Nichts ist mehr selbstverständlich

In den Diskussionen um den Rechtspopulismus gibt es immer wieder einmal Augenblicke, wo die Vertreter der offenen, demokratischen und …

… und hier entsteht schon die erste Schwierigkeit: Schreibe ich „liberal“? Das klingt entweder nach FDP oder nach einer Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Gleichgültigkeit, die ich auch nicht meine. Schreibe ich „freiheitlich“? Dann könnte man an die FPÖ denken, die die Freiheit der Autochthonen gegen die Freiheit der Geflüchteten ausspielt. Wie rede ich von Freiheit, ohne die falschen Befreier zu begünstigen?

Weiter im Text: Also, in diesen Diskussionen gibt es immer wieder Momente, wo Entrüstung und Empörung, nicht nur und vielleicht auch nicht in erster Linie, darüber geäußert wird, dass jemand gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit schürt, sondern dass er Dinge sagt, von denen es doch ganz klar ist, dass man so nicht denkt und redet. Als ob der schlichte Hinweis genügen würde, damit das Gegenüber aufhört.

Die Rechten nutzen diese Einladung zum inszenierten Tabubruch, der ihnen nicht nur Aufmerksamkeit verschafft, sondern auch das Image des Rebellen. Zum Rebellen-Image gehört auch die Wahrnehmung, es handele sich um eine vitale, irgendwie jugendliche und dynamische Bewegung. Zugleich erinnert die verächtliche oder verzweifelte Empörung der Linken und der (Noch-)Mitte an die Eltern der 68-Generation, der es nicht gelang, ihre traditionellen und autoritären Werte gegen die Protestbewegung zu verteidigen. Sie wirken allein schon durch diesen Kontrast alt und verbraucht.

Nun stellt sich heraus, dieser Wandel war weder gründlich noch nachhaltig genug, um zu einer Selbstverständlichkeit zu werden. Jan C. Behrends schrieb kürzlich in der Zeit einen Nachruf auf den Liberalismus. Dort heißt es: „Die hegelianische Illusion von der Unumkehrbarkeit der Liberalisierung versperrte uns den Blick.“ An der Umkehrung wird seit langem hart gearbeitet, und inzwischen zeigt das Wirkung. Oft funktioniert das so, wie Sylvia Sasse es bei Geschichte der Gegenwart (danke für den Lesetipp, Walter Faerber!) beschreibt: „Mit der Geste von Aufdeckung und Bloßlegung werden Forschungsergebnisse tendenziös gelesen, um selbst wieder etwas zu verdecken und zu verhüllen.“

Anders gesagt, in der heutigen Welt mit ihren zerfaserten, multiplen und inkongruenten Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten ist schlicht gar nichts mehr selbstverständlich. Es hilft also nicht, bloß an einen nicht mehr vorhandenen Konsens zu appellieren. Es genügt nicht, defensive Reaktionen zu zeigen, die oft paternalistisch wirken und vor allem die Notwendigkeit verkennen, die eigene Position nicht einfach nur durch die Wiederholung derselben Bilder, Begriffe und Narrative zu vertreten. Denn deren Wirkung hat sich vielfach schon abgenützt.

Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass der liberale Rekurs auf die Aufklärung allein genügt. Die einen kennen „ihren“ Kant längst nicht mehr, die anderen haben ihn längst gegen Nietzsches Willen zur Macht eingetauscht. Der muss sich vor keinem kategorischen Imperativ mehr rechtfertigen. Diese Leute sind sehr wohl gefährlich, aber weder sind sie alle ungebildet, noch geistig oder kulturell zurückgeblieben.

Ich glaube, wir kommen auch nicht umhin, eine genuin christliche Antwort auf die Zeichen der Zeit zu geben. Die Gelegenheit dafür ist günstig, der ökumenische Schulterschluss zwischen Katholiken und Protestanten funktioniert. Mit einigen Einschränkungen: Die evangelikale Welt ist über Trump gespalten, der Rechtskatholizismus in Ungarn und Polen (und seine Inseln in Deutschland) verweigert Papst Franziskus die Gefolgschaft. Aber wir haben im Evangelium von Gottes herrschaftsfreier Ordnung ein quicklebendiges Narrativ, das den synthetischen Legenden von Nation und Leitkultur unter anderem das voraus hat, dass es Gegensätze überbrücken kann. Und dass es die Vision einer versöhnten Welt schon immer in sich getragen hat.

Wirken wird das aber erst dann, wenn Christen – vor allem in den großen Konfessionen – sich unverblümt der Wirklichkeit stellen, dass wir eine Minderheit sind, die weder auf Selbstverständlichkeiten pochen kann, noch ungefragt davon ausgehen, dass andere ihre Prämissen teilen oder ihren Schlussfolgerungen zustimmen. Vielleicht wäre das ein guter Zeitpunkt, sich wieder auf Lesslie Newbigins wichtige Einsicht zu besinnen, dass die herrschende Plausibilitätsstruktur im globalen 21. Jahrhundert uns nicht mehr begünstigt, sondern vor die Aufgabe stellt, unerschrocken (und ohne uns dafür zu entschuldigen) Position zu beziehen und dem durch unser praktisches Verhalten die nötige Verständlichkeit zu verleihen:

Wenn das Evangelium verstanden werden soll, wenn es angenommen werden soll als etwas, das Wahrheit über die wirkliche Situation des Menschen vermittelt, wenn es, wie wir sagen, einen Sinn ergeben soll, dann muss es in der Sprache derer kommuniziert werden, an die es sich richtet und in Symbole gefasst werden, die für sie eine Bedeutung haben. Und da das Evangelium nicht als körperlose Botschaft daherkommt, sondern als Botschaft einer Gemeinschaft, die den Anspruch erhebt, danach zu leben und andere einlädt, sich dem anzuschließen, muss das Leben dieser Gemeinschaft so eingerichtet sein, dass es “einen Sinn ergibt” für jene, die man einlädt.

Oder, um es mit Walter Wink zu sagen:

Was die Kirche am besten kann, auch wenn sie es viel zu selten tut, ist einem ungerechten System [„Ideologie“ wäre hier vielleicht noch passender] die Legitimation zu nehmen und ein spirituelles Gegenklima zu schaffen.

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