Warum selbst pervertierte Macht auf das lästige Recht nicht ganz verzichten kann

Schwer unter die Haut gegangen sind mir diese Woche die Nachrichten über Foltergefängnisse in Syrien. Einzelschicksale wurden ja kaum geschildert – und trotzdem ist schon die allgemeine Vorstellung unerträglich.

Zugleich habe ich mich gefragt, warum in solchen Diktaturen dieses üble Schmierentheater aufgeführt wird: Geständnisse werden durch Folter erzwungen, darauf folgen geheime gerichtliche Eilverfahren und dann die ebenso geheime Hinrichtung. Wozu die ganze Mühe, warum ermordet man die Leute nicht sofort? Wäre das alles nicht viel einfacher?

Drei Gründe fallen mir ein:

  • Die Auftraggeber brauchen für sich selbst den Anschein, wenigstens formal so etwas wie Recht angewandt zu haben. Da ist dieser perverse Wunsch, irgendwie als gut zu erscheinen, auch wenn man das ganz offenkundig nicht ist.
  • Die Opfer werden zusätzlich gequält und gedemütigt, wenn ihnen eine theoretische Chance vorgegaukelt wird, sich zu rechtfertigen und zu retten, und die Gewalt, die ihnen angetan wird, als rechtens deklariert wird.
  • Die Handlanger des Systems machen bereitwilliger mit, wenn man ihnen diesen Selbstbetrug anbietet und ihr Tun als irgendwie rechtmäßig ausgibt.

Ich vermute, die dritte Antwort ist die wichtigste. Und deswegen ist es so eminent wichtig, diese Verbrechen zu dokumentieren und dem Regime bei jeder Gelegenheit den Spiegel vorzuhalten. Die Anstifter oben in der Befehlskette werden wir kaum überzeugen. Aber wir können es ihnen etwas schwerer machen, Helfershelfer zu finden. Und den vorhandenen Helfershelfern wird es nicht mehr möglich sein, aus Unwissenheit zu plädieren, wenn das Regime stürzt.

Im kleineren Maßstab gilt das auch hier: Die Populitiker, die Flüchtlinge trotz offensichtlicher Lebensgefahr ins vermeintlich „sichere“ Afghanistan abschieben wollen, werden sich kaum von unseren Protesten beeindrucken lassen. Aber es gibt vielleicht Polizisten und Beamte, die einen so fragwürdigen Beschluss nicht ausführen wollen. Je mehr das sind, desto schwieriger wird es für die Regierungen.

Die Dickfelligkeit der Mächtigen darf uns nicht dazu verleiten, leiser zu werden. Auch der ohnmächtige Protest ist nicht ganz so ohnmächtig, wie er scheint. Er erreicht nicht jedes Gewissen, aber doch einige. Diese Woche habe ich Micha 6 gelesen und nicht am Ende von Vers 8 die Bibel zugeklappt. So geht es weiter in Sachen Recht und Unrecht, falls jemand mal Worte und Vorbilder sucht:

Horcht! Der Herr ruft der Stadt zu: [Klug ist es, deinen Namen zu fürchten.] Hört, ihr Bürger und Räte der Stadt!

Kann ich die ungerecht erworbenen Schätze vergessen, du Haus voller Unrecht, und das geschrumpfte Maß, das verfluchte? Soll ich die gefälschte Waage ungestraft lassen und den Beutel mit den falschen Gewichten?

Ja, die Reichen in der Stadt kennen nichts als Gewalttat, ihre Einwohner belügen einander, jedes Wort, das sie sagen, ist Betrug. Deshalb hole ich aus, um dich zu schlagen und dich wegen deiner Sünden in Schrecken zu stürzen.

Du wirst essen, doch du wirst nicht satt; Schwindel wird dich befallen. Was du beiseite schaffst, rettest du nicht; was du rettest, übergebe ich dem Schwert. Du wirst säen, aber nicht ernten; du wirst Oliven pressen, aber dich mit dem Öl nicht salben; du wirst Trauben keltern, aber den Wein nicht trinken.

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