Was geht mich die Geschichte an?

Wie man es dreht und wendet, als Theologen und Kirchenmenschen haben wir es mit einem Gott zu tun, der sich in der Geschichte offenbart. Wir können also nicht nicht über Geschichte reden.

Aber wir könnten anders über Geschichte reden, als es vielfach der Fall ist. Nämlich als eine Geschichte voller Wunden und Narben. In der Passionszeit machen wir uns genau das bewusst, dass die Geschichte der Menschheit und Gottes Geschichte mit den Menschen eine Leidens- und Passionsgeschichte ist. Und genau deshalb ist sie immer noch so relevant. Bernhard Waldenfels hat das, wie ich finde, für die Geschichte im Allgemeinen sehr treffend formuliert:

Wenn die Geschichte im Schulunterricht oftmals auf wenig Interesse stößt, so kann dies auch daran liegen, dass geschichtliche Ereignisse dargeboten werden wie Lagerbestände, aus denen man sich bei Bedarf bedient. So wie die Raum- und Zeitkoordinaten auf das jeweilige Hier und Jetzt verweisen, so verweist die Geschichte auf Geschichten aus der Kindheit, der Familie und der Nachbarschaft, in denen sie sich en miniature verkörpert, mitsamt ihren Erwartungen, Enttäuschungen und Verletzungen. Eine Geschichte ohne Wunden und Narben wäre nichts weiter als eine museale Bildungsgeschichte.

Roman Kraft

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Nach dem bösen Erwachen: Weisheit in Zeiten der Polarisierung

Manchmal setzen sich Gedanken aus ein paar Gesprächsfetzen zusammen. In diesem Fall Gespräche über den gesellschaftlichen Diskurs, der an vielen Stellen mit wachsender Erbitterung geführt wird.

Mitten hinein fiel der Hinweis auf die Geschichte vom weisen König Salomo, die ich noch aus der Kinderbibel kenne: Zwei Frauen teilen sich eine Unterkunft, beide haben ein neugeborenes Baby, eines morgens ist das eine Kind tot. Die Mutter, die es im Schlaf erdrückt hat, nimmt der anderen Mutter heimlich das lebende Kind und legt das tote in ihren Arm.

So liest sich das in der Klage, die daraufhin vor dem König landet und die mit dem Schwert – freilich unblutig – entschieden wird. Der gilt fortan an weiser Mann: Er droht, das lebende Kind zu zerteilen und jeder Mutter die Hälfte zu geben. Die Frau, die nachgibt, ist die wahre Mutter. Die Frau, die hart bleibt, ist die Betrügerin. Heute würden wir kein Schwert mehr nehmen, sondern eine Speichelprobe. Dem Fortschritt sei Dank.

Aber das würde die salomonische Pointe kaputt machen, um die es mir heute geht.

Die vordergründige Analogie zuerst: Wir haben leider keinen weisen König, der zwischen den gesellschaftlichen oder globalen Streitparteien schlichtet. Wir sind alle immer schon Partei. In vielen Konflikten setzen sich momentan die durch, die bereit sind, über Leichen zu gehen. Und es haben die das Nachsehen, die Kompromisse zu machen, um Menschenleben zu retten. Schmerzhafte Kompromisse, für die sie selbst einen hohen Preis zahlen und für die sie wenig Gegenliebe und Anerkennung ernten.

Dahinter liegt die Frage: Woher die Härte? Es bleibt ja offen, ob in der Geschichte vom weisen Salomo die Mutter des toten Kindes bewusst lügt, oder ob sie sich selbst betrügt und darüber jedes menschliche Maß verliert. Vielleicht spielt das aber auch keine entscheidende Rolle – weder für das Verständnis der Geschichte, noch für unsere Situation.

Da haben also zwei bisher zusammen gelebt. Eher ein Zweckbündnis als eine Frage tiefer Zuneigung, so ist es ja in unserer spätmodernen Welt auch. Dann kommen Kinder zur Welt, der kleine Haushalt wächst, aber die Gleichheit steht nicht in Frage.

Plötzlich geschieht das Unglück: Ein Kind ist tot. Ob tatsächlich im Schlaf erdrückt oder unverschuldet durch plötzlichen Kindstod – wir wissen es nicht. Menschen geben sich freilich sich oft auch dann die Schuld, wenn es gar keinen ursächlichen Zusammenhang gibt. Die Schuldfrage führt hier nur in Sackgassen. Doch was für eine Tragik, wenn eine Mutter das Leben, das sie gerade zur Welt gebracht hat, versehentlich zerstört. Und mit dem Kind sterben all die Erwartungen und Hoffnungen an die Zukunft.

Die Entscheidung nach dem bösen Erwachen fällt augenblicklich. Die Kinder werden vertauscht, das Faktum des Verlusts verleugnet, die Schuld umgekehrt, das Leid weggeschoben. Freilich erkennt die betrogene Mutter sofort, was geschehen ist. Aber weil wohl niemand sonst die Kinder gut genug kannte, hat sie kaum eine Chance, die „Fake News“ zu widerlegen, die ihre Kontrahentin schon aktiv verbreitet und hinter denen sie sich verschanzt.

Johann Walter Bantz

Die Frau, der die Zukunft durch einen bösen Zufall, durch eigene Erschöpfung und Unachtsamkeit oder beides zusammen genommen wurde, bemächtigt sich der Zukunft der anderen. Dabei verliert sie auch noch den letzten Menschen, der sie hätte trösten können, wenn sie die Trauer denn zugelassen hätte. Denn die Mitbewohnerin, die alles hat, was sie nicht hat, erscheint ihr in diesem Augenblick als Feindbild par excellence. Da spielt es keine Rolle, dass sie keinerlei Schuld trifft am Verlust der Zukunft. Die andere mit einem lebenden Kind zu sehen, ist schlicht unerträglich.

Nun kämpfen zwei trauernde Frauen um eine Zukunft. Und es gibt nur noch ein Entweder/Oder. Die eine, die eigentlich schon alles verloren hat, kann sich die Totalverweigerung leisten – schlimmer wird es nicht mehr. Vor allem steigen ihre Gewinnchancen, je kälter und unnachgiebiger sie agiert. Denn die andere Mutter wird ihr Kind lieber weggeben als sterben sehen, selbst wenn sie dann nicht nur das Kind verloren hat, sondern auch noch als Lügnerin dasteht.

Aber dahinter steht, gut versteckt, eine Stärke: Diese Mutter weiß, dass sie über diesen Verlust lange und schwer trauern wird. Sie weiß aber auch, wie sie der Trauer einen Sinn geben kann. Sie denkt an das Kind, das zur nicht mehr ihres ist, aber sein Leben ist ihr wichtiger als ihre Verfügung darüber. Die Härte fehlt: Bei allem Ringen um das Recht, sie kann keine „Alles-oder-nichts“- Strategie fahren. „Nihilismus“ nannte ein Freund das kürzlich.

Brexiteers, Tea-Partisanen, Deutschlandretter hadern mit dem Verlust einer Zukunft, die tot ist und die tot bleibt. Das hat durchaus etwas Tragisches an sich. Darüber ließe sich unter Umständen reden und auch trauern. Vielleicht kann, wenn das durchgestanden ist, auch eine neue, etwas andere Zukunft geboren werden. Sie sehen die Lösung aber vor allem darin, denen, die sie für irgendwie privilegiert halten, die Zukunft wegzunehmen: Den Minderheiten, die sich in den letzten Jahrzehnten mühsam gleiche Rechte erkämpft haben, oder den Migranten, die ihr Leben häufig riskieren, um überhaupt irgendeine Zukunft zu haben.

Komplett doppelbödig wird es dagegen bei der Kritik an den „Eliten“: Die Finanzelite lässt man ungeschoren und die intellektuellen Eliten werden zwar nach Kräften diskreditiert, aber die eigenen akademischen Titel bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit eifrigst zur Schau gestellt. Das Problem ist eben nicht, dass es Eliten gibt, sondern nur, dass man selbst nicht dazu gehört.

Inzwischen werden im konservativen Christentum quer über das konfessionelle Spektrum dieselben Reflexe wirksam. Wahlweise werden die Kinder der anderen für tot erklärt oder die anderen als (potenzielle oder tatsächliche) Mörder der eigenen Kinder angeklagt. Trauer und Klage bekommt man kaum zu hören. Dafür Kampfansagen, Abgesänge, ein bisschen Sarkasmus und viel Empörung.

Nun höre ich schon den Einwand, ich drehe die Geschichte hier so hin, dass ich in diesem Kulturkampf auf der Seite der Guten stehe. Das Dilemma ist ja tatsächlich, dass Dritte erst einmal verwirrt vor der Tatsache stehen, dass sich da in schönster Symmetrie zwei Frauen gegenseitig beschuldigen, ihr eigenes Kind erdrückt und sich des anderen Kindes bemächtigt zu haben.

Und genau deshalb erzähle ich diese Geschichte hier auch: Nicht, damit alle einfach meine Deutung übernehmen. Die könnte in der Tat eine Täuschung sein.

Sondern um genau hinzusehen:

Wo in diesem Ringen ist diese Kompromisslosigkeit am Werk?
Wo versucht jemand, es kalt lächelnd auf eine „Alles-oder-Nichts“-Entscheidung hinauslaufen zu lassen?
Wo ist echte Trauer und Sorge spürbar?
Wo nimmt das Denken und Argumentieren immer rigidere Züge an?

Diese Fragen führen auf die richtige Spur. Weisheit, das bedeutet: Wir sollten sie uns immer und immer wieder stellen.

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Das Exodus-Muster

Gibt es eine stimmige theologische Alternative zum heilgeschichtlichen Muster von Schöpfung, Fall und Sühne, das die westliche Theologie seit Augustinus dominiert und dafür gesorgt hat, dass Erlösung primär als Beseitigung individueller moralischer Schuld und notwendige Weichenstellung für die himmlische Seligkeit verstanden wurde?

Es gibt sie, und wir finden sie in der Bibel – wenn wir, statt im Buch Genesis anzufangen, mit dem Exodus beginnen. Der Auszug aus der Sklaverei in Ägypten ist das Urdatum der Geschichte Israels. Er führt zum Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk am Berg Sinai. Das mosaische Bundesrecht stellt dabei, wie Richard Horsley zeigt, eine Art sozialökonomische Charta dar. Es wird zum Ausgangspunkt einer Traditionslinie, die sich durch die gesamte hebräische Bibel zieht. Sie bildet einen Gegenpol zu den königlich-priesterlichen Traditionen (Palast und Tempel waren, auch in der Sicherung des eigenen Einflusses, stets eng verbunden).

Die Propheten klagen sie gegen die Könige ein, als in Israel und Juda eine Feudalisierung einsetzt. Sie stellen das Scheitern des Bundes fest und kündigen das Ende des Königtums an. Und als dieses dann gekommen ist, beginnen sie von einem neuen Exodus zu reden, der einer Auferweckung des Gottesvolkes gleichkommt.

Clem Onojeghuo

Und auf just diese Exodustraditionen bezieht sich Jesus exklusiv, wenn er die Schrift zitiert – gern auch gegen das herodianische Königshaus und die Priesteraristokratie in Jerusalem. Das Matthäusevangelium stellt Jesus als den neuen Mose dar, beginnend mit der Geburt unter einem kindermordenden Herrscher, der Flucht und Rückkehr, der Taufe (Schilfmeer!), dem neuen Gesetz, das auf einem Berg in Kraft gesetzt wird und das inhaltlich an die egalitäre Ordnung des mosaischen Bundes anknüpft, die unter der armen Landbevölkerung Galiläas noch hoch im Kurs stand. Es gipfelt in der Feier des Passafestes, in der Jesus seinen Tod mit einem neuen Exodus verbindet.

Frank Crüsemann hat die Spur des Exodus durch das neue Testament in einem feinen Beitrag („Gott und Menschen handeln – wie ist das Verhältnis?“) zu dem Band „Befreiung vom Mammon“ (hg. V. Ulrich Duchrow und Hans G. Ulrich, Die Reformation radikalisieren, Bd. 2) nachgezeichnet. Er entdeckt sie im Lukasevangelium, in den Reden der Apostelgeschichte, und auch in den Aussagen des Römerbriefs über die Befreiung von der Schreckensherrschaft der Sünde. Im Gegensatz dazu (zur Sünde und der Unfreiheit unter römischer Herrschaft) sind „die Beziehungen, die Gott eingeht … nicht von Macht bestimmt.“ Jede Reich-Gottes-Theologie, die sich selbst ernst nimmt, müsste eine dezidierte Exodus-Theologie sein.

Vergebung ist der Befreiung dann theologisch nach- und nicht vorgeordnet. Sie ist im Exodus eingeschlossen und sie ist notwendig, um ihn zu vollenden – Freiheit muss sich bewähren und sie bleibt vorläufig auch noch gefährdet.

Das Problem mit der herkömmlichen Vorstellung von Sünde als moralischem Versagen und individueller Schuld und einer primär jenseitsbezogenen Erlösung ist ja die Frage, wie man das dann wieder mit sozialen und politischen Verhältnissen – also dem öffentlichen Leben statt nur dem privaten – zusammenbringt. Denn wenn es in der Bibel vor allem um „Gott und die Seele“ geht, bleiben die Lebensverhältnisse außen vor oder sie dienen nur als austauschbare Kulisse für die Bewährung des Glaubens bis zur endgültigen Heimkehr zu Gott. Genau das passiert, wenn man – etwas überspitzt formuliert – aus dem „alten“ Testament nur die ersten drei Kapitel der Genesis, die zehn Gebote und ein paar messianische Verheißungen in den Kernbestand christlichen Denkens integriert.

Macht man hingegen das Exodus-Muster zur Grundstruktur von Theologie, dann ist damit die Frage nach dem inneren Zusammenhang der hebräischen und griechischen Bibel besser beantwortet, als wenn man diesen in der priesterlichen Sühnetheologie sucht – oder gleich aufgibt. Zugleich wird es möglich, einen kritischen Blick auf die biblischen Texte zu werfen, die andere Vorstellungen von Gott, Gerechtigkeit, Macht und Freiheit vermitteln. Und nicht zuletzt finden wir hier eine Sprache, um die Lebens- und Machtverhältnisse in Kirche und Gesellschaft zu thematisieren – und zu verändern: „Speaking Truth to Power“, nennt Walter Brueggemann das.

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Öde Ewigkeit?

Im Konfiunterricht gestern kam die Rede auf das ewige Leben und prompt fragte einer, ob das eigentlich wünschenswert sei, ewig zu leben. Immerhin könnte es ja schrecklich langweilig werden.

Das freilich ist die Horrorvorstellung, nicht erst seit Ludwig Thomas Münchner im Himmel – wobei den ja weniger die Ewigkeit schreckte, im Hofbräuhaus hielte er es durchaus ewig aus, sondern eher das ätherisch-Immaterielle der himmlischen Existenz. Die Ewigkeit als bloße Endlosschleife des ewig Gleichen gehört eher in die Reihe der Höllenvisionen. „Schlechte Unendlichkeit“, schreibt Bernhard Waldenfels, und erinnert an den Sisyphus-Mythos.

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Uroš Jovičić

Wie antwortet man auf so einen Einwand? Mir fiel spontan Folgendes ein:

Seit es Menschen gibt, machen sie Musik. Sie singen, sie spielen Instrumente, sie komponieren – Jahrtausende lang. Die Musik der letzten 500 Jahre ist großteils aufgeschrieben, wir kennen sie also. Es sind immer dieselben 8 oder 12 Töne der diatonischen bzw. chromatischen Tonleiter. Und doch ist uns noch nicht langweilig geworden. Im Gegenteil, wenn deine Lieblingsband ein neues Album herausbringst, bist du voller Spannung und Vorfreude. Niemand stellt Berechnungen an, wann der Tag erreicht ist, an dem alles komponiert ist, was komponiert werden kann.

Wenn schon unsere menschliche Kreativität so groß ist, dass wir mit zwölf Tönen 500 Jahre Musik machen können, ohne uns zu langweilen und ohne dass sich alles nur wiederholt, warum sollte es in Gottes Ewigkeit und mit seinem Erfindungsreichtum jemals langweilig werden?

Wäre etwas mehr Zeit gewesen, hätten wir auch noch über G.K. Chestertons Beobachtung reden können, dass kleine Kinder von Wiederholungen kaum genug bekommen können, während Erwachsene davon genervt sind. Für ihn ist das ein Zeichen abnehmender Vitalität. Also stellt er sich Gott in dieser Hinsicht vor wie ein Kind, „jünger als wir“: Er wird nie müde, Gänseblümchen einzeln zu machen und sich jeden Morgen Sonnenaufgänge anzusehen. Und ich denke mir: Vielleicht ist ja auch deshalb Gottes Barmherzigkeit „jeden Morgen neu“.

Irgendwo zwischen diesen beiden Überlegungen spannt sich das weite Feld der ewigen Freude auf.

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