Schweigen mit Rilke (2)

Für alle, die es mögen: noch ein inspirierendes Rilke-Zitat, das mich durch die Stille begleitet hat

Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen,
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen
du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen
du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen

Das Stundenbuch, 268

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Feuchter Triumph

Heute ist das ja zum Glück kaum noch ein Problem – im 19. Jahrhundert standen sich jedoch im frommen Wuppertal Reformierte und Lutheraner nicht sehr freundschaftlich gegenüber. Das Unglück des anderen wurde als Zeichen dafür gedeutet, dass er auch theologisch im Unrecht war. Vor allem an der Frage nach der Prädestination schieden sich die Geister, wie ein (zugegeben: sehr bissiger) Zeitzeuge schildert:

Einmal kam ein alter steifer Lutheraner ein wenig angetrunken aus einer Gesellschaft und mußte über eine baufällige Brücke gehen. Das mochte ihm in seinem Zustände doch etwas gefährlich dünken, und so begann er zu reflektieren: Gehst du hinüber, und es geht gut, so ist’s gut, geht es aber nicht gut, dann fällst du in die Wupper und dann sagen die Reformierten, es hätte so sein sollen; nun soll es aber nicht so sein. Er kehrte also um, suchte eine seichte Stelle, und an dieser watete er, bis an den Leib im Wasser, hindurch, mit dem seligen Gefühl, die Reformierten eines Triumphes beraubt zu haben.

Friedrich Engels, Briefe aus dem Wuppertal (1839)

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Gott und die freie Liebe

Gestern habe ich wieder einmal ein Stück aus Dostojewskis Großinquisitor gelesen, und bin an der folgenden Passage hängen geblieben, wo der Großinquisitor zum angeklagten Christus sagt:

Dein Wunsch war die freie Liebe des Menschen; frei sollte er Dir nachfolgen, von Dir gelockt und gefangen. Statt sich nach den alten harten Gesetzen zu richten, sollte der Mensch von nun an freien Herzens vor sich selber entscheiden, was gut und was böse sei, mit Deinem Beispiel vor der Seele.

Ist Dir damals nie der Gedanke gekommen, dass der Mensch Deine Wahrheit bestreiten und Dein Beispiel verleugnen wird, wenn ihn Deine Wahrheit mit einer solchen Last, wie es die Wahl zwischen Gut und Böse ist, drücken muss? Die Menschen werden es laut verkünden, endlich, daß die Wahrheit gar nicht in Dir sei; denn es war nicht möglich, sie in ärgerer Qual und Not zu lassen, als Du es tatest, da Du ihnen nur Sorge und unauflösbare Rätsel auf Erden zurückließest.

Auf solche Weise hast Du selber den Grund gelegt zur Zerstörung Deines Reiches, gib also niemand anderem mehr die Schuld daran! Es gibt drei Gewalten, drei, nicht mehr, auf Erden, die mächtig sind, für ewig das Gewissen dieser erbärmlichen Empörer zu unterjochen und zu knechten, zu ihrem Glück. Und diese drei Gewalten sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du hast die eine und die andere und auch die dritte von Dir gewiesen und den Menschen also ein Beispiel gegeben.

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Angst

Zwischen den Jahren habe ich „Angst“ von Robert Harris gelesen, einen temporeichen Thriller über Alex Hoffmann, den Entwickler eines computergestützten Hedgefonds, in dessen Milliardärsvilla am Ufer des Genfer Sees sich merkwürdige Dinge ereignen. Als Hoffmann versucht, herauszufinden, wer genau sein Leben(swerk) da zerstören will oder ob er sich alles nur einbildet, gerät er in einen Kampf auf Leben und Tod.

Mehr zum Plot kann man nicht verraten, ohne schon zu viel gesagt zu haben. Harris hat sich von Fachleuten beraten lassen, und ich hatte gehofft, dass das Buch noch etwas mehr Enthüllungscharakter im Blick auf die Finanzindustrie an den Tag legen würde, aber dann dominiert doch die Lust am Aufbau einer Kulisse, die bei längerem Nachdenken nicht hundertprozentig überzeugt.

Zum Glück! Was bleibt, ist das beunruhigende Gefühl, dass das ganze System extrem anfällig ist und auch ohne Ereignisse, wie sie Harris hier mit blühender Phantasie schildert, Entwicklungen jederzeit so schnell aus dem Ruder laufen könnten, dass der Schaden gewaltig wäre.

Fazit: Spannende Unterhaltung, trotz immer wieder eingestreuter Bildungsschnipsel aus wissenschaftlichen Werken von Charles Darwin und anderen aber nur begrenzt lehrreich – und im Blick auf die aktuelle Krise eher der Versuch, von den herrschenden Sorgen zu profitieren, als konstruktiv darauf zu antworten.

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Transatlantischer Austausch

Gestern habe ich das Vergnügen, ein paar Takte mit Alan Roxburgh zu sprechen. Sein Buch Missional Leadership ist übrigens inzwischen auf Deutsch erschienen, ein weiteres folgt im März.

Wer in der Zwischenzeit Lust auf ein paar anregende Vorträge von Alan hat, kann die Referate von der IGW-Konferenz 2011 in Rotkreuz/CH als Podcasts hören – sie stehen hier im Netz und die gelungenen (fast hätte ich gesagt: roxfrechen) Visualisierungen von Cla Geiser gleich mit.

Ich jedenfalls möchte 2012 an dem Thema „Missionale Gemeinde“ dran bleiben. Neben guten Büchern brauchen wir Gesprächsforen (besser noch: Lern- und Reflexionsgruppen) und gut strukturierte, sinnvoll begleitete Veränderungsprozesse für Gemeinden und Verantwortliche. Das Interesse wächst, aber die eher punktuellen Angebote halten noch nicht mit.

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Verstellter Blick

Die folgenden Zeilen habe ich am Wochenende in Rilkes Stundenbuch gelesen, sie haben mich noch eine Weile beschäftigt. Zum Nachdenken in dieser ja oft als „besinnlich“ bezeichneten Zeit:

Wir bauen Bilder vor Dir auf wie Wände  

So dass schon tausend Mauern um dich stehen

Denn dich verhüllen unsre frommen Hände

sooft dich unsre Herzen offen sehn

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Formuliert wie geschmiert

Die NN berichten in der Druckausgabe von heute über einem Fettfilm auf den U-Bahn-Schienen, der den Nehverkehr behindert hat – verlängerte Bremswege und höhere Fahrzeiten waren die Folge. Bis zum Betriebsschluss am Vortag, so der Artikel weiter, sei der Verkehr noch „reibungslos“ gelaufen.

Der Bericht in der Online-Ausgabe verzichtet auf die rutschige Metapher 🙂

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Spätrömische Dekadenz

Den ausschweifenden Lebensstil der Römer für den Untergang ihres Imperiums verantwortlich zu machen war lange Zeit in Mode bei Historikern und Moralisten, zuletzt noch bei einzelnen Politikern, die wohl fürchteten, dass ein Mindestlohn in Deutschland ähnlich hedonistische Verfallserscheinungen auslösen könnte und dafür mit solchen Thesen satt unter die Mindestlohngrenze der politischen Zustimmung von 5% gerieten.

Aber die Erklärung war in dieser Form schon immer falsch, schreibt Rodney Stark in The Rise of Christianity. Man habe viel zu lange eine eigentlich bekannte Tatsache unterschätzt. Mehrere Epidemien hätten die Population so stark dezimiert, dass immer mehr „Barbaren“ ins Reich geholt wurden, um die brachliegenden Fläche zu bewirtschaften oder das Militär zu verstärken. Viren, nicht Dekadenz schwächten das Reich bis irgendwann die hereindrängenden Germanenstämme leichtes Spiel hatten.

Alle Hedonisten dürfen also aufatmen – falls sie sich je den Kopf über solche Fragen zerbrochen haben, was doch eher unwahrscheinlich ist. Und die Schluss-mit-Lustig-Fraktion muss sich neue Argumente suchen. Sie könnte die Individualethik zurückstellen und sich auf den Klimawandel verlegen. Da droht ein sehr konkreter Untergang, der sich auch sehr konkret als Folge eines bestimmten Verhaltens darstellen lässt und der Verletzung bestimmter Grenzen.

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Bewegende Worte

hat Mona Simpson, Steve Jobs leibliche Schwester, für ihren Bruder gefunden. Wer sie noch nicht gelesen hat, findet ihr Ansprache hier. Es ist eine sehr intime und sehr menschliche Perspektive und man spürt, wie sehr sie ihrem Bruder zugetan war.

Unter den schwierigen Bedingungen ist das ja gar nicht selbstverständlich, um so schöner, dass es so war.

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Kreuzzug-Lektüre: kurzes Fazit

Es ist unmöglich, Rodney Starks Buch über die Kreuzzüge hier inhaltlich zusammenzufassen. Die Darstellung stützt sich durchgehend auf neuere historische Untersuchungen, um viele der gängigen Klischees über dieses Kapitel mittelalterlicher Geschichte in Frage zu stellen. Die Originalquellen führt er selten an, aber das tun eben auch jene nicht (oder nur sehr selektiv), die in den letzten Jahrzehnten ein vermutlich einseitig negatives Bild gezeichnet hatten.

Ein paar dieser Korrekturen sind bei mir hängengeblieben:

Der Kontrast zwischen der blutigen Eroberung Jerusalems beim ersten Kreuzzug und dem scheinbar so viel zivilisierteren Abzug gegen Lösegeld, den Saladin den Kreuzfahrern ein paar Generationen später anbot, führt Stark überzeugend auf die damals geltenden Kriegsregel zurück, dass man die Einwohner einer belagerten Stadt mit dem Leben davonkommen lässt, wenn sie den Angreifern einen verlustreichen Sturmangriff auf die Befestigungen ersparen. Saladin konnte, wie andere Beispiele zeigen (und islamische Quellen belegen), durchaus sehr grausam verfahren, wenn er eine Festung einnahm. Die gleiche Regel galt auch bei Konflikten zwischen zwei christlichen Kriegsparteien.

Die oft herausgestellte Überlegenheit der arabischen Kultur (Philosophie, Medizin, Mathematik, Architektur, Schiffbau und Navigation) beruhte in weiten Teilen auf den geistigen Leistungen der Dhimmis, also unterworfener Juden und Christen. Oft täuscht ein arabischer Name darüber hinweg, dass der betreffende Gelehrte byzantinischer oder nestorianischer Christ, beziehungsweise Zoroastrier oder Jude war. Zugleich erklärt dies auch den Niedergang der Gelehrsamkeit in dem Maße, wie die Dhimmis allmählich zum Islam konvertierten. Während nämlich die Griechen aristotelische Philosophie als eine Möglichkeit unter vielen und als Ansporn zur Suche nach besseren Argumenten verstanden, wurde er im arabischen Sprachraum später kanonisiert und alle Diskussion abgewürgt. Die „arabischen“ Zahlen wiederum wurden eigentlich bei den Hindus erfunden und von dort „importiert“, sie stammen also ursprünglich aus Indien.

Der vierte Kreuzzug, der mit der Eroberung und Plünderung Konstantinopels endete, wird immer wieder als venezianische Verschwörung gegen den Konkurrenten als Handels- und Seemacht im Mittelmeer bezeichnet. Abgesehen davon, dass die Plünderung deutlich weniger Opfer gefordert haben dürfte, als oft behauptet, legt Starks Darstellung auch eine andere Perspektive nahe: Die Byzantiner hatten nicht nur ständige Intrigen im Inneren angezettelt, die das Reich schwächten, sie hatten auch die Kreuzfahrer während der ersten drei Kreuzzüge immer wieder verraten und ihnen damit schwerste Verluste beigebracht. Mit den Venezianern war zwar die Begleichung der immensen Transportkosten durch die Rückeroberung von Zara durch die Kreuzfahrer vereinbart. Die Wendung gegen Byzanz trat ein, nachdem sie die Stadt für den Prinzen Alexios Angelos eingenommen hatten, dieser aber seine Zusagen (die astronomische Summe von 200.000 Silbermark und 10.000 Soldaten zur Eroberung Ägyptens, das die Kreuzfahrerstaaten ständig bedrohte) nicht einhielt. Stark ist mit dem französischen Historiker Jean Richard der Ansicht, dass neben dem Zorn über den Wortbruch vor allem auch die sehr schwierige Versorgungslage der Kreuzfahrer einen Angriff nahelegte und dass bei der Eroberung nur ein relativ kleiner Teil der Einwohner umkamen – da hatten die Byzantiner in internen Rivalitäten auch schon deutlich härter hingelangt. Umstritten, auch das erwähnt Stark, war die Aktion trotzdem auch damals schon: Der Papst kritisierte den Krieg gegen das christliche Byzanz aufs Schärfste.

Insgesamt zeichnet Stark das Bild einer sehr kriegerischen Epoche, in der die pauschale Einteilung in Schurken auf der einen Seite und Edlen auf der anderen nie aufgeht. Die selektive Entrüstung über die Gewalt verstellt den Blick auf die tatsächlichen Motive der meisten Kreuzfahrer, vielleicht auch deshalb, weil diese uns, die wir alles in primär ökonomischen Kategorien zu deuten gewohnt sind, heute so fremd geworden sind.

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Rodney räumt auf: Kreuzzüge

In der aktuellen Debatte zum Frieden zwischen Kulturen und Religionen tauchen immer wieder die Kreuzzüge auf – selten unbedarft positiv wie bei George W. Bush, meist dagegen als monumentales Unrecht, und das nicht nur bei Bushs Kritikern. Seit Voltaire und Diderot hat sich hierzulande die Ansicht durchgesetzt, dass ein barbarisches christliches Europa damals aus Gier nach Macht und Reichtum zum blutrünstigen Vernichtungsschlag gegen eine blühende islamische Hochkultur ausholte, der es das intellektuelle Wasser eigentlich nie reichen konnte.

Inzwischen haben Historiker viele Mythen über das angeblich so finstere Mittelalter relativiert und der Soziologe Rodney Stark wirft in God’s Bataillons. The Case for the Crusaders einen Blick auf alte Thesen. Jenseits von konservativer Kulturkampf-Rhetorik oder naiver Verklärung im Kielwasser von Lessings idealisiertem Saladin erscheint in den ersten paar Kapitel zumindest ein differenzierteres und glaubwürdigeres Bild von der Ausgangslage der Kreuzzüge Ende des 11. Jahrhunderts.

Am bemerkenswertesten fand ich beim Hineinlesen die Feststellung, dass die Kreuzzüge keineswegs über Jahrhunderte das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen vergifteten, sondern dass sie erst im Zuge der Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts gegen die Kolonialmächte England und Frankreich wieder thematisiert wurden. Nun bin ich gespannt darauf, ob Stark überzeugend darlegen kann, dass der kolonial-imperialistische Sündenfall der westlichen Welt nicht im 12. und 13. Jahrhundert stattfand. Wenn es die Diskussion versachlicht und egal welchen Dschihadisten den Vorwand offener Rechnungen nimmt, dann wäre doch viel gewonnen.

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Schinken vom Streithammel

Wenn Jesus heute Geschichten erzählen würde, wäre diese tatsächliche Begebenheit vielleicht auch darunter:

Er nagelte einen Schinken an die Tür einer Moschee im englischen South Shields und saß in Arrest – jetzt ist der Täter wieder auf freiem Fuß. Der Vorsteher der Moschee hatte sich in einem Schreiben an das Gericht für ihn eingesetzt. Der 63-Jährige wurde nach einem Bericht der Zeitung „Gazette“ zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt und darf sich der Moschee für ein Jahr nur auf 100 Meter nähern. Das Gericht brandmarkte seine Tag als „unchristlich“ und beleidigend. Muslime dürfen kein Schweinefleisch essen. Der Täter gibt persönliche Motive für sein Verhalten an, er liege seit 20 Jahren im Streit mit einer muslimischen Familie. Er besucht regelmäßig die Kirche in der Straße, in der auch die Moschee liegt.

(hier gefunden)

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Sommerlich leicht

liest sich Brian McLarens neues Buch Naked Spirituality. Ich habe es in der Kindle-Version erstanden und bin nun dabei, es in kleinen Häppchen zu lesen. Das Einführungskapitel über Spiritualität und Religion fand ich noch etwas anstrengend, aber schon das erste Praxis-Kapitel zum Stichwort „Hier“ war inhaltlich und stilistisch recht ansprechend.

Keine großen Neuheiten, eher manches Vertraute, aber mutmachend und einfühlsam geschrieben. Wer für den Sommerurlaub noch etwas Inspirierendes sucht, sollte mal einen Blick hinein werfen.

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„Anders kann man mit Menschen nicht umgehen“

Der Kriminologie Christian Pfeiffer untersucht Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Das Thema ist ja leider bleibend aktuell und keineswegs auf die katholische Kirche beschränkt. Auf die Frage der Zeit, ob er keine Mühe habe, seine Abscheu gegenüber den Tätern zu unterdrücken, antwortet er:

Verachtung gegenüber den Tätern ist mir völlig fremd. Wenn man mit ihnen sprechen will, muss man sie doch erst einmal als Menschen annehmen und ihr Leben verstehen. Unsere erste Frage an Priester wird nicht sein, was sie Böses getan haben. Wir möchten zunächst erfahren, wann ihr Leben gut war, wann sie glücklich, wann sie stolz auf sich waren. Erst dann können wir uns dem Thema Missbrauch annähern. Anders kann man mit Menschen nicht umgehen.

Die Fähigkeit, einen anderen trotz aller Schuld als Menschen und nicht als Monster zu sehen – ohne dabei ein Verbrechen zu verharmlosen – täte der öffentlichen Diskussion tatsächlich gut.

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