier weniger beklagen und die Not weniger dramatisieren (beides ist zweifellos vorhanden, der Appell nützt sich jedoch ab).

Ein genussfeindlicher Gott hingegen inspiriert mich nur schwer zur Großzügigkeit. Und ein unpersönliches, abstraktes und zahlenbasiertes Finanzierungssystem für eine Institution (zumal eine, die sich auf den Gott Israels und Jesu Christi beruft!) ist womöglich nicht das ideale Mittel, um bei Wohlstandsbürgern die Taschen der Spendierhosen zu öffnen. Es löst bei vielen erst einmal einen unschönen Steuervermeidungsreflex aus und es produziert nach innen häufig auch eine Mentalität des Mangels, weil die Zuteilungen und Umlagen mühsam verhandelt werden müssen und weil jede Form der Großzügigkeit im System den empörenden Verdacht der ungerechten Bevorzugung auslöst. Egal, wie die Haushaltslage tatsächlich aussieht – gefühlt schrumpft dieser Kuchen immer.

Ich habe nach der Lektüre von Dtn. 14 beschlossen, mir diesen sinnenfreundlichen Gott ausgiebig zu Herzen zu nehmen. Wenn es noch ein paar von euch machen, dann kann man irgendwann vielleicht auch mal über einen Systemwechsel reden. Und wenn jemand bei diesem Stichwort die Panik befällt, dann wäre auch das ein guter Grund, das Gottesbild in den Blick zu nehmen.

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