Progressiv oder prophetisch?

Heute hat ELIA 30. Geburtstag gefeiert. 25 Jahre davon habe ich miterlebt und mitgewirkt. Vor 30 Jahren hat diese Gründung ordentlich Staub aufgewirbelt und es ist wohltuend zu sehen, wie viele Hoffnungen sich erfüllt haben und wie viele Befürchtungen nicht. Wir haben heute einen fröhlichen Gottesdienst mit vielen wunderbaren Menschen genossen. Ich habe einen kurzen Beitrag dazu verfasst. Ein Brief an ELIA, inspiriert von Bruno Latours Brief an sein jüngstes Enkelkind. Vielleicht interessiert er auch ein paar, die nicht dabei waren:

Liebe ELIA,

als Du auf die Welt kamst, war ich fast so alt, wie Du jetzt bist, und gerade junger Vater. Seit ein paar Wochen bin ich nun Vater eines jungen Vaters. Eine ganze Generation liegt zwischen damals und heute.

Über Generationen wird gerade fast schon inflationär geschrieben. Alle paar Jahre (nicht etwa Jahrzehnte…) erfinden Medienschaffende und Marketingabteilungen wieder eine neue. Lassen wir das also beiseite. 

Ich erspare dir auch nostalgisch-rührselige Geschichten darüber, wie süß Du warst, als Du noch klein warst. Davon kriegen meine Kinder schon genug ab.

Aber vielleicht können wir ein bisschen drüber reden, was nach dem 30. auf dich zukommt. Davon habe ich inzwischen ein bisschen Ahnung. 

Reden wir also übers Älterwerden. Am Montag war ich im Seniorenheim. Auf einer Bank saßen ein paar Bewohnerinnen, und als ich vorbeiging, fragte eine die anderen halblaut, wer „der junge Mann“ denn sei. Alter ist relativ. In den nächsten Jahren wirst Du merken, dass das mit der Selbstbeschreibung „jung“ nicht mehr so einfach ist. Ich wünsche Dir, dass es dir gelingt, nicht jugendlicher sein zu wollen, als du bist. Dann wird es auch leichter auszuhalten sein, dass andere frischer, hipper und cooler sind als du selbst. Und wenn Du Dich zwischendurch trotzdem mal richtig jung fühlen willst, mach’ einfach mal einen Besuch im Altersheim. 

Die gute Nachricht lautet: Künftig rückt sowas wie „Weisheit“ in greifbare Nähe. Die Schwaben sagen ja: „Mit 40 wird man gescheit“. Ungeduld und Übermut lassen sich besser zügeln, und Illusionen sind zwar noch möglich, aber es wird immer anstrengender, sie aufrechtzuerhalten.

Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief des Philosophen Bruno Latour an seinen jüngsten Enkel Lilo gehört. Er sagt, die nächsten 20 Jahre werden höchstwahrscheinlich sehr schwer. Die Krisen werden sich verschärfen und die Versäumnisse früherer Generationen (vor allem beim Klimaschutz) werden sich bitter rächen. Aber dann, in 20 Jahren, könnte sich die Zivilisationskrise vielleicht doch lösen lassen. In der Zwischenzeit ist es ganz wichtig, dass sie Mittel und Wege kennt, sich selbst und andere zu heilen.

Mich hat das ins Nachdenken gebracht: Früher, als viele von uns noch dachten, die Welt wird quasi automatisch immer besser, ging es mal darum, progressiv zu sein. Setz dich an die Spitze der Bewegung, sei Schrittmacher und Motor. Wo es hingeht, war klar: Fortschritt wird von Forschung und Technik angetrieben, Wissen und Innovation nehmen stetig weiter zu, das Leben wird besser und die Menschen glücklicher. Das glauben heute nur noch die paar Prozent im Lande, die FDP wählen.

Seit ein paar Jahren bröckelt dieses Bild. Technischer Fortschritt findet immer noch statt, aber plötzlich sind es Viren und Waldbrände, Fluten und Hitzewellen, die uns in Atem halten (oder ihn uns nehmen). Plötzlich nehmen sich die Autokraten der Welt wieder ein Vorbild an Stalin, Hitler, Mussolini und Mao. Die Geister einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit sind zurück. Und wir sind unvorbereitet, die Regierung arbeitet vielfach im Panikmodus – und die Opposition erst recht.

Was gestern noch „progressiv“ war, ist morgen schon obsolet. Es gibt keine klare Richtung mehr, kein Vorne und Hinten, die Schläge treffen uns aus dem toten Winkel, von rechts und links, oben und unten.

Ich glaube, Jesus war nicht progressiv, sondern prophetisch. Wie die großen Propheten vor ihm sieht er die Welt in einem Zustand der Disruption, der Erschütterung, voller Brüche und Risse. Und wie sie stellt er sich auf die Seite derer, die bereits unter diesen Erschütterungen leiden. Denen gehört das Reich Gottes. 

Er warnt die Sorglosen und Selbstzufriedenen, dass es auch sie treffen wird. Er unterbricht die Gleichgültigkeit der Mehrheit mit seiner Forderung nach einer besseren Gerechtigkeit und konfrontiert sie mit den Folgen ihrer destruktiven Lebensweise. Er klagt, er weint, er droht, er rüttelt auf. Und ja, manchmal heilt und tröstet er dann auch.

Wenn ich Gott also irgendwo „vorne“ und auf kontinuierlichen Linien suche, könnte das künftig schwer werden. Die gute Nachricht ist: In den Brüchen und bei denen, die nicht mehr sagen können, was morgen kommt und wo vorne und hinten ist, wird es reichlich Gelegenheit geben, ihm zu begegnen. 

Und wenn wir uns dann in 30 Jahren wiedersehen (und ich dann noch da bin), können wir einander davon erzählen.

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Wiedergeburt und die Krisen unserer Zeit

Das Evangelium für den Trinitatissonntag morgen ist das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus in Johannes 3, in dem Jesus von der (für sein Gegenüber befremdlichen) Notwendigkeit spricht, von neuem (genauer: „von oben“) geboren zu werden. Und dann noch den kryptischen Satz über den Geist/Wind anhängt, der Menschen treibt.

Nikodemus (…) suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.
Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden.
Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. 

Joh 3,1-8

Aus den vielen Dingen, die es dazu zu sagen gibt, greife ich hier nur ein paar Punkte heraus. Ich fange mal mit dem Begriff „Wiedergeburt“ an. Wenn zur „natürlichen“ Geburt da in irgendeiner Form eine Analogie besteht, dann am ehesten darin, dass Geburt für die, die geboren werden, weder eine Errungenschaft noch eine Erfahrung ist. Sondern ein Widerfahrnis, aufgrund dessen ich mich in einem Geflecht von Beziehungen wiederfinde. Und deren werde ich mir zunehmend bewusst.

So wie ein Neugeborenes in eine Familie – klein, groß, eher heil oder eher traumatisiert, reich oder arm – hineingeboren wird, so finden sich Menschen auch in einer Beziehung zu Gott wieder. Noch genauer (wir feiern ja die Dreieinigkeit): Sie nehmen, ohne es darauf angelegt zu haben, teil an der Beziehung, die Gott in sich schon ist. Und dem Beziehungsgeflecht, das um ihn herum entsteht (dem „Reich Gottes“). Diese Verbindung mit Gott wird für sie zur prägenden, identitätsstiftenden Beziehung.

Ich bin also nicht mehr durch meine soziale und biologische Herkunft definiert und festgelegt, sondern dieses neue Verhältnis bestimmt, wer und wie ich bin und wohin mein Weg führt. Nicht die Vergangenheit mit ihren Altlasten und Erfolgen legt meine Zukunft fest, sondern Gottes fürsorgliche Gegenwart in meinem Leben. Nicht das „Fleisch“ in seiner Vergänglichkeit, Anfälligkeit und den nachlassenden Kräften (und der Verzweiflung, Aggression und Niedergeschlagenheit über diesen Verfall in der Welt, bei mir selbst und anderen) macht mich aus. Nicht die guten oder schlechten Gene, die meine Eltern mir mitgegeben haben. Sondern ein geheimnisvoller Antrieb, der immer wieder ganz unvermittelt gute Dinge geschehen lässt.

Diese Kraft kann ich ebensowenig dingfest machen wie den Wind oder die Wolken am Himmel. Aber wenn ich lerne, mich auf sie einzustellen, dann wird (wie beim Wind) einiges leichter.

So weit, so bekannt für viele. Aber hier kommt der neue Gedanke: Wenn Gott mich aus einer Lebensweise befreit, die von der Vergangenheit gespeist wird und in der sich die Vergangenheit reproduziert (History will teach us nothing, lautet ein Songtitel von Sting), und mir ein Leben in und aus seiner Gegenwart ermöglicht, dann hat diese Transformation eine ganz aktuelle Parallele: Die hart umkämpfte Klima- und Energiewende.

Denn auch da geht es darum sich von einer Lebensweise zu verabschieden, die Ablagerungen der Vergangenheit (fossile Brennstoffe, die in vielen Millionen Jahren entstanden, noch älteres und länger strahlendes Uran, aber auch Holz, das Jahrzehnte braucht zum Wachsen) verbrennt. Weil das die Zukunft aller Menschen verqualmt und beschädigt. Wir müssen also maßgeblich bis ausschließlich von dem leben, was uns im jeweiligen Augenblick an Energie in Wind und Sonne zur Verfügung steht. Auch hier also: Bezug zur Gegenwart vor Bezug zur Vergangenheit.

Kann die persönliche Energiewende der Wiedergeburt in Gottes verzweigte Sippe die kollektive Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise erleichtern? In den USA halten viele Christen, die sich selbst als „wiedergeboren“ bezeichnen, Ökologie und Klimaschutz für Teufelszeug. Aber ich denke, das ist eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Form des Glaubens. Eine Form von Kirche, die ebenso destruktiv ist wie die parasitäre Lebensweise, die sie mit dem Reich Gottes verwechselt. Die sich an die Vergangenheit klammert und sie festhält, statt sich dem Wind des Wandels auszusetzen.

In der kommenden Woche haben wir in Nürnberg den Kirchentag zu Gast. Mit dabei ist unter anderem auch Eckart von Hirschhausen. Der schrieb kürzlich in Chrismon davon, welche Rolle Christen in den Krisen dieser Zeit spielen könnten:

Während der Zeithorizont von Politikern oft nicht ausreicht, um auf den ersten Blick unpopuläre Entscheidungen voranzubringen, könnten es sich die Kirchen in der Gewissheit ihres Auftrags und ihrer Geschichte leisten, jetzt in Vorleistung zu gehen. Wenn sich so viele Menschen ohnmächtig fühlen, wo ist denn dann diese ominöse Macht? Was können Sie tun?

Als Wiedergeborene leben wir in den Geburtswehen der neuen Schöpfung. Auch diese noch ausstehende Geburt ist etwas, das nicht in unserer Hand liegt – zum Glück. Aber wir können jetzt schon, so gut es geht, leben, als wäre das Neue schon da.

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Der Sommer der Sorgen

Hitzefrei. Alle, die wie ich im letzten Jahrtausend zur Schule gegangen sind, erinnern sich noch daran: Wie es im Lautsprecher knackst und die heiß ersehnte Durchsage durch Flure und Klassenzimmer hallt, dass die beiden letzten Schulstunden heute entfallen. Dann der vielstimmige Jubel, der unter den Schulkindern ausbricht. Wer kommt mit ins Bad? Gehen wir direkt – ich habe meine Schwimmsachen schon dabei? Momente reinsten Schülerglücks. Aber seltene Momente – kaum mehr als eine Handvoll Tage jeden Sommer waren damals warm genug.

Vielleicht kam deshalb der alte Ohrwurm von Rudi Carrell so gut an: 

Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war. Mit Sonnenschein von Juli bis September. Und nicht so kalt und so verregnet wie im letzten Jahr

Noch heute warte ich darauf, dass die Radiosender spätestens am zweiten feuchtkalten Julitag den Evergreen aus dem Regal kramen. Aus ihm spricht die Mentalität von Menschen in gemäßigten Breiten, die es gewohnt sind, im Sommer Badeurlaub im Süden zu machen: Warm ist gut. Wärmer ist besser. Der Winter kommt früh genug.

Inzwischen ist all das eingetroffen, was in den Siebzigern verklärte Erinnerung oder blumige Hoffnung war. Die 40 Grad, die wir erst vor kurzem hatten, und monatelange Dürren entpuppen sich allerdings als Albtraum. Was Carrell besingt, ist mit beschönigenden Worten wie „Wetterkapriolen“ oder „Jahrhundertsommer“ nicht angemessen beschrieben. Es ist kein „richtiger Sommer“, sondern ein falscher, ein nie dagewesener. Wir erleben Extremwetter, das allen Lebewesen massiv zusetzt. Von Griechenland bis Großbritannien, von Spanien bis Dänemark Hitzerekorde, Flächenbrände, Ernteausfälle, Wasserknappheit. Der Mai brachte an die 50 Grad Hitze in Indien und im vergangenen Jahr gab es ähnliche Extreme im vermeintlich kühlen Kanada. Ich wohne in Nürnberg, und da war das letzte Vierteljahr zweieinhalb bis dreieinhalb Grad wärmer als zu Rudis Zeiten. Der Rasen in den Parks ist gelbbraun und die ersten Bäume werfen schon Blätter und Früchte ab.

Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war: Mit Regen für die Gärten und die Felder. Und nicht so trocken und so staubig wie in diesem Jahr.

Szenen, die zu Herzen gehen

Es gibt in der Bibel eine Extremwettergeschichte. Sie ist nicht besonders bekannt, weil das für uns lange kein Thema war und weil wir lieber die schönen Sachen lesen, nicht die schwierigen. Aber vielleicht hat diese Geschichte uns mehr zu sagen, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir finden sie beim Propheten Jeremia im 14. Kapitel:

Das Wort des Herrn erging an Jeremia wegen der großen Dürre: Juda ist ausgedörrt; seine Tore verfallen, sie sinken trauernd zu Boden und Jerusalems Klageschrei steigt empor.
Die Vornehmen schicken ihre Diener nach Wasser; sie kommen zu den Brunnen, finden aber kein Wasser; sie kehren mit leeren Krügen zurück.
Die Bauern sind um den Ackerboden besorgt; denn es fiel kein Regen im Land. Sie sind bestürzt und verhüllen ihr Haupt.
Selbst die Hirschkuh im Feld lässt ihr Junges im Stich, weil kein Grün mehr da ist. Die Wildesel stehen auf den kahlen Höhen; sie schnappen nach Luft wie Schakale. Ihre Augen erlöschen; denn nirgends ist Gras.

Der Berichterstatter dieser großen Dürre ist Jeremia. Er spricht im Namen Gottes, aus göttlicher Perspektive. Und macht das ganz anders als ich es eben getan habe und als unsere Nachrichtenredaktionen es derzeit täglich melden. Keine abstrakten Zahlen, Messwerte, Diagramme. Keine Informationen nur für den Kopf, sondern Szenen, die zu Herzen gehen. 

Da sind die Vornehmen, die es sich leisten können, im kühlen Haus zu bleiben, und ihre Diener mit der schweißtreibenden Aufgabe losschicken, Wasser aus den Brunnen zu holen. Aber die Krüge blieben leer. Betretene Gesichter bei den Herrschaften und dem Gesinde. Wenn nichts mehr da ist, was man kaufen kann, ist auch das Geld nichts mehr wert.

Sorgenfalten auf der Stirn der Bauern, die vergeblich den Horizont nach Regenwolken absuchen. Die Feldfrüchte vertrocknen, der heiße Wind bläst den fruchtbaren Mutterboden davon, den kein Grün mehr bedeckt. Auch wenn wieder Regen kommt, die nächsten Ernten werden schlechter ausfallen.

Der Katastrophe schutzlos ausgeliefert sind die Wildtiere. Die Wildesel hecheln, um dem drohenden Hitzetod gerade noch zu entgehen. Wälder, die brennen könnten, gibt es schon keine mehr. Und die Hirschkuh findet keine Nahrung für sich und ihr Kalb. Sie lässt es zurück und es verendet. Wie verzweifelt muss sie sein?

Nicht nur Bäume und Sträucher welken dahin, sogar die Stadttore und Befestigungen in Jerusalem und Umgebung hängen schlaff in den Angeln und haben ihre Wehrhaftigkeit verloren. Und die Leserin ahnt schon: Auf die Dürre folgt der Hunger folgt der Krieg. Wie so oft in der Geschichte. 

Klage und Trauer sprechen aus dem folgenden Lied von Tracy Chapman: Mutter Erde, auf der wir alle geboren wurden, wird vergewaltigt. Und wir sehen tatenlos zu. Der Anfang vom Ende, die größte Todsünde.

Was hier geschieht, zerreißt auch Gott das Herz. Er ist kein unbeteiligter Zuschauer, er sitzt nicht in der himmlischen Wetterzentrale und schaut auf seine Anzeigen von Temperatur, Wind und Niederschlag. Mitfühlend, mitleidend. Heiße Tränen im Gesicht, kein kaltes Lächeln. Gott sagt von sich selbst: 

Meine Augen fließen über von Tränen bei Tag und bei Nacht und finden keine Ruhe. Denn großes Verderben brach herein über … mein Volk, eine unheilbare Wunde.

Was empfand Gott, als im Juni die Mauersegler in Spanien tot vom Himmel fielen, weil die eleganten Flieger – aus Afrika zurückkehrend! – die Gluthitze in Europa nicht verkraften? 

Was sagt er zu den Sorgen der Bauern in der Po-Ebene, die ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre einstmals satt grünen Äcker vertrocknen, weil Italiens mächtigster Strom in diesem Sommer kaum noch Wasser führt?

Fühlt er mit den Dorfbewohnern in der Toskana, die Rauchschwaden und Feuerwalzen auf ihre Häuser zukommen sehen und sich nur noch ins Meer flüchten können? 

Mit den Familien der Bergsteiger, die kürzlich beim Abbruch des Marmolata-Gletschers in den Dolomiten den Tod fanden? 

Geht ihm das Fischsterben im Main und in vielen seiner Nebenflüsse nahe, oder… oder … ich weiß gar nicht, wo ich aufhören soll, bei so vielen bedrückenden Meldungen in jüngster Zeit. 

Warum so apathisch? 

Aber wie kann es sein, dass wir tagein, tagaus solche Nachrichten hören und, so lange es uns nicht – noch nicht! – direkt trifft, weder Tränen in den Augen haben, noch ernsthaft und schonungslos fragen, was das mit uns zu tun hat und was jetzt sofort anders werden muss?

Hubert von Goisern hat, wie ich finde, den heimlichen Sommerhit der letzten Jahre mit all den Bränden, Hitzewellen und Flutkatastrophen geschrieben: „Jeder weiß, dass Geld nicht auf der Wiese wächst. Und essen kann man’s auch nicht, aber es brennt gut. Aber heizen tun wir mit Weizen, Rüben und Mais. Wenn wir noch lange so weiterheizen, brennt der Hut.“

„Samma Christ, hättma gwisst, wo der Teife baut im Mist“  – Menschen, die mit Gott im Bunde sind, könnten, ja sollten eigentlich den Mist durchschauen. Und klar all die zerstörerischen Verhaltensweisen und Gewohnheiten beim Namen nennen, anstatt sie zu beschönigen oder zu vertuschen. Denn dass es immer irgendwo brennt, haben meistens wir selbst zu verantworten. Und wenn wir Europäer sogar den knappen Weizen zu Sprit verarbeiten, mit dem wir unsere Autos betanken und durch die Gegend heizen, dann brennt der Huat völlig zu Recht.

Der Journalist Bernhard Pötter wunderte sich als Kind darüber, dass die Bauern in Südtirol, wo seine Eltern mit ihm Urlaub machten, um Regen beteten. Er war ja wegen der Sonne gekommen. Aber was heute passiert, ist nicht weniger wunderlich, findet er. Es hat mit einem handfesten Aberglauben zu tun:

»Voller Stolz und emanzipatorischer Kraft ruinieren wir die natürlichen Kreisläufe, in denen wir stecken und von denen Bauern und Indigene noch eine Ahnung haben. Unsere Hybris heißt Hybrid, unser Glaube nennt sich Kredit. Unsere Hoffnung steckt im DAX, unsere Kathedralen stehen in Dubai und unsere Hohepriester tragen Slim-fit-Anzüge. Sie lachen über die Theologie der Jungfrauengeburt oder traditionelle Rituale – und glauben doch selbst an den Götzen des ewigen Wachstums.

Und dann, wenn es schiefgeht (also: genau jetzt), stehen wir oberschlau da und haben auch keine Ahnung, wie es weitergeht. Und wir tun, was wir seit Jahrtausenden tun: auf Regen hoffen. So viel zum Triumph der Aufklärung» 

Bernhard Pötter: „Aufklärung heißt: Da hilft nur hoffen.“ taz vom 24.6.2022, S.9

Es gibt also eine religiöse oder spirituelle Dimension der Klimakrise: Den folgenschweren Glauben an den „Götzen des ewigen Wachstums“. Der hat seine Verehrer in gewisser Hinsicht reich gemacht, aber nun fordert er einen verheerenden Preis dafür ein.

Kann er nicht oder will er nicht?

Mitten in der tödlichen Dürre versuchen die Zeitgenossen des Jeremia, Gott umzustimmen. Schließlich ist er Herr über das Wetter.

Unsre Sünden klagen uns an. Doch um deines Namens willen handle, o Herr! Ja, zahlreich sind unsre Vergehen; gegen dich haben wir gesündigt. Du, Israels Hoffnung, sein Retter zur Zeit der Not, warum bist du wie ein Fremder im Land und wie ein Wanderer, der nur über Nacht einkehrt? Warum bist du wie ein ratloser Mann, wie ein Krieger, der nicht zu siegen vermag? Du bist doch in unsrer Mitte, Herr, und dein Name ist über uns ausgerufen. Verlass uns nicht!

Irgendetwas muss diese Dürre in Juda mit dem Verhalten der Menschen zu tun haben. So viel scheint klar. Doch das Eingeständnis der Schuld bleibt vage: Ja klar haben wir dich vor den Kopf gestoßen Gott. Tut uns leid. Aber jetzt bist Du am Zug. Vergeben ist schließlich dein Beruf. Denk’ an dein Image: Du bist doch unser Nothelfer, Retter, Feuerwehrmann und Sanitäter. Warst du schon immer. Was ist los mir dir? Bist du müde geworden? Hast du das Interesse verloren? Kannst du nicht oder willst du nicht helfen?

Eigentlich möchten sie gern weitermachen wie bisher. Aber Gott hat das ewige Ausputzer-Dasein satt. Dieses ungutes Muster, das sich in die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk eingeschlichen hat, muss unterbrochen werden. Ein ums andere Mal ist sind die Judäer den Götzen der Wohlstandsreligion auf dem Leim gegangen. Schwamm drüber hilft da nicht mehr weiter. Gott sagt zu Jeremia: „Bete nicht um das Wohlergehen dieses Volkes“. Ein neuer Anfang muss her zwischen Gott und den Seinen. Und das bedeutet auch das Ende einer Epoche: Das Königtum, die Dynastie Davids, seine stolze Hauptstadt, der prächtige Tempel sind Geschichte. Sie werden untergehen. 

Wie ist das mit uns? Sollten wir heute in Kirchen, Synagogen und Moscheen für Regen beten? Sollten wir Gott dazu bewegen, wundersam den kosmischen Thermostat herunterzudrehen, damit alles so weitergehen kann – die Profite, das Plündern des Planeten, die Billigflüge fürs Volk und die Privatjets der Eliten?

Auch wir erleben das Ende einer Epoche. Das Erdzeitalter des Holozän geht zu Ende. 12.000 Jahre lang, seit der letzten Eiszeit, hatten wir stabile klimatische Verhältnisse. „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter“ wechseln sich in einem verlässlichen, lebensfördernden Rhythmus ab. So kennt es die biblische Urgeschichte. 

Der große Naturfilmer David Attenborough sagte 2019 beim Weltwirtschaftsforum: „Den Garten Eden gibt es nicht mehr“. Frost und Hitze sind zwar noch da, aber längst nicht mehr, was sie früher einmal waren. Das „ewige Eis“ der Polkappen schmilzt schneller dahin, als die Pessimisten unter den Klimaforschern es erwartet hatten. Die Luftströmungen, die Sonne und Regen im Wechsel brachten, haben sich verschoben. „Richtig Sommer“ und „richtig Winter“ wird es künftig nur vereinzelt geben. Und nicht jede Saat wird eine Ernte erleben.

Das ist auch ein „Erfolg“ unserer Zivilisation: Wir wollten uns von den Launen der Natur unabhängig machen, und das haben wir geschafft. Nun ist die Natur unseren Launen ausgesetzt und sie reagiert immer heftiger auf den Stress. Das „Anthropozän“ hat begonnen, der Mensch hat die Erde aus dem Gleichgewicht gebracht, und es wird viel mehr als Hitzefrei und Blühwiesen vor der Kirche brauchen, um uns an die extremen Bedingungen anzupassen. Eine „unheilbare Wunde“ droht, um es mit Jeremia zu sagen. 

Es sind schon ganze Zivilisationen wegen geringerer Probleme zusammengebrochen. Kurz: Die Klimakrise bedeutet zwar nicht das Ende der Welt, aber möglicherweise der stabilen Welt, die wir kennen. Der Welt, wie sie früher einmal war.

Eine radikale Hoffnung

Der Prophet Jeremia hat sich für seinen Abgesang auf die Zeit der Könige eine Menge gehässiger Kritik anhören müssen. Aber es kam alles so, wie er gesagt hatte. 

Ich kann mir gut vorstellen, dass einige mittlerweile ungeduldig fragen: Wo bleibt in all der Düsternis bloß das Evangelium, die frohe Botschaft? Ist Kirche nicht dazu da, Hoffnung zu verbreiten?

Im Prinzip ja.

Aber…

… manchmal ist eine falsche Hoffnung schlimmer als keine Hoffnung. Und oft führt der Weg zu neuer Hoffnung erst durch die Verzweiflung: Die Verzweiflung des babylonischen Exils, durch die die Zeitgenossen des Jeremia hindurchmüssen. Die Trauer um einen geliebten Menschen. Verzweiflung wegen einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Der Makel des Scheiterns. Oder die Verzweiflung durch die Jesus von Nazareth hindurchgeht im Kreuzestod, im dunklen Grab. Mitten durch die Tragödie, nicht daran vorbei oder leicht und locker darüber hinweg. 

Klimaaktivist:innen haben in den letzten Jahren hitzig darüber debattiert, ob man öffentlich sagen sollte, dass wir die Kurve vielleicht nicht mehr rechtzeitig kriegen und dass die Mehrzahl der Kipppunkte inzwischen schon überschritten sein könnte. Die einen fürchten, dass das auch noch die letzten zarten Bemühungen erstickt, das Schlimmste noch zu verhindern. Andere plädieren für eine „radikale Hoffnung“, die dem Realitätsschock nicht ausweicht. Freilich – die Hoffnung aufzugeben, dass alles wird, „wie es früher einmal war“, erfordert einen inneren Wachstumsschritt. Doch nur so entsteht Raum für neue Hoffnung. Sie lässt sich nicht aus dem brennenden Hut zaubern, sie muss wachsen. 

Genau das erleben Jeremia und sein Volk. Aus dem Königreich Juda wird im babylonischen Exil das Judentum. Eine geistlich und theologisch enorm produktive Zeit beginnt. Schriften werden verfasst und gesammelt, aus denen allmählich die Bibel entsteht. Jüdische Gemeinschaften breiten sich in den folgenden Jahrhunderten über den gesamten Mittelmeerraum und vorderen Orient aus. Sie blühen auf und überstehen neue Wunden. Bis heute. 

Radikale Hoffnung im Anthropozän. Ich suche sie, indem ich mich an Jesus halte, den Gekreuzigten. Dann muss ich die Augen vor dem unvermeidlichen Ende der stabilen Welt nicht mehr verschließen. Und kann meinen Anteil daran anerkennen, egal wie klein oder groß. Vieles wird schwerer werden, manches viel schwerer. Ich kann lernen, mit Gott zusammen zu weinen über die Tragödien, die sich auf der Erde abspielen. Darin ist er mir nahe, genauso wie in den schönen Erfahrungen. Und das Mitempfinden bringt mich in eine tiefere Beziehung zu seiner Schöpfung: Sie ist so viel mehr das Rohstofflager und die Freizeitkulisse, die unsere moderne Welt daraus gemacht hat. Voller lebendiger und fühlender Wesen ist sie – allesamt Leidensgenossen, aber auch Verbündete.

Für Kirchen und Gemeinden könnte es bedeuten, dass wir einander fragen: Was ist uns wirklich wichtig und wie können wir das durch den Umbruch hindurch bewahren? Was müssen wir jetzt aufgeben, damit die Tragödie, die auf uns zukommt, nicht noch größer wird? Welche Fertigkeiten, die wir dann brauchen, haben wir verlernt, und wer bringt uns das wieder bei? Und mit wem sollten wir uns angesichts unserer Sterblichkeit und Endlichkeit aussöhnen und Frieden schließen? 

Hand in Hand bilden wir dann eine Rettungsgasse zwischen der Apathie auf der einen und der Panik auf der anderen Seite. Und die sanfte, schöpferische Hand Gottes ist immer im Spiel. Damit die Dunkelheit nicht das letzte Wort hat.

https://www.br.de/mediathek/podcast/embed?episode=1860272

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Das Glück und die Generationenfrage

In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Klimaschutzgesetz des schwarzroten Bundesregierung für unzureichend erklärt, sondern auch noch deutlich gemacht, dass die Freiheitsrechte der unterschiedlichen Generationen unmittelbar zusammenhängen. Und dass sie auch so behandelt werden müssen, damit unsere Kinder und Kindeskinder nicht die Lasten unserer Untätigkeit und Ignoranz tragen müssen. Was für ein großartiger Erfolg!

Während ich noch rätselte, ob es lustig, peinlich oder einfach nur dreist unverschämt ist, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier auf das Urteil reagierte wie ein Autofahrer, der bei Rot über die Ampel gefahren ist, und nun auf den Polizisten beschwichtigend einredet („Danke, Herr Wachtmeister, das war ein ganz wichtiger Hinweis, sie machen das großartig!“)  stieß ich auf diesen Segenswunsch aus Tobit 9,1:

„Und Gott gebe, dass ihr eure Kinder und eure Kindeskinder seht bis ins dritte und vierte Glied; und eure Nachkommen seien gesegnet vom Gott Israels, der in Ewigkeit herrscht und regiert!“

Die Bibel kennt ja auch die Klage, dass die Väter saure Trauben gegessen und die Kinder stumpfe Zähne bekommen haben. Aber Gott gibt dem Protest gegen die Fahrlässigkeit der Alten Recht: Unsere Freiheit zu konsumieren darf die Freiheit der Kinder und Kindeskinder nicht auffressen.

Photo by Rod Long on Unsplash

Der Homo Oeconomicus hat keine Kinder, nur einen Taschenrechner

Der Satz aus dem Buch Tobit zeigt: Wahres Glück und ein gutes Leben sind für die Menschen der Bibel nicht ohne das Glück der Kinder und Kindeskinder vorstellbar. Eben diese Lebensperspektive über mehrere Generationen erzieht zur Nachhaltigkeit. Der moderne Individualismus hingegen neigt zur Maßlosigkeit und Verschwendung: Der Homo Oeconomicus aus der neoliberalen Theorie hat keine Kinder, nur einen Taschenrechner. Gletscherschmelze, Meeresspiegel interessieren ihn nicht, da fallen aktuell noch keine Kosten an (oder sie lassen sich noch günstig auf die Allgemeinheit abwälzen).

Aber wir sind eben keine homines oeconomici, sondern allesamt jemandes Kinder; und viele von uns sind zugleich Geschwister, Eltern oder Onkels und Tanten. Wir sind Teil der Familie Gottes aus allen Generationen. Sie gehören zu uns und wir zu ihnen, ebenso wie die/der globale Nächste. Es ist keine Sentimentalität, so zu denken und zu reden, sondern schlichter Realismus.

Zugleich, das muss man ja heute extra betonen, sitzen wir wie in Noahs Arche in einem Boot mit allen Lebewesen. Den Bäumen, den Insekten, den Singvögeln, den Geschöpfen der Tiefsee. Es ist zutiefst beunruhigend, zu hören, nur 3% aller Ökosysteme zu Land sind noch intakt.

Sanfter und lauter zugleich

Nun ist es ja keineswegs so, dass meine Generation aus lauter Klimakillern und die meiner Kinder aus lauter Klimaschützern besteht. Das Urteil der vergangenen Woche erinnert uns alle daran, künftig noch sanfter aufzutreten bei Emissionen, und vor allem noch lauter mitreden bei der Transformation hin zu einer solidarischen, nachhaltigen Lebensweise und zur Klimaneutralität.

Denn vor dem Konsens kommt der Konflikt. Auch das hat dieser Streit gezeigt. Er entscheidet sich auf den Straßen, in den Medien, manchmal vor den Gerichten. Und für uns Ende September in den Wahlkabinen.

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Vom Segen der Naivität

Forscher sind der Frage nachgegangen, warum Covid-19 für ältere Menschen so viel gefährlicher ist als für Junge. Das ist für eine Pandemie ungewöhnlich. Ein Erklärungsansatz hat mit dem Immunsystem älterer Menschen zu tun. Das verfügt zwar über ein stattliches Gedächtnis, hat aber eine geringere Kapazität, sich auf ganz neue Bedrohungen einzustellen:

»Im Alter hat man zwar viele T-Gedächtniszellen für bereits durchlebte Infektionen«, sagt Cicin-Sain. »Das Problem ist aber, dass die Zahl der naiven T-Zellen, die etwas Neues erkennen, mit dem Alter klar abnimmt.«

Luka Cicin-Sain, Leiter der Forschungsgruppe Immunalterung und Chronische Infektionen am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig

In dieser Krise entpuppt es sich als Vorteil, über kein Vorwissen und keine Vorerfahrungen zu verfügen und das Neue wirklich als Neues zu erkennen, nicht als Wiederkehr des schon Vertrauen und Bekannten, dem sich mit Business as Usual begegnen ließe.

Wenn Erfahrung nicht mehr ausreicht

An dieser Stelle tun sich Analogien auf: Beim Immunsystem ist diese Veränderung natürlich und altersbedingt. In unseren gesellschaftlichen Institutionen und Prozessen ist sie zwar verständlich, aber eben kein Automatismus. Fehldeutungen entstehen, wenn man Neues durch die Brille dessen betrachtet, was schon mal da war. Eine Pandemie ist zum Beispiel kein Krieg. Sie macht Amtsinhaber in einer Demokratie (oder dem, was mancherorts davon noch übrig ist) nicht zu Oberbefehlshabern, die autoritär durchregieren dürfen.

Photo by Nikita Kachanovsky on Unsplash

In den nicht mehr ganz jungen Kirchen scheint mir ein ähnliches Muster erkennbar. Institutionelle Strukturen und Abläufe (Liturgien etwa) sind so etwas wie geronnene Erfahrung. Manches davon hat sich in früheren Krisen als lebensrettend erwiesen und seither gute Dienste geleistet. Leider funktioniert gerade nur noch ein Bruchteil der Kirche, wie wir sie kennen. Die Frage ist daher, wie viele „naive Zellen“ jetzt noch vorhanden sind und wie die mobilisiert werden:

Wo wird derzeit ganz naiv gefragt und überlegt, was unser Auftrag als Kirche Christi ist? Wie wir ihm mit den Mitteln und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nachkommen? Welche Endeckungen und Lösungen des 16. oder 19. Jahrhunderts heute vielleicht nicht mehr zielführend sind? Und nicht zuletzt: Selbst wenn wir eines schönen Tages uneingeschränkt zum kirchlichen Business as Usual zurückkehren könnten, sollten wir das auch tatsächlich tun?

Denkt noch jemand an Klimaschutz?

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Jüngere Menschen, das berichtete Spiegel Online letzte Woche, halten die Klimakatastrophe für deutlich gravierender als Covid-19. Einerseits nehmen sie die Warnungen und Berechnungen der Klimawissenschaftler ernster als viele aus der Generation der Eltern und Großeltern, weil sie die Folgen der Erdüberhitzung mit voller Wucht abbekommen werden. Andererseits sind sie eben auch „naiv“ genug, diese Krise als etwas völlig Neues zu erkennen. Sie erliegen nicht dem verharmlosenden Irrtum, mit ein paar kosmetischen Korrekturen sei ein Business as Usual doch wieder drin. Freilich gilt:

Klimakrise und Artensterben sind für die Menschheit weit bedrohlicher als eine zusätzliche Viruserkrankung, so bedrohlich und potenziell tödlich diese Erkrankung auch sein mag. […]Jedes weitere Extremwetterereignis, das der Menschheit vor Augen führt, was wirklich los ist, wird diese Konstellation verändern, aber das geht im Augenblick nicht schnell genug.

Christian Stöcker

Vielleicht ist die erste Seligpreisung „Selig sind die Armen im Geist“ ja auch eine Einladung, jung und naiv zu bleiben. Das ist freilich etwas ganz anderes als die Leichtgläubigkeit, mit der viele derzeit auf Gerüchte und Verschwörungstheorien abfahren. Die stellen immer nur rhetorische Fragen, wissen immer schon ganz genau Bescheid und gehen auf immer dieselben Sündenböcke los.

Zugleich besteht in der Corona-Krise auch die Möglichkeit, uns geistig zu verjüngen und für die Klimakrise zu lernen: Die Warnungen der Fachleute ernst zu nehmen. Die Wissenschaftskommunikation zu verbessern. Exponentiale Kurven zu verstehen; ein Bewusstsein für Kippunkte zu entwickeln (ein Kollaps der Intensivmedizin kommt ebensowenig aus heiterem Himmel wie der des polaren Eisschilds). Sich auf Einschnitte beim Wohlstand und Konsumverhalten vorzubereiten. Soziale Folgen dieser Maßnahmen zu bedenken und sie durch aktive Umverteilung abzufedern. Der Wirtschaft klare Vorgaben zu machen, statt sie auf Teufel komm raus zu deregulieren.

Solche Dinge. Diese Mentalität. Um es mit dem grantigen Nobelpreispropheten zu sagen: May you stay forever young.

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Nicht so unerlöst, Kollege!

Neulich hat sich ein Kollege zur Klimakatastrophe geäußert. Die Dramatik ist, wenn man nur einmal die Nachrichten dieser Woche Revue passieren lässt, ja kaum zu überschätzen:

Doch auch und gerade in den Kirchen gibt es Stimmen, die versuchen, jegliche Aufregung darüber zu dämpfen. „Unerlöst“ sei seine Sorge und Niedergeschlagenheit, musste der Kollege sich von einem kirchlichen Medienmenschen anhören.

Ich finde es theologisch wie pastoral unverantwortlich, wie hier oft argumentiert wird. Wenn in der Kirche kein Raum mehr ist, über bestens begründete Ängste und dystopische Zukunftsszenarien zu sprechen, wo denn dann? Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein großer Teil des politischen Spektrums – von den C-Parteien über die FDP bis zur AfD – „mehr Angst vor dem Klimaschutz als vor der Klimakatastrophe hat.“ Da wird auf Teufel komm raus verdrängt, verharmlost und beschwichtigt. Und wo das nicht greift, werden die Mahner als hysterische Spinner, selbstgerechte Fanatiker und wirtschaftspolitische Geisterfahrer hingestellt.

Photo by Markus Spiske on Unsplash

Was da nämlich als „erlöst“ propagiert wird, ist einfach nur die Fortsetzung der Verdrängung mit anderen Mitteln: Religion als Valium fürs Bürgertum. Ist es schlicht Wurstigkeit, oder die Angst vor einer Angst, die sich nicht wegmoderieren lässt? Spricht hier die Aversion der vermeintlich Gemäßigten gegen jede Art von Radikalität? Ist für die noch Platz in einer bürgerlichen Theologie und wohltemperierten Kirchlichkeit, die in der biblischen Apokalyptik und im Alarmismus der Protestbewegungen nur noch Gefahr und Schrecken erkennt?

Theologisch angemessen und pastoral verantwortlich wäre es, sich der Verzweiflung zu stellen und durch sie hindurch zu gehen, statt sie überspringen zu wollen. Wenn Menschen um Verstorbene trauern oder mit einer Depression kämpfen, kann ich ihnen ja auch nicht einfach zurufen, sie sollten doch erlöster aus der Wäsche schauen. Dasselbe Muster finden wir auch in der Tiefenökologie (ich habe hier darüber schon etwas geschrieben): Aktivismus wird nur dann nachhaltig sein können, wenn er dem Leid und der Verzweiflung – der eigenen und der anderer – nicht ausweicht, sondern sie an sich heranlässt.

Es führt also kein direkter Weg von der Verdrängung hin zum inneren Frieden und der Gelassenheit des Glaubens. Es gibt keine Luftbrücke, bei der mich Engel auf Händen tragen würden; bleibt nur der Weg der Konfrontation mit der Realität, vor der wir seit über 40 Jahren kollektiv die Augen verschließen.

Johann Georg Hamann (1730-1788) hat aus eigener Erfahrung heraus gesagt: „Es gibt keine Himmelfahrt der Gotteserkenntnis ohne die Höllen­fahrt der Selbsterkenntnis.“ Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen bedeutet, mich auf diesen Weg einzulassen und alle anderen Sicherheiten und Gewissheiten aufzugeben.

Und falls es jemand lieber sozialwissenschaftlich-säkular möchte: Altmeister Ulrich Beck schrieb in „Die Metamorphose der Welt“ über einen „emanzipatorischen Katastrophismus„, der den entscheidenden Wandel zum Besseren herbeiführt. Über eine Welt, die erkennbar und nachweislich aus dem Gleichgewicht geraten ist, lässt sich nicht mehr ausgewogen im herkömmlichen Sinn reden. Warum also nicht klagen, trauern, protestieren und provozieren?

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Das Gute und die Zeit – Erntedankgedanken

Heute wurde fast überall Erntedank gefeiert. Die Früchte, die wir ernten und von denen wir leben, brauchen neben Wasser, Luft, Sonne und Boden noch eins, um zu Wachsen: Zeit. Im Buch Kohelet heißt es:

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: … eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen.

Von meinem Büro aus kann ich einen Kastanienbaum sehen. Schon vor zwei Wochen standen Kinder darunter und wollten die unreifen Kastanien „ernten“. Weil die aber nicht von selbst herabfielen, warfen sie Stöcke hinaus und rissen Zweige ab – mit bescheidenem Erfolg. Inzwischen fallen die reifen Kastanien ganz von selbst herunter. Die Erfahrung zeigt: Wer keine Zeit zu Warten hat, braucht mehr Energie und bekommt schlechtere Resultate.

Diese Woche berichtete der BR, dass Unterfranken dieses Jahr die kürzeste Weinlese aller Zeiten erlebt hat. Die Winzer stellte das vor große Probleme, sie hatten statt früher sechs bis acht nur noch zwei Wochen Zeit. Die Zeit fehlt. Es hat sich etwas beschleunigt. Oder besser: Wir haben es beschleunigt.

Vor ein paar Wochen sprach ich mit einem alten Bauern, einer vom ganz alten Schlag. Er sagte, das Gras, das er gerade geschnitten hatte, müsse ein paar Tage liegen, bis er es an die Kühe verfüttern kann. Viele Kollegen haben ein Silo, da ist das Gras dann nach 24 Stunden schon „fertig“. Allerdings sind auch die Kühe, die es fressen müssen, auch nach fünfeinhalb Jahren „fertig“, während seine mehr als doppelt so lange leben.

Massentierhaltung, synthetisches Fertigessen, ungesundes Fast Food, das sind nur ein paar Symptome der Beschleunigungsgesellschaft, die nicht mehr warten will, bis die Zeit da ist. Zeit, die Dinge brauchen, um gut zu wachsen. Durch Importe aus fernen Ländern oder vollklimatisierte Aufzucht ist nun das ganze Jahr über Erdbeerzeit (oder auf welches Obst auch immer sonst ich gerade Appetit verspüre). Man könnte freilich auch sagen: Wenn immer Zeit ist für alles, ist keine Zeit mehr für irgendwas.

Photo by Ümit Bulut on Unsplash

Gerade wird wieder über ein Tempolimit auf Autobahnen gestritten, als handele sich es um ein allgemeines Menschenrecht, mit 200 über den Asphalt zu brettern. Aber Zeit ist schließlich Geld, oder?

Doch der Preis, den wir dafür tatsächlich bezahlen (oder den wir anderen aufbürden) ist einfach zu hoch. Beim Energieverbrauch, bei der Reinhaltung des Grundwassers, bei der Qualität und Art des Essens, bei der Mobilität – überall muss sich etwas ändern. Diese Veränderung kostet wieder: Zeit. Und weil wir sie so lange vor uns her geschoben haben, wird es jetzt mehr Zeit kosten, bis wir Gutes ernten:

Eine Zeit, Probleme zu verstehen, und eine Zeit, sie zu lösen,
eine Zeit, Gewohntes zu verlernen, und eine Zeit, uns in Neues einzuüben,
eine Zeit, über Verluste zu trauern, und eine Zeit, sich über Geglücktes zu freuen
eine Zeit, Experimente zu machen, und eine Zeit, ihre Wirkungen auszuwerten
eine Zeit, die Zerstörung zu bekämpfen, und eine Zeit, wieder Hoffnung zu schöpfen.

Lasst uns das Warten auf die rechte Zeit wieder üben. Das ist so ziemlich das einzige, was keinen Aufschub duldet.

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Ein heilsamer Streit?

Vor ein paar Wochen wollte ich eine alte Dame zum 90. Geburtstag besuchen. Ich suchte ihre Telefonnummer heraus und rief an, um einen Termin auszumachen. Kurz darauf klingelte mein Telefon. Die Jubilarin war dran. Ihr Tochter hatte sie gebeten, doch noch einmal zu überprüfen, ob das wirklich der Pfarrer war, der da angerufen hatte. 

Denn es rufen allem möglichen Leute an. Falsche Polizisten zum Beispiel, die vor allem ältere Menschen manipulieren und unter Druck setzen. Kürzlich berichtete die „Süddeutsche“ von einem Fall in Nürnberg, wo jemand schließlich 70.000 € in bar vor die Tür legte, die ein Handlanger der Gaunerbande dann einsackte. 

Zum Glück geben sich die Trickdiebe (noch?) nicht als Pfarrer aus. Aber die Frage bleibt, wie man sich vor solchen gerissenen, skrupellosen Betrügern schützen kann. Im Fall der Polizei ist es einfach: Die echten Beamten rufen nie mit der „110“ im Display an und sie holen nie Geld und Wertsachen ab.

Original oder Fälschung?

Die Frage, ob der „echt“ ist oder ein Betrüger, stellt sich auch im Blick auf Jesus. Die Meinungen der Zeitgenossen gingen erheblich auseinander. Eine Gruppe stand ihm ganz besonders kritisch gegenüber: die Schriftgelehrten. Sie verstanden sich als eine Art Aufsicht in religiösen Fragen – und damals war alles eine religiöse Frage, von den Speisen bis zu den Steuern. Immer wieder verlangten sie von Jesus, sich irgendwie auszuweisen – als einer von ihnen, als rechtgläubig (oder „bibeltreu“), als „echter“ Messias. 

Fakt ist, dass es damals tatsächlich auch „falsche“ Messiasse gab: Judas der Galiläer, Menahem, Theudas zettelten im Namen Gottes Aufstände gegen die Besatzer an. Die Römer schlugen hart zurück. Wie Assad in Syrien, wie das Militär im sudanesischen Khartoum oder die Polizei in Moskau, die kürzlich 400 Demonstranten verhaftete.

Es stand also eine Menge auf dem Spiel. Jesus hat die Anfragen und Zweifel der Schriftgelehrten trotzdem ziemlich ungehalten kommentiert:

Ihr erforscht die Heiligen Schriften, weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu erhalten. Auch die sind meine Zeugen. Aber ihr wollt euch mir nicht anschließen, um das ewige Leben zu erhalten. 
Ich bin nicht darauf aus, dass Menschen mir Herrlichkeit zugestehen. Außerdem habe ich euch durchschaut: Ihr habt keine Liebe zu Gott in euch. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr lehnt mich ab. Wenn aber irgendjemand anderes in seinem eigenen Namen kommt – den nehmt ihr auf. 
Wie könnt ihr denn zum Glauben kommen? Es geht euch doch nur darum, dass einer dem anderen Herrlichkeit zugesteht! Aber nach der Herrlichkeit, die der einzige Gott schenkt, strebt ihr nicht.
Ihr braucht nicht zu denken, dass ich euch vor dem Vater anklagen werde. Es ist vielmehr Mose, der euch anklagt – Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. Denn wenn ihr Mose wirklich glauben würdet, dann würdet ihr auch mir glauben. Denn er weist in der Heiligen Schrift auf mich hin.  Wenn ihr schon seinen Schriften nicht glaubt, wie wollt ihr dann meinen Worten glauben?«

Johannes 5,39-47 (Basisbibel)
unsplash-logoJeremy Lishner

Wie kam das wohl an? Ich stelle mir vor, dass ein paar Tage später ein offener Brief in der Jerusalem Post erschien. So ähnlich könnte er gelautet haben:

Sehr geehrter „Kollege“ Jeschua Ben Josef,

mit Befremden haben wir Ihre jüngsten Anschuldigungen und Unterstellungen aus der Mitschrift eines gewissen Johannes zur Kenntnis genommen. Sie konfrontieren uns darin mit dem schwerwiegenden Vorwurf des Unglaubens und unterstellen uns ein defizitäres Verständnis der Heiligen Schriften. Wir weisen das mit aller Entschiedenheit zurück. Desgleichen weisen wir Ihren Anspruch zurück, über uns Schriftgelehrte ein solches Urteil aussprechen zu können. So lassen wir uns als anerkannte Fachleute nicht abkanzeln.
Ihre eigenwillige Interpretation des göttlichen Willens fällt dadurch auf, dass Sie sich selbst stets in dem Mittelpunkt rücken. Diese Verengung und Personalisierung erscheint uns unangemessen. Niemand kann sich heute ernsthaft mit dem unvergleichlichen Mose auf eine Stufe stellen wollen. Die Dreistigkeit, mit der Sie sich als Sprachrohr Gottes ausgeben, erscheint uns überzogen und hochgradig manipulativ. 
Möglicherweise liegt der Grund dafür in ihrer unzureichenden theologischen Ausbildung: Ihr letzter längerer Aufenthalt im Tempel liegt schon Jahre zurück. Sie waren damals erst Zwölf. Über eine längere Lehrzeit bei einem anerkannten Rabbi ist nichts bekannt. Auch an einschlägigen Auffrischungs- und Fortbildungsmodulen haben Sie nicht teilgenommen. Dabei fanden etliche davon sogar in ihrer galiläischen Heimat statt. 
Um das Gespräch auf einem sachlich angemessenen Niveau zu führen, sind aus unserer Sicht zwei Bedingungen zu erfüllen: Legen Sie erstens einen anerkannten Studienabschluss vor und machen Sie zweitens deutlich, dass Ihre Ausführungen auch nur eine Lehrmeinung unter und neben anderen enthalten. 
Bis dahin bitten wir Sie höflichst, die Fragen nach Gottes Reich in der Welt und der Zukunft der Menschen bewährten und fachkundigen Personen zu überlassen.

Hochachtungsvoll,
die Innung der Schriftgelehrten 

Die Situation erinnert ein bisschen an die unbeholfenen, pikierten Reaktionen aus den Reihen von CDU/CSU auf das Youtube-Video von Rezo: Wer ist der? Darf der sowas sagen? Da könnte ja jeder…! Der soll doch erst mal…!

Wenn Gott seinen Leuten entwischt

Jesus verweist auf die Heiligen Schriften, seine Kritiker auch. Eben dort gibt es allerdings zwei unterschiedliche Traditionen, die in erheblicher Spannung zu einander stehen: Die prophetisch-machtkritische mit dem freien Gott auf der Seite der Leidenden – und die königlich-priesterliche Tradition, die Gott auf der Seite der Hierarchie sieht und ihn schnell mal für die eigenen Interessen vereinnahmt.

Der Konflikt zwischen beiden begegnet uns bei Jeremia, der sich als einzelner Mahner und Warner gegen Macht und Mehrheit stellt. Jeremia prangert in der heutigen Lesung aus dem Ersten Testament trügerische Beschwichtigungen an, die jegliches Umdenken blockieren: Falsche Propheten predigen nichts als Wunschdenken und egozentrische Träume. Das priesterliche Lager verkleidet sich als prophetisch. Gott bleibt weiterhin das Maskottchen eigener Pläne. Mit anderen Worten: Er wird zum Götzen. 

Gott wäre aber nicht Gott, wenn er nicht Wege hätte, diesem Käfig der Monopolisierung zu entkommen. Er ist nicht nur der Nahe, Zahme und Vertraute, sondern manchmal eben auch der Fremde, Ferne und Verstörende. Nun läuft er frei auf der Straße herum und heilt einen Kranken. Wir lesen davon am Beginn des 5. Kapitels des Johannesevangeliums – ich komme gleich darauf zurück. Und er sagt dabei auch noch unpopuläre Sachen.

Profis unter sich?

Wir würden alle gern weitermachen wie bisher: In der Kirche, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Wir tun uns alle schwer, auf Stimmen zu hören, die uns das Gegenteil sagen. Das ist einfach nicht sehr sympathisch. Wir würden uns gern gegen ungebetene Kritik isolieren. Und genau damit laufen wir Gefahr, Gottes aktuelles Reden zu verpassen, wenn wir ihn nur noch drinnen bei uns sehen und nicht mehr draußen bei den anderen.

Wo wir allerdings immer schon „wissen“, dass wir alles richtig machen, hören wir auch nur auf die, die uns das bestätigen. Bei allen anderen suchen wir, auch mit Hilfe der Bibel, nach Fehlern, um ihnen nicht zuhören zu müssen. Und wir bestätigen uns gegenseitig darin, dass wir im Recht sind. Das ist das, was Jesus meint, wenn er sagt, dass da Leute „Ehre von einander“ annehmen. Mit der Zeit wird es in solchen Gruppen, die sich ständig selbst rechtfertigen, undenkbar, noch einen anderen Standpunkt einzunehmen.

Solche Organsationen gibt es ja, in denen ein geschlossener Zirkel alles dominiert und nur seinesgleichen duldet. Aufsichtsräte, Machtkartelle, Seilschaften, und Hierarchien, die sich gegenseitig legitimieren und Störungen verhindern: „Überlasst das den Profis“. Dann reicht zur Beglaubigung auch der eigene Name oder Titel. Den erwirbt man sich durch Anpassung an die etablierte Ordnung. Und man bekommt die Achtung, so lange man nicht aus der Reihe tanzt. Der unvermeidliche Preis: wachsende Betriebsblindheit.

Hierarchien hacken

Der ganze Streit entbrennt, weil Jesus einen Kranken heilt, der keine Chance hatte, den Wettlauf um Heilung am Teich Bethesda zu gewinnen. Wenn sich das Wasser kräuselte, wurde (so sagte man) derjenige von Engelhand geheilt, der als erster im Wasser war. Aber die Schwachen und Langsamen, die besonders Bedürftigen also, hatten keine Chance. Was für eine Ungerechtigkeit! Und da soll Gott dahinter stecken?

Jesus ignoriert die Hausordnung an diesem heiligen Ort einfach. Er hilft dem Kranken nicht ins Wasser, sondern heilt ihn vom Fleck weg: „Nimm deine Matte und geh!“ Und dann trägt der Mann seine Matte nach Hause – freilich am Sabbat. In den Augen der Glaubenswächter ist das verbotene Arbeit. Und Jesus der Anstifter zum Gesetzesbruch. Wer sowas tut, kann auf gar keinen Fall ein Prophet sein…

Original oder Fälschung? Biblische Kriterien in der Frage, wo Gott am Werk ist, wären, wie die Heilung am Teich Bethesda zeigt, zum Beispiel solche eminent theologischen Fragen:

  • Wo regt sich neues Leben?
  • Wo kommen Menschen wieder auf die Beine?
  • Wo stehen sie auf für Veränderung?
  • Wo wird Ausweglosigkeit, Abstumpfung und Resignation überwunden?
  • Was bringt Menschen zum Staunen, Jubeln und Danken?

Der Evangelist Johannes zeichnet Jesus schon im Licht der Auferstehung. Nirgendwo zeigt sich deutlicher als an Ostern, dass Gott sich zu hundert Prozent zu Jesus stellt. Aber diese enge Verbindung blitzt schon vorösterlich immer wieder einmal auf. Insofern sehen wir nachösterlichen Betrachter leichter als die Schriftgelehrten damals, was jene übersehen. Wenn es nämlich Gott ist, der da mit und durch Jesus handelt, dann darf er auch die Regeln verändern. Zumal menschliche Regeln wie die Ausführungsbestimmungen zum Sabbat. Oder Kirchenordnungen, die sich überlebt haben. Oder die traditionellen Geschlechterverhältnisse. Oder Dogmatismus und Kontrollbedürfnisse.

Neu sehen lernen

Die Schriftgelehrten in dieser Episode sind nicht mehr empfänglich für andere Sichtweisen. Die Botschaft Jesu prallt förmlich an ihnen ab. Das ist weniger ein theologisches als vielmehr ein spirituelles Problem.

Rowan Williams, der frühere Erzbischof von Canterbury, sagte jüngst: „Unser Problem ist, dass wir in einem gesellschaftlichen und kulturellem Umfeld leben, in dem ein falsches Verhältnis zur Wirklichkeit systematisch verbreitet und belohnt wird. Am extremsten ist das Ausmaß dieser Verleugnung der Realität da, wo wir uns weigern, uns der Krise unserer Umwelt zu stellen.“  Und er fährt fort:

Spirituelles Wohlbefinden dreht sich, wie andere Arten von Gesundheit, um lebensfördernde Beziehungen (…) Spirituelles Wohlbefinden hat damit zu tun, jene Kontexte zu finden, jene Disziplinen, die in der Lage sind, es mit den Phantasien und Mythen aufzunehmen, die uns aufgedrückt werden. (…) Das geistliche Leben hat mit einem Bildersturm zu tun – darauf zu achten, dass wir unseren Phantasien gegenüber kritisch bleiben, damit unser Sehen letztlich frei bleibt von Zwang, Machthunger oder Gier.

Rowan Williams

Immer wieder machen uns Menschen auf diese Verleugnung der Wirklichkeit und unsere persönliche wie gemeinschaftliche Verantwortung aufmerksam. Letzte Woche hat der Kirchentag erneut eindringlich an die Krise der Seenotrettung im Mittelmeer erinnert. Gleich um die Ecke in Aachen haben „Fridays For Future“ und „Ende Gelände“ zusammen demonstriert. Da ist einerseits Hartnäckigkeit gefragt, andererseits reagieren viele erst einmal ärgerlich und genervt. Sind das Feinde der hergebrachten Ordnung, wie manche behaupten? Oder Vorboten einer anderen, menschenfreundlichen Ordnung? 

Auf welcher Seite würde der Jesus vom Teich Bethesda wohl stehen? Diese Frage zu beantworten heißt freilich, sich im nächsten Schritt zu fragen: Und wo stehe ich? Wo stehen wir? Wie halten wir einander diesen Raum des Umdenkens und der Neuorientierung offen, den Jesus in diese Welt gebracht hat?

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Der Staub an den Füßen

Es gibt theologische (und andere) Debatten, bei denen man sich verkämpfen kann. Ob es der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt ist oder der (öffentlich sanfter formulierter, hinter verschlossenen Türen häufig unverblümte) Ausschluss gleichgeschlechtlich Liebender, es haben sich vielfach Fronten gebildet, die einen hohen Grad von Verhärtung aufweisen. Dass die theologische Auseinandersetzung dann zuweilen auch noch über Facebook und Twitter stattfindet, macht es nicht einfacher. Man beißt auf Granit. Wie Flüchtlingshelfer oder Fahrradfahrer in der CSU.

Hier und da sind Menschen, die ich kenne und schätze, in solche Konflikte verstrickt. Sie möchten ihre kirchliche Heimat nicht verlieren, aber sie finden kein Gehör, erst recht keine Zustimmung, bei den Entscheidungsträgern. In der „Eule“ hat Thomas Wystrach kürzlich die Spannung aufgegriffen, in der sich die Bewegung Maria 2.0 befindet. Er zitiert darin einen Satz, der sich mit meinen Empfindungen deckt:

Warum bist du noch dabei, werde ich immer häufiger gefragt. Ich stammle dann etwas von Nostalgie und Biografie. Aber eigentlich denke ich ganz böse: Wir Geduldigen sind Komplizen. 

aus einem Blogpost von Christiane Florin

Taktische Selbstkritik

Ich bin kein katholischer Insider und ich möchte auch kein Zyniker sein. Aber die Aussichten, innerhalb dieser und/oder der nächsten Generation die Dominanz der Männer in den Ämtern der Weltkirche aufzubrechen, erscheinen mir herzlich gering. Immer wieder mal wird sich ein anderes Mitglied der deutschen Bischofskonferenz vor ein Mikrofon stellen und sagen, dass er Priesterinnen nicht für unvorstellbar hält, während seine Kollegen in Rom oder Regensburg business as usual machen. Etwa, indem sie im nächsten Atemzug gemeinsam alte Karikaturen und Vorurteile über Genderforschung verbreiten.

Oder jemand aus dem Hauptvorstand der Evangelischen Allianz (ähnlich wie die Bischofskonferenz ein Gremium, das nicht durch Wahlen von der Basis, sondern Berufung von oben bzw. von innen heraus konstituiert wird) sagt etwas Nachdenklich-Selbstkritisches über Homophobie. Laut genug, um den loyalen Dissident*innen einen Funken Hoffnung zu geben, leise genug, um das System nicht in Aufruhr zu versetzen. Das Beschwichtigungsritual ist erprobt und bewährt.

Was könnte man mit der Energie, die da seit vielen Jahren schon verloren geht, nicht alles positiv bewegen? Gerade wenn man Kirche von ihrer Sendung her denkt, kann man sich mit diesen Selbstblockaden schwerlich abfinden. Jesus weist seine Jünger an, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie mit ihrer Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft in der Dorfgemeinschaft auf taube Ohren stoßen. Eine radikale, schroffe Geste.

unsplash-logoBen White

Wenn Weitergehen nicht reicht

Aber sie deutet etwas Wichtiges an. Weitergehen alleine reicht nämlich nicht, wenn ich dabei die alten Frontstellungen verinnerliche und mitnehme. Auch nicht in der treuen oder reflexhaften Negation – wie Jan Fleischhauers Abschiedsworte auf Spiegel Online diese Woche schön zeigen:

Mir bleibt einstweilen nur, mich bei meinen Lesern zu bedanken: bei denen, die mich geschätzt haben, und bei denen, die mich hassten. Sie haben mir über all die Jahre die Treue gehalten.

Jan Fleischhauer

Der „Shitstorm“ gehört bei ihm ja zum Geschäftsmodell. Er dient als Beweis der Ignoranz und Intoleranz seiner Kritiker. Daher zählt Fleischhauer auch genüsslich die Millionen Klicks auf, die seine Beiträge erzielten. Man kann ihn lesen und sich verstanden fühlen oder sich ärgern. Brücken der Verständigung, Bewegung im Diskurs entstehen dabei allerdings kaum. Es geht nicht genug weiter. Die Blockade bleibt – im Kopf.

Gesucht: fruchtbare statt furchtbare Debatten

Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade „Digital Minimalism“ von Cal Newport lese: Solche Debatten mit hohem Erregungsgrad haben ein gewisses Suchtpotenzial. Man kann auch als Repräsentant der Minderheitenmeinung eine Menge Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen. Fleischhauer zeigte das bisher als Konservativer im Spiegel-Milieu, andere eben vor dem Hintergrund des römischen Klerikalismus oder im Lager der „Evangelikaner“ (um mal eine ausgesprochen passende Wortschöpfung des ZDF zu verwenden).

Vor einiger Zeit rief mich ein Redakteur eines stramm konservativ christlichen Blattes an und schlug mir vor, meine Position zu einer damals gerade aktuellen Kontroverse dort darzulegen. Ich entschied mich dagegen. Weder wollte ich als liberales Feigenblatt fungieren, noch anderen einen Anlass geben, ihre ewig gleichen Gegenpositionen erneut breitzutreten. Ich war an einen Punkt gekommen, wo ich meine Energie und Lebenszeit nicht mehr in solche Debatten mit hoher Aussicht auf Erregung, aber geringer Aussicht auf Ertrag investieren wollte. Es war eine gute Entscheidung. Als ich vor ein paar Wochen Frank Rieger auf der re;publica über Fragen von Desinformation und Cyberwar zuhörte, blieb mir diese Schlussfolgerung im Gedächtnis: „Vielleicht liegt die Zukunft in (halb)geschlossenen Benutzergruppen mit freundlichen, vertrauenswürdigen Menschen“. Andere Baustelle, ähnliche Strategie.

Weniger Erregung und Kontroverse bedeutet auch erst einmal weniger Aufmerksamkeit und Dringlichkeit. Auch das kann ein Grund sein, mich aus solchen Debatten nicht zu verabschieden und wenn schon nicht Menschen, dann doch Prämissen und Positionen die Treue zu halten, die ich ablehne.

Noch eine Analogie: In der hitzigen Phase der Flüchtlingsdebatte habe ich einige CSU-Mitglieder erlebt, die unter großen inneren Schmerzen aus ihrer Partei ausgetreten sind, weil ihnen ihre christliche Überzeugung wichtiger war. Auch sie haben ein Stück Heimat aufgegeben. Dabei hätte das Konzept „Bleiben und Verändern“ in einer demokratisch strukturierten Partei ja noch eher Aussicht auf Erfolg als in jenen kirchlichen Institutionen, die von weitgehend geschlossenen Zirkeln geführt werden. Ich fand es trotzdem richtig und konsequent. Und wenn Markus Söder momentan spürbar milder daherkommt als noch vor Monaten, dann liegt das auch am Mut dieser Ehemaligen.

Hier kommt die Frage:

Ist am Ende nicht das Bleiben, sondern das Verlassen der Schritt, der nicht nur den eigenen Seelenfrieden rettet, sondern auch den entscheidenden Impuls zum Wandel der Institution setzt? Also nicht nur ein Akt der Selbstfürsorge, sondern auch der Nächstenliebe? Wir kommen ja alle aus einer spirituellen Tradition, die mit dem Ruf beginnt, die Heimat zu verlassen und dem unsichtbaren Gott zu folgen. Die Frage sollte, biblisch gesprochen nicht sein, mit wem ich die Vergangenheit geteilt habe. Sondern mit wem ich die Zukunft teilen will.

Wann dieser Punkt erreicht ist, das kann nur jede(r) selbst entscheiden. Thomas Wystrach gehört seit 2009 der altkatholischen Kirche an. Er beschreibt das Dilemma derer, die in der katholischen Kirche etwas verändern wollen, mehr als er es kommentiert.

Ich habe hier vor vier Jahren einen Abschiedsgruß an die evangelikale Bewegung geschrieben, in der ich eine Weile zu Gast war. Freundliche Kontakte gibt es nach wie vor, aber im Moment kann ich mir eine Mitarbeit in der Evangelischen Allianz nicht vorstellen. Und am postevangelikalen Gespräch habe ich auch nicht mehr groß teilgenommen. Das hat Disziplin gekostet. Aber wenn man sich auf Fragestellungen wie „Erlaubt die Bibel homosexuelle Beziehungen?“ einlässt, hat man schon verloren. Die Frage ist nicht, was die Bibel „erlaubt“, sondern wie wir heute mit der geschlechtlichen Vielfalt unter uns umgehen und wer dabei über wen bestimmen darf. Dazu würde ich dann auch gern wieder die Bibel ins Spiel bringen.

Die Kirche, in der ich arbeite, hat ihre Schwächen und Fehler. Außer dem faktisch sakrosankten Kirchsteuer- und Beamtenwesen (schade, aber verschmerzbar) gibt es freilich kaum Tabus. Dafür einen halbwegs anständigen Binnenpluralismus. Sie hat eine synodale, demokratisch legitimierte Struktur. Und sie hat sich mit einer recht unabhängigen wissenschaftlichen Theologie genug Läuse in den Pelz gesetzt, um nicht intellektuell träge und selbstzufrieden zu werden. Das sind für mich ausreichende Voraussetzungen für eine Beheimatung.

Keine Zeit mehr zu verschenken

Wir stehen gerade vor gewaltigen Aufgaben. Wenige Jahre bleiben uns noch, unsere Gesellschaften so umzubauen, um der ganz großen Klimakatastrophe zu entgehen. Die Welt gerät an so vielen Stellen aus den Fugen – politisch, sozial, religiös. Was tragen wir Christen zur Lösung dieser Fragen bei? Möchte ich da meine Zeit mit Leuten verplempern, die immer noch meinen, das Höllenfeuer sei schlimmer? Oder die auf dem Islam herumhacken? Die das Patriarchat als Gottes unumstößlichen Schöpferwillen ausgeben? Mit denen werde ich hin und wieder reden, aber nicht auf ihrem Turf und nicht zu ihren Prämissen.

Diesen Staub kann ich an meinen Füßen gerade nicht brauchen.

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Wenn die Zukunft dir abhanden kommt

In der CDU wird gerade mächtig über die Zukunft gestritten. Das ist ja kein völlig anderes Milieu als das der großen Kirchen, und es scheint etliche Parallelen zwischen Volksparteien und Volkskirchen zu geben.

Tobias Hans, Ministerpräsident des Saarlandes, wird aktuell mit folgender Erkenntnis zitiert: „In den vergangenen Jahren sind wir dem Trugschluss aufgesessen, dass Jugendliche mit fortschreitendem Alter von alleine zu den Volksparteien kommen. Das ist fatal.“

Der Satz kam mir so bekannt vor, weil er in kirchlichen Diskussionen auch immer wieder als Placebo auftaucht. Kirchen schwinden, so heißt es dann, aufgrund stabiler soziologischer Gesetzmäßigkeiten, nicht etwa weil sie selbstgenügsam und oft ein bisschen träge den Wandel verschlafen. Und dieselben Gesetzmäßigkeiten würden die Kirchen danna auch wieder irgendwie vor der Bedeutungslosigkeit retten. Auf jeden Fall sei Alarmismus unangebracht.

Und klar, natürlich ist nicht jede Kritik intelligent und informiert und längst nicht jeder Lösungsvorschlag innovativ. Aber soll man deshalb die Kirche den Fachleuten überlassen?

unsplash-logoBayarkhuu Battulga

Ein paar Episoden aus der vergangenen Woche fallen mir ein: Der Jugendreferent, der von einer schon etwas zurückliegenden Synode erzählt, auf der der Traditionsabbruch schöngeredet wurde und die eingeladenen Fachleute den versammelten Funktionären bestätigten, dass es ja um Qualität gehe, nicht um Quantität, und dass die Qualität ja auch vorhanden sei.

Ein paar Stunden später sitze ich mit einer Neunzigjährigen beim Tee. Sie erzählt ihr Leben mit einer ganzen Serie von Schicksalsschlägen. Mit leuchtenden Augen sagt sie, wie ihr das Gebet und ihr Glaube immer wichtiger wurden. Und zugleich sagt sie: „Ich bin keine Kirchgängerin.“ Bei uns hat sie nichts gefunden, was ihr hilft und was sie hält.

Schön, könnte ich jetzt sagen, sie kommt ja auch so klar. Aber nur einen Tag später fragt eine Konfirmandenmutter beim Elternabend, ob die Gottesdienste nicht etwas interessanter sein könnten für die Altersgruppe. Und es ist deutlich herauszuhören, dass auch die Eltern der Konfirmanden unsere Liturgie und Liedgut schon nicht mehr so richtig prickelnd finden.

Ich hätte jetzt abwiegeln können – wie die CDU oder die Referenten auf der Synode, von der ich gehört hatte. Aber ich fand es ehrlicher und sinnvoller, der Mutter Recht zu geben und offen einzuräumen, dass wir noch längst nicht alle Mittel und Ideen ausgeschöpft haben, um Gottesdienst- und Aktionsformen zu finden, die mehr als nur einem kleinen Segment der Menschen im Stadtteil gerecht werden.

Egal, was man von der CDU hält: Dieser Auflösungsprozess, das plötzliche Sichtbarwerden der schleichenden Entfremdung und die Hilflosigkeit der Akteure angesichts derselben, gibt zu denken. Kein Grund zur Panik, gewiss. Aber erst recht kein Grund, sich nochmal eine Runde Sand in die Augen zu streuen. Wenn sie nichts mehr von uns erwarten, werden sie auch nicht mehr zurückkommen.

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Von Hirten und Sammlern

Den kommenden Sonntag prägt Kernmotiv der Jesustradition: Der gute Hirte. Ausflüge in die Kunstgeschichte und Ikonographie bieten sich an, wie auch alle möglichen Idealisierungen (etwa: Jesus bzw. kirchliche Amtsträger als empathische Seelsorger). Oder deren Dekonstruktion: Die zeigt dann auf, was für einen gänzlich unromantischen Knochenjob Hirten haben und was für rabiate Wesen Schafe sein können. So wie in diesem ausgesprochen krassen Beispiel:

Bei johanneischen Texten stellt sich die Frage, welche Entsprechungen sie in den synoptischen Evangelien haben. Zwei davon haben mich die letzten Wochen über beschäftigt. Sie sind etwas weniger offensichtlich als das bekannte Gleichnis vom verlorenen Schaf oder die Klage über die Schafe ohne Hirten vor der Aussendungsrede. Aber ich denke, sie sind nicht weniger bedeutsam.

Der Name Gottes und die Sammlung Israels

Ich beginne wir mit der ersten Bitte des Vaterunsers: „Geheiligt werde dein Name“. Woran hängt die Integrität des Namens Gottes? Brauchen wir strafbewehrte Blasphemieparagraphen, die seinen Verächtern das Lästern verbieten? Tanzverbote an Karfreitag oder Allerheiligen? Oder geht es um die Gedankenlosen, denen der Ausruf »Oh mein Gott« allenfalls beim Anblick eines XXL-Eisbechers über die Lippen kommt?

In der Bibel macht sich Gott einen Namen, indem er ein unterdrücktes Volk aus der Sklaverei führt. Die Offenbarung seines Namens ist die Antwort auf das Klagen und Stöhnen der Israeliten, das schon gar keinen konkreten Adressaten mehr kennt. Israels Gott setzt mit seinem Eingreifen ein Zeichen in der Welt der Ausbeuter und Unterdrücker. Und als sein Volk bei der erstbesten Gelegenheit den eben geschlossenen Bund bricht, erinnert Mose Gott an die Zusage, die er den Vätern »bei seinem Namen« gegeben hat (Ex 32,13). Würde Gott sich zurückziehen, hätten die Pharaos dieser Welt gewonnen und jeder Widerspruch (geschweige denn Widerstand) wäre verstummt.

Die großen Bußgebete der Exilszeit in Nehemia 9 und Daniel 9 schlagen ähnliche Töne an: »Herr, vernimm das Gebet und handle! Mein Gott, auch um deiner selbst willen zögere nicht! Dein Name ist doch über deiner Stadt und deinem Volk ausgerufen.« (Dan 9,19). Gerhard Lohfink hat daraus den Schluss gezogen, dass es bei der Bitte um Heiligung des Namens um die Sammlung des zerstreuten und verirrten Gottesvolkes geht. In Ezechiel 36,22-24 erscheint das im Zusammenhang mit der Bundeserneuerung, in Ez 20,41.44 heißt es kurz und bündig:

Wenn ich euch aus den Völkern herausführe und aus den Ländern sammle, in die ihr zerstreut seid, werde ich mich vor den Augen der Völker an euch als heilig erweisen. (…) Ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin, wenn ich um meines Namens willen so an euch handle.

Wer nicht sammelt, zerstreut

Die messianische Sammlung des Volkes Gottes und das Kommen des Reiches Gottes sind bei Jesus nicht voneinander zu trennen. Das bringt mich zum zweiten Text, der für mich zum Umfeld des guten Hirten gehört. In Mt 12,30 sagt Jesus recht schroff: »Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut«. Das war die Anklage des Ezechiel gegen die schlechten Hirten, dass sie nicht auf die Herde achten, sondern auf sich selbst und ihre Bedürfnisse fixiert sind. Wenn Jesus schließlich für seine und seiner Nachfolger Sendung das Bild der Ernte verwendet, geht es auch da um eine Sammlung, nicht nur um eine Aussaat (die Bitte um Arbeiter in der Ernte ist in Mt 9,36-38 mit dem Verweis auf die „Schafe ohne Hirten“ verbunden). Zweifellos geht Jesus dabei sehr unorthodox vor – so hatten das die wenigsten Zeitgenossen erwartet.

Aber die Transformation der Macht- und Lebensverhältnisse in der Welt geht – äußerlich wie innerlich, geistig wie praktisch – nicht ohne eine gemeinschaftliche Anstrengung, nicht ohne eine dazugehörige Bewegung, die sich bewusst als solche versteht und die sich am Handeln Gottes orientiert. Es geht, um das gleich dazu zu sagen, allerdings sehr wohl ohne Hierarchien und mit einem geringeren Grad von Institutionalisierung als in manchen Kirchentümern heute.

Damit Gottes Wille geschieht (um gleich noch die dritte Bitte ins Spiel zu bringen), müssen also Menschen vorhanden sein, die ihn aus freien Stücken, bewusst und planvoll tun. Das können wir nicht, wie im neoliberalen Zeitalter üblich, ausschließlich den einzelnen aufbürden und es damit ins Private und Individuelle (praktisch heißt das oft auch: ins Beliebige) verlagern. Sprich: Wir können uns mit der Vereinzelung das Glaubens nicht abfinden oder sie zum neuen Ideal erheben.

Sammeln – zwischen Uniformierung und Individualisierung

Nun haben bestimmte Formen der Versammlung an Ausstrahlung und Bindungskraft verloren. In den evangelischen Kirchen ist das vor allem der traditionelle Sonntagsgottesdienst. Ich habe dazu letzte Woche ein paar Gedanken und Beobachtungen gepostet. Zugleich habe ich die Diskussion um das neue Buch von Erik Flügge verfolgt. Der legte uns Protestanten nahe, das Thema gottesdienstliche Versammlung mehr oder weniger abzuhaken. Aus Mangel an Beteiligung, wie er deutlich macht. Im DLF-Streitgepräch hielt Reinhardt Mawick dagegen. Er verteidigt den Wert des Gottesdienstes, relativiert die schlechten Zahlen zum Gottesdienstbesuch und verweist auf die Bedeutung von Kasualgottesdiensten, Kirchenmusik und Kirchenräumen. Der Kommunikationsberater Flügge regt an, den Zusammenhalt und die Orientierung der evangelischer Kirchenmitglieder über prominente, medial präsente Identifikationsfiguren (»Star-Christen« quasi, oder eben Influencer und Follower) neu organisieren.

Ist das noch genug Sammlung oder schon die Kapitulation vor der spätmodernen Vereinzelung? Belebt Flügge gar den alten kulturprotestantisch-liberalen Traum aus dem 19. Jahrhundert wieder: Die Vorstellung, die Kirche würde die Gesellschaft so weit verbessern, bis sie in ihr (als einem säkularen Gottesreich) aufgeht? Und wenn er das doch nicht will, wie bleibt die kritische Kraft des Glaubens auf Dauer lebendig, wenn sich jegliches konkrete Miteinander auflöst?

Auch eine kleine Herde kann viel Kraft kosten…
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Nicht Sammeln ist keine Lösung

Kirche im Sinne Jesu, da sind sich viele einig, ist berufen »Kontrastgesellschaft« zu sein. Als solche ist sie nicht ohne Begegnung, Zusammenhalt und Kooperation zu denken. Die Formen, in denen das gelebt wird, wandeln sich. Die Lebensstile differenzieren sich aus, die Lebensrhythmen haben sich gewandelt. Digitale Kommunikation ist nicht mehr wegzudenken – auch wenn nicht jede(r) davon Gebrauch macht. Dass profilierte „Events“ wichtig sind, hat sich auch herumgesprochen (und wer am Karfreitag bei Gott im Berg war, konnte sich davon überzeugen).

Es wäre einfach zu billig, sich unter Berufung auf die veränderten Verhältnisse von der Aufgabe des Sammelns zu verabschieden. Schon das Nichtsammeln leistet der Auflösung Vorschub. Freilich haben wir in den verfassten Kirchen vielfach verlernt, Bewegung zu sein und Menschen zu einer Bewegung zu sammeln. Stattdessen haben wir uns darauf verlassen, dass unsere institutionellen Strukturen (bzw. deren Reste) noch tragfähig genug sind, und die meiste Kraft in deren Erhaltung investiert, statt uns auf Veränderung und Neues einzustellen. Darauf (auf das Konventionelle und Institutionelle) scheint mir auch die Argumentationslinie von Marwick abzuzielen, wenn er sakrale Handlungen, Räume und Musik hervorhebt: Da kommen die Menschen noch zur Kirche und ersparen es der Kirche, sich auf den Weg in fremdes, ungesichertes Terrain zu machen.

Andere Anforderungen

Indes – Sammeln zur Bewegung, so wie Jesus das getan hat, das stellt andere Anforderungen an die Hirten von heute. Im Blick auf Gott ist Sammeln Chefsache, das lässt er sich nicht nehmen. Unter den Gliedern der Gemeinde gibt es unterschiedliche pastorale (also „hirtliche“) Rollen und Funktionen. Sie können das göttliche Sammeln nur im konstruktiven Zusammenwirken abbilden. Da kann es also nicht darum gehen, es „den Profis zu überlassen“ – Klerikalismus heißt dieses Problem im kirchlichen Kontext. Die Aufgabe der Hauptamtlichen wäre es allenfalls, so viel Beteiligung zu ermöglichen, wie es nur geht. Und dabei selbst aus dem Weg zu gehen, um Horizonte offen zu halten und Zugänge zu markieren. Innerhalb der Kirche eine Unterscheidung zwischen „Hirten“ auf der einen und „Schafen“ auf der anderen Seite zu pflegen, ist nicht besonders zielführend.

Das macht den guten Hirten aus, dass er sich selbst zurücknimmt. Dass er sich nicht über andere erhebt oder mit anderen konkurriert. Jede(r) von uns kann sich mal (ver)irren. Was für ein Glück, wenn dann andere da sind, die uns helfen, den Anschluss an den einen, guten Hirten wieder zu finden.

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Wie lange dauert Veränderung?

Die Tage saß ich mit Leuten zusammen, die in unserer Region „andere“ Gottesdienste machen. Also nicht traditionell (in Bayern: G1) und auch nicht im Lobpreis/Predigt Schema (das erschien den Anwesenden als „freikirchlich“). Manche sind ganz neu gestartet, an anderen Stellen gibt es das schon fast 30 Jahre. Es war ein reger Austausch und irgendwann stellten wir fest, dass seit ein paar Jahren die wertende Unterscheidung zwischen „Hauptgottesdienst“ und „zweitem Programm“ endlich flächendeckend vom Tisch ist.

unsplash-logoNicole Harrington

Ich erinnere mich noch gut daran, dass das vor 30 Jahren (als die ersten von uns anfingen) noch ganz anders aussah. Da wurde jedem, der etwas anderes wollte, Hochmut unterstellt: Wer etwas Neues möchte, dem sei das Herkömmliche ja wohl nicht gut genug – und so weiter. Man brauchte schon ein dickes Fell, um das an sich abtropfen zu lassen, zumal der Vorwurfauf dem Fuß folgte, das würde die Einheit der Kirche beschädigen.

Die gute Nachricht lautet also: Nach drei Jahrzehnten ist der Kulturkampf darüber, wie viel liturgische und stilistische Unterschiedlichkeit wir uns gönnen, halbwegs abgeschlossen. Die Einheit hängt nicht an der Uniformierung.

Dreißig Jahre sind andererseits fast ein komplettes Berufsleben. Alle, die sich heute mit Zukunftsfragen von Kirche befassen – andere Gemeindeformen, Digitalisierung, Christen als soziokulturelle Minderheit – werden wohl einen langen Atem brauchen. Mit ein bisschen Glück dauert es ja vielleicht nur 20, 25 Jahre.

So gesehen ist es sicher kein Zufall, dass Geduld und Beharrlichkeit prominente biblische Tugenden sind.

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Hoffnung kann auch graue Haare tragen

Vor 20 Jahren oder etwas mehr bekam ich eine Einladung in eine Gruppe älterer Damen, die allesamt traditionell kirchlich waren. Das einzige, woran ich mich aus dem Gespräch noch erinnere, war der große Kummer in der Runde, dass wir Jungen die wunderbaren Lieder von Paul Gerhardt verschmähten und lieber irgendetwas Neueres sangen. Er schien die Freude darüber in den Schatten zu stellen, dass junge Menschen Gottesdienste feiern und sich für den überlieferten Glauben begeistern.

Kürzlich wurde ich wieder eingeladen, freilich nicht in dieselbe Gruppe, doch die Altersstruktur war vergleichbar. In dieser Runde traf ich auf ein bemerkenswertes Interesse an neuen Formen von Gottesdienst und Gemeindeleben. In einer Welt, die sich so tiefgreifend verändert hat, fanden einige, hinke die Kirche doch ganz schön hinterher. Und als ich einwarf, dass manche Leute sich wünschen, dass alles in der Kirche so bleibt wie immer (weil ja alles andere nicht mehr ist, wie es immer war), war die Reaktion ein energisches Kopfschütteln.

Die Sache mit den Paul-Gerhardt-Liedern lässt sich mit dem Begriff „Minimalskandal“ aus Nils Minkmars heutigem Kommentar im Spiegel ganz treffend beschreiben. Dahinter, diagnostiziert Minkmar, verbirgt sich eine schwache Identität. Im Blick auf die Politik hierzulande notiert er: »Manchmal konnte man den Eindruck haben, dass die ganze Republik zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte, so veränderungsphobisch gaben sich Politik und Öffentlichkeit in diesem Jahrhundert.« Es gibt auch kirchliche Verlautbarungen, die exakt so gestrickt sind.

unsplash-logoRoman Kraft

Mit diesem Ansatz, das hat mich der Abend mit der Frauengruppe gelehrt, kann man nicht mal mehr Seniorinnen hinter dem Ofen vorlocken. Die Frage nach neuen Formen von Gottesdienst und kirchlichem Leben ist immer auch eine Frage nach der Identität, die, öfter als wir es uns eingestehen, an Musikstile, liturgische Traditionen und Gewänder, sakrale Gebäude und institutionelle Ordnungen gekoppelt ist. Um Minkmar noch einmal für den Bereich der Politiker und Parteien zu zitieren: »…augenblicklich steht zu befürchten, dass sie die [Identität] in ihrer Vergangenheit suchen, in Kruzifix-Aktionen und Sozialpolitik statt, wie es Willy Brandt so meisterlich sagte, „auf der Höhe der Zeit“ zu sein.« Da hätten die Ladies zustimmend genickt, das kennen sie von Kirchens auch. Und an ihren Kindern und Enkeln sehen sie, was es bewirkt hat.

Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich in den letzten Jahren zu hören bekam, dass Veränderungen in den Kirchen nach Möglichkeit zu vermeiden seien, um die Älteren nicht zu irritieren. Die Hürden, die man den Jüngeren damit in den Weg stellt, wurden dagegen nur selten thematisiert, oft beschränkt auf Fachtagungen zum Thema Jugendarbeit und andere Nischen. Aber es geht längst nicht mehr um einzelne Generationen, sondern ums Ganze.

Bruno Latour hat in „Jubilieren“ den ebenso schönen wie provozierenden Gedanken zum Umgang mit religiösen Traditionen im Spiel von Wiederholung und Abwandlung formuliert: » … es geht nicht darum, einen Schatz unbeschädigt durch die Zeit zu transportieren, sondern die Truhen zu füllen, um sie erneut insgesamt – banco! – aufs Spiel zu setzen.«

Dass Großmütter (sie waren es zumindest mehrheitlich…) damit kein Problem haben, ist für mich ein Zeichen der Hoffnung. Jede Gemeinde braucht solche Stimmen!

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Jesus und der Spätbucherbonus

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg brachte mich gestern zum längeren Nachdenken. Worum geht es da eigentlich? Gleicher Lohn für gleiche Leistung ist ja auch heute ein Thema, das völlig zu Recht für Diskussionen sorgt. Das wäre trotzdem eine eher vordergründige Betrachtungsweise.

Ich habe mich gefragt, was das Gleichnis für den Gemeindeaufbau bedeutet. Da ist es ja oft genug so, dass die Arbeiter der ersten Stunde alle Schlüsselpositionen besetzen. Wer dann später dazustößt (weil er/sie jünger ist, neu zugezogen, oder bisher mit anderen Dingen befasst war), muss sich einfügen und hat geringere Spielräume. Die „Kerngemeinde“ hat das Sagen, die anderen müssen mit den Vorlieb nehmen, was an Zeit, Kraft, Geld und Gestaltungsspielraum übrig bleibt. Als gäbe es einen Frühbucherrabatt (bzw. -bonus), mit dem man sich die besten Plätze sichern könnte.

Und nun kommt Jesus daher mit einer Geschichte, in der Frühbucherbonus auf den Kopf gestellt wird. Die neu dazu kommen, haben genauso viel zu melden wie die alten Hasen. Verständlich, dass letztere verschnupft reagieren. War der ganze Stress umsonst?

Kirche ist keine Meritokratie

Was sie freilich nicht sehen (der Winzer allerdings schon), ist, dass die Kerntruppe viel zu klein ist, um die Lese auf dem Weinberg zu stemmen. Also nimmt er, wen er kriegen kann und zahlt den Neuen einen absurd großzügigen Lohn. Weil er will, dass sie bleiben. Weil ihre Familien genauso hungrig sind wie die der anderen. Weil er nicht Leistung bezahlt, auch nicht Zeit, sondern Menschen an sich bindet.

Wie wäre das: Kirche, in der die Newcomer sich nicht erst das Recht verdienen müssen, gehört zu werden. Die jeden, der neu mit anpackt, freudig aufnimmt. Die nicht Buch führt über Verdienste sondern fragt, was jeder braucht, um gut arbeiten zu können. In der keine Besitzstände gewahrt werden, weil dafür angesichts der vielen Arbeit, die vor uns liegt, einfach keine Zeit ist. In der die Neuen ihren Musikgeschmack, ihren Arbeitsstil, ihre Prägung und ihre Ideen ebenso selbstverständlich einbringen können wie die, die seit Jahr und Tag schon in dem Laden aktiv sind: Kirche ist keine Meritokratie, auch keine Meritokratie der Treuen und Beständigen. Und „das war schon immer so“ ist einfach nur die Vermeidung eines guten Arguments.

Ich bin ja selbst gerade einer dieser Neuen. Als Pfarrer ist das freilich noch einmal etwas ganz anderes als für „normale“ Gemeindeglieder. Ich kann, darf und muss vieles mitbestimmen. Meine Fragen und Vorschläge werden nicht so schnell vom Tisch gewischt wie die einer Konfirmandin oder eines neu Zugezogenen. Und ja – in jedem sozialen System braucht man Geduld und Fingerspitzengefühl, wenn man etwas verändern will.

Wie alle gewinnen

Aber es gibt eben auch diesen Spätbucherbonus, auf den die Kirche nicht verzichten darf. All die Neuen, die bei uns hereinschnuppern und andocken (oder es versuchen), sind ein Bonus, ein Geschenk. So, wie sie sind, und nicht erst, wenn sie sich mühsam assimiliert und wir ihnen alle Flausen ausgetrieben haben. In einer Gesellschaft, die immer bunter und vielfältiger wird, wären wir ohne die Fragen, die sie stellen, und die Irritationen, die sie auslösen, bald völlig betriebsblind. Unseren Beschreibungen vom Auftrag der Kirche, unsere Einschätzung des eigenen Beitrages dazu wären wertlos.

Im Gleichnis Jesu behandelt der Winzer die Newcomer so, als hätten sie schon immer dazugehört. Vielleicht gelingt uns dieses Kunststück ja auch. Genug zu tun gibt es allemal vor unserer Nase.

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