Keiner von uns

Zum Ausklang des Blog-Jahres noch ein eher meditativer Nachklang von Weihnachten. Danke Euch/Ihnen allen fürs Mitlesen und -denken, kommt gut ins neue Jahr!

„Gott wird einer von uns“
Vielfach bejahte man dieser Tage
was Joan Osbourne fragend sang:
What if God was one of us?

Was die Frage aufwirft:
Wer sind eigentlich „wir“? Und
wäre, nach unserer Definiton von „wir“, Er
wirklich einer von uns?

Ist er nicht eher
einer von „denen da“:
Entwurzelt, fremd,
nicht von unserer Welt?

Blieb er nicht immer ein Fremd-Körper
Wie ein Stein zwischen den Zehen,
wie ein Sandkorn im Auge,
wie ein Krümel in der Luftröhre?

Wir verschlucken uns an seinen Worten.
Sein Anblick brennt in den Augen.
Seine Berührung scheuert uns wund.
Sein Atem reizt die Schleimhaut.

Als einer von denen kommt er zu uns.
Das Wort ward Fleisch, sagt der Theopoet.
Keiner von uns, solange wir nur
denen das Schlimmste nachsagen.

Der eine, als einer
von denen, das dehnt
unser enges Herz
das nur Platz hat für Gleiches.

Wenn unser „Wir“
Raum hat für mehr
erst dann ist er wirklich
einer von uns.

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„Fehl am Platz“ – eine Weihnachtspredigt

Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen. (Lukas 2,7)

Das Jahr 2015 brachte Licht und Schatten in einer Deutlichkeit wie schon lange nicht mehr: Paris wird von einem verheerenden Terroranschlag getroffen und nur ein paar Wochen später entscheiden sich die Regierungen der Welt, gemeinsam zu handeln, um das Klima für kommende Generationen in einem erträglichen Rahmen zu halten – in derselben Stadt. In Deutschland brennen so viele Flüchtlingsunterkünfte wie nie zuvor und Helfer werden bedroht, aber der Münchener Hauptbahnhof wurde zum Symbol spontaner Hilfsbereitschaft, die sich die Deutschen selbst nicht zugetraut hatten. Östlich von uns höhlen autoritäre Machthaber wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan demokratische Strukturen aus – und weit im Westen will mit Donald Trump ein alter, weißer Mann Präsident werden, der unter dem Jubel seiner Anhänger gegen ethnische und religiöse Minderheiten gehässige Dinge sagt.

Wie passt unsere Weihnachtsgeschichte in diese Welt? Es ist eine vielerorts brutalisierte Welt, in der sich aus einer verunsicherten Masse jederzeit ein rastloser Mob bilden kann, und in der die „Sicherheitskräfte“ rücksichtslos zuschlagen oder alle und jeden ausspähen. Eine Welt, in der Millionen Menschen umherirren auf der Suche nach einer sicheren Heimat und einem menschenwürdigen Leben. Eine Welt, in deren medialem Dauerrauschen eine dramatische Nachricht die nächste jagt und jedes neue Ereignis das größte zu sein vorgibt, nur um vom nächsten Aufreger überlagert zu werden. In diesem Sinne bleibt alles beim Alten: Diese Welt scheint dem Ende immer wieder gefährlich nahe. Und in der Enge und dem Lärm scheint kein Platz zu sein für kleine Hoffnungen.

Der Mönch und Schriftsteller Thomas Merton (1915-1968), der als Einsiedler in der Abtei von Gethsemani im US-Bundesstaat Kentucky lebte, hat vor 50 Jahren auf dem Höhepunkt des kalten Krieges Worte gefunden, die unser Lebensgefühl heute erstaunlich gut treffen:

Wir leben in der Zeit, in der es keinen Raum gibt, der Zeit des Endes. Die Zeit, in der jeder besessen ist von Zeitmangel, Platzmangel, davon Zeit zu sparen und Raum zu erobern, in Raum und Zeit hinein die Angst zu projizieren, die das technologische Wüten von Größe, Menge, Geschwindigkeit, Stückzahl, Preis, Macht und Beschleunigung in ihm hervorruft.

Der Ursegen „Seid fruchtbar und mehret euch“ ist plötzlich in das Bluten des Terrors umgeschlagen. Man zählt uns nach Milliarden, wir werden zu Massen verdichtet, herumkommandiert, nummeriert, … besteuert, gedrillt und bewaffnet, bis zum Empfindungslosigkeit beansprucht, von Informationen geblendet, mit Unterhaltung benebelt, bis uns übel wird von der Menschheit und uns selbst, übel vom Leben.

Aber das Ende im biblischen Sinne ist nicht der große Abgrund der Selbstzerstörung: Das Dunkle und die Angst, die es heraufbeschwört, werden nicht verleugnet, aber ihnen wird im Evangelium die Freude und das Helle entgegengesetzt. Das findet seinen Platz freilich nicht im Gedränge der durch die Volkszählung überfüllten Stadt, sondern unter freiem Himmel. Da gehört es hin.

Die Hirten von Bethlehem sind der Rest des „wahren Israel“. In ihnen lebt noch etwas von den Nomaden und Wüstenbewohnern der Frühzeit, das an die großen Gestalten erinnert: Mose war Hirte, bevor Gott ihn nach Ägypten sandte. David war Hirte (in Bethlehem!), bis er Goliath besiegte und König wurde. Und so beginnt auch hier das Neue in der Stille und Leere der Nacht auf dem Feld. Die Herrlichkeit Gottes (Juden sprechen von der Schechina), die den Weg aus Ägypten gewiesen hatte und später im Tempel ihre Heimat fand, erscheint wieder unter freiem Himmel. Gott hat sein Haus verlassen und taucht bei seinen Leuten auf. Er bricht aus – aus der festgelegten religiösen und politischen Welt, in der kein Spielraum für Neues ist.

In unserer Welt fehlt für viele Dinge der Platz: Die Natur steht an der Schwelle zu einem Artensterben, wie es die Welt in Milliarden von Jahren nur selten gesehen hat – eine Folge ihrer rücksichtslosen Ausbeutung durch den Menschen. Immer produktiv sein zu müssen und nicht abschalten zu können führt dazu, dass uns die Ruhe und Stille verloren geht, in der wir nachdenken und zu uns selbst finden können. Und so erliegen wir dem Druck, uns selbst immer weiter zu optimieren, um nicht den Anschluss zu verlieren, um konkurrenzfähig zu bleiben, um nicht in den Augen der anderen irgendwann selbst fehl am Platz zu sein: nutzlos, abgeschrieben, eine ungeliebte Last. Wir versuchen jeder Art von Schmerz auszuweichen, verleugnen unsere Verletzlichkeit, und mit ihr unsere Sterblichkeit. Unsere Unfähigkeit, richtig zu trauern, macht uns paranoid. Und die vielen Dinge, die wir uns leisten, erfüllen uns nicht tief oder dauerhaft, sondern sie verdecken nur die Leere, die daher rührt, dass für etwas Wesentliches kein Platz ist. Noch einmal Thomas Merton:

In diese Welt, in diese wahnwitzige Herberge, in der für ihn absolut kein Platz mehr ist, kam Christus ungebeten.

Aber weil er in ihr nicht zuhause sein kann, weil er fehl am Platz ist in ihr und doch in ihr sein muss, ist sein Platz bei denen, für die kein Platz ist.

Sein Platz ist bei denen, die hier nicht hingehören, die von der Macht Abgelehnten, die man für schwach hielt, die in Verruf Gebrachten, denen man das Personsein nicht zugesteht, die Gefolterten und Vernichteten.

Bei denen, für die es keinen Raum gibt, ist Christus in dieser Welt gegenwärtig.

Denen, die fehl am Platz scheinen, verkünden die Engel große Freude. Nicht das Ende vom Ende der alten Welt ist im Blick, sondern die Saat einer neuen Welt. Diese neue Welt funktioniert nicht mehr nach den Bedingungen der alten: Mehr vom Selben, Auge um Auge, Survival of the Fittest, die Mechanismen des Marktes. Sie gehört all jenen, die ihre kleinen Hoffnungen auf etwas Glück und ein Leben in Würde nicht begraben oder verkauft haben. Insofern wir zu diesem Menschen gehören, die fehl am Platz sind, gilt sie uns. Und wenn wir sie suchen, dann finden wir sie bei denen, die aussortiert und abgeschoben werden sollen.

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Im April 2015 war ich in Bethlehem. Die Enge und der Druck, von denen Merton schreibt, sind dort mit Händen zu greifen, wenn man die Checkpoints der israelischen Soldaten passiert und vor einer Mauer und Wachtürmen steht, die doppelt so hoch sind wie die Berliner Mauer. Sie trennt Familien von ihren Verwandten und Bauern von ihren Feldern. Diese Woche habe ich den Brief eines neunjährigen Mädchens aus Bethlehem gelesen. Sie heißt Marianne, ist palästinensische Christin und lebt in Beit Sahour. Jeden Morgen betet die ganze Familie das Vaterunser oder singt „Christus ist auferstanden“, dann macht Marianne sich auf den Weg in die Schule, der sie am Feld der Hirten vorbei führt. Sie muss gar nicht bis zur Geburtskirche gehen, um an das „Fürchtet Euch nicht“ erinnert zu werden, das der Engel den Hirten zurief.

Immer wieder eskaliert die Gewalt im besetzen Gebieten Westjordanland. Marianne hat daher viele Gründe, sich vor den Panzern und Soldaten zu fürchten. Es ist gefährlich, draußen zu spielen. Die Lage ist sicher nicht so schlimm wie in Syrien, doch viele Verwandte und Bekannte sind schon frustriert ausgewandert. Marianne möchte bleiben, und ihr Glaube gibt ihr die Hoffnung, dass so etwas wie ein normales Leben möglich sein kann. Am Ende des Briefes lädt sie uns ein, sie zu besuchen, und zu sehen, dass auch die Palästinenser in Bethlehem Menschen sind wie Du und ich. „Wir sind die Hirten“, sagt sie.

An Weihnachten lädt uns Gott zu zwei Dingen ein: Als behütete Gotteskinder damit aufzuhören, uns ständig von der Sorge um unseren Platz umtreiben zu lassen. Und uns, als Hüter unseres Bruders, furchtlos und verletzlich wie er auf die Seite all derer zu stellen, für die das Europa des 21. Jahrhunderts keinen Platz und keine Verwendung hat. Oder, wie Thomas Merton schrieb: „Sei menschlich in dieser so unmenschlichen Zeit. Wahre das Bild des Menschen, denn es ist das Bild Gottes.“ Darin erwartet uns die große Freude: Wir finden wieder Geschmack – an der Menschheit und uns selbst, am Leben.

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Fehl am Platz

In diese Welt, in diese wahnwitzige Herberge, in der für ihn absolut kein Platz mehr ist, kam Christus ungebeten.

Aber weil er in ihr nicht zuhause sein kann, weil er fehl am Platz ist in ihr und doch in ihr sein muss, ist sein Platz bei denen, für die kein Platz ist.

Sein Platz ist bei denen, die hier nicht hingehören, die von der Macht Abgelehnten, die man für schwach hielt, die in Verruf Gebrachten, denen man das Personsein nicht zugesteht, die Gefolterten und Vernichteten.

Bei denen, für die es keinen Raum gibt, ist Christus in dieser Welt gegenwärtig.

Thomas Merton

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Die autoritäre Sackgasse

Ich muss gestehen, dass ich zu jenen Bürgern gehöre, die in den vielen Umfragen, die derzeit durchgeführt werden, zu Protokoll geben, dass ihre Sorgen im Zuge der Flüchtlingskrise zugenommen haben. Was mir dabei weniger Sorge macht, das sind die Flüchtlinge selbst oder unser Wohlstand. Wirklich besorgt bin ich über das, was in den letzten Monaten an Hetze, Hass, Gewalt unter uns Deutschen aufgebrochen ist und über die Vorurteile, Ressentiments, den Nationalismus und die Angstmacherei, die dem Ganzen zugrundeliegen.

Vor einiger Zeit habe ich das im Blick auf die europäische Entwicklung schon einmal in Worte gefasst. Und mich ein paar Tage später von der heute show (ab 44:40) bestens verstanden gefühlt.

Hilfreich fand ich in diesem Zusammenhang auch Philipp Bloms Analyse des autoritären Traums, der sich vom liberalen Denken der Aufklärung verabschiedet. Er…

sieht die Welt in Kollektiven, in Völkern und historischen Gemeinschaften, um deren Reinheit und Fortbestand er besorgt ist. Er spricht von traditionellen Werten und sieht sich verachtet. Er wütet gegen die Dekadenz der liberalen Gesellschaft und „unnatürliche“ sexuelle Ausschweifungen. Er sieht Frauen in traditionellen Rollen und achtet Fremde, solange sie in der Fremde bleiben. Sein Verständnis von Kultur ist essentialistisch. Wo er „Kultur“ sagt, sprach man vor 80 Jahren noch von „Rasse“. Politisch setzt er auf starke Führungspersönlichkeiten. Nennen wir ihn den autoritären Traum. Er hat seinen Ursprung in dem Gefühl, betrogen worden zu sein.

Ziemlich analog zu dieser Polarisierung verläuft in der evangelikalen Welt gerade der Konflikt, der sich an Michael Dieners Interview mit der Welt entzündet. Obwohl Diener gar keine liberalen Positionen vertritt, sondern als Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Deutschland lediglich seinen Respekt für Mitchristen ausdrückt, die in der Frage gleichgeschlechtlicher Liebe und Partnerschaft anders denken, wird er zur Zielscheibe antiliberaler Kritik aus der Feder von Ulrich Parzany, die von idea bereitwillig verbreitet wird. Auch hier spricht jemand von traditionellen Werten und fühlt sich verachtet – und jeder, der diejenigen achtet, von denen man sich selbst verachtet fühlt, wird automatisch zur Gefahr: Parzany lässt durchblicken, dass er Diener für eine Art EKD-Irrlehren-Trojaner hält und einen autoritäreren Kurs gegen abweichende Meinungen favorisiert.

the authoritarian mind by fallsroad, on Flickr
the authoritarian mind“ (CC BY-NC-ND 2.0) by fallsroad

Blom trifft diese polemisierende und polarisierende Denkweise recht gut mit der folgenden Formulierung:

Der Vision einer intakten, rechtgläubigen und reinen Gesellschaft stellt der autoritäre Traum ein Bild des orientierungslos hedonistischen Relativismus gegenüber, das Leben in der Geldmaschine, gelenkt von fremden Mächten, ein zügelloses großes Fressen bei dem alles erlaubt ist und nichts etwas bedeutet, ein Leben ohne Ehre und Spiritualität.

Die Gefahr des autoritären Traums ist um so größer, desto unkritischer der liberale Traum gelebt wird. Das geschieht, wenn man Fortschritt und Demokratie für einen Selbstläufer hält, der keinen persönlichen Einsatz erfordert. Es geschieht auch dadurch, dass unsere liberalen Demokratien mit den Plutokraten dieser Welt paktieren – den Großkonzernen, den Wirtschaftseliten und den autokratischen Herrschern. Er nimmt Schaden, wo wir uns nicht mehr als Bürger verstehen und Verantwortung übernehmen, sondern nur noch Konsumenten sind. Überall da, wo wir in Fragen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen nicht konsequent am Ball bleiben, sondern halbherzig und nachlässig werden.

Der Traum von den Menschenrechten, sagt Blom, ist ein verwundbarer Traum. Die Alternative – für Deutschland wie für Europa – ist allerdings beklemmend:

Es ist nicht schwer, sich eine nahe Zukunft vorzustellen, in der eine von Zäunen und Mauern umgebende, alternde und zunehmend ängstliche und autoritäre Festung Europa neben einem orthodoxen Großrussland und einem islamischen Kalifat im Nahen Osten lebt. Es wäre ein neues, uraltes Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten, eine Art Wertegemeinschaft und ein gigantischer kultureller Zusammenbruch.

Solche Verhältnisse zu verhindern ist eine politische und eine spirituelle Aufgabe. Auch wenn es zwischendurch immer mal düster aussieht und wenn Rückschläge nicht nur drohen, sondern eintreten – wir dürfen nicht aufgeben. Parker Palmer schreibt dieses Jahr zum Weihnachtsfest davon, wie riskant es sein kann, wenn Worte Fleisch annehmen:

Oft gibt es eine zermürbende Kluft zwischen den guten Worten, die wir sagen, und dem, wie wir leben. In persönlichen Beziehungen und in der Politik, den Massenmedien, der akademischen Welt und der organisierten Religion neigen unsere guten Worte dazu, in dem Augenblick, wo sie unsere Lippen verlassen, davonzutreiben und sich in eine Höhe aufzuschwingen, wo sie die conditio humana weder widerspiegeln noch berühren.

Wir sehnen uns danach, dass Worte wie Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit Fleisch werden und unter uns wohnen. Aber in unserer gewalttätigen Welt ist es eine riskante Angelegenheit, solche Worte in unser verletzlichen Fleisch zu hüllen, und diese Aussichten gefallen uns nicht.

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Eine Welt, eine Gerechtigkeit

In den letzten Monaten flatterten mir auf verschiedenen Wegen Texte ins Haus, in denen Luthers Zwei-Reiche-Lehre thematisiert wurde. Der eine stammte von einem Journalisten eines öffentlich-rechtlichen Senders, der seine evangelische Kirchenleitung dafür kritisierte, dass sie sich so aktiv in die Flüchtlingsdebatte einmischte und forderte, sie solle sich wieder mehr der Verkündigung des Evangeliums widmen und die Politik den Politikern überlassen.

Der Journalist seinerseits benutzte seinen „weltlichen“ Beruf dazu, auf die innerkirchliche Debatte (nämlich darüber, was das Evangelium ist und was es denn heißt, es in der Gesellschaft hörbar werden zu lassen) einzuwirken. Nur: Entspricht das eigentlich seiner eigenen Auslegung der Zwei-Reiche-Lehre, oder wäre statt eines Rundfunkbeitrags nicht eher die Synode das richtige Forum gewesen?

Noch etwas skurriler war ein anderer Text aus ähnlicher Richtung, dessen Autor ausführte, dass man in seiner Eigenschaft als Christ angehalten sei, mit Flüchtlingen freundlich umzugehen, als Weltmensch und Staatsbürger aber mit dafür Sorge tragen müsse, das „Staatsvolk“ (Carl Schmitt lässt grüßen) vor so viel Zuwanderung zu schützen.

Mich erinnert diese Art, hart an der Bewusstseinsspaltung zu denken und zu argumentieren, an eine Kirche (die hatten wir ja viel zu lange), deren Pfarrer in der Todeszelle die Beichte hören und die Sakramente erteilen, die aber keinen Gedanken daran verschwendet, den Irrsinn der Todesstrafe zu hinterfragen, geschweige denn zu bekämpfen. Heute sind wir dann eben situativ und temporär nett zu den Flüchtlingen, die es über Meere und Zäune hierher geschafft haben, und gleichzeitig schieben wir sie ab in Regionen, in denen sie keine Lebensperspektive haben und die sie nur unter Lebensgefahr verlassen können. Also in den potenziellen Tod, den wir als Christen dann bedauern und als Deutsche für unvermeidlich erklären.

Gerechtigkeit ist – wie die Menschenwürde auch – unteilbar. Theologische Konstrukte wie die oben skizzierten trennen zwischen einer rein spirituellen und jenseitigen Gerechtigkeit (des Glaubens) und einer weltlichen Gerechtigkeit, die zur Wahrung der Ordnung und Sicherung der Macht (bzw. der jeweils geltenden Machtverhältnisse) Zwang, Strafe und Gewalt relativ unbefangen einsetzen darf. Gegen solche Trennungen wandte schon Dietrich Bonhoeffer ein:

Je ausschließlicher wir Christus als den Herrn bekennen, desto mehr enthüllt sich die Weite seines Herrschaftsbereiches. […] Die Welt gehört zu Christus und nur in Christus ist sie, was sie ist. Sie braucht darum nichts geringeres als Christus selbst. Alles wäre verdorben, wollte man Christus für die Kirche aufbewahren, während man der Welt nur irgendein, vielleicht christliches, Gesetz gönnt. […] Seit Gott in Christus Fleisch wurde und in die Welt einging, ist es uns verboten, zwei Räume, zwei Wirklichkeiten zu behaupten: Es gibt nur diese eine Welt.

Diese Ansprache von Landesbischof Bedford-Strohm zeigt, wie man Luthers Lehre von den „zwei Regimenten“ auch verstehen kann:

Entgegen manchen Missinterpretationen ging es Luther nicht um Staatsfrömmigkeit oder um das Propagieren von grenzenloser Gewaltausübung des Staates. Sondern es ging ihm – lange bevor er selbst und seine Zeitgenossen demokratische Ideen hätten vertreten können, um die Herrschaft des Rechts.

[…] Die Liebe – so ist Luther zu interpretieren – muss auch das weltliche Handeln leiten. Die Gewalt muss auch da minimiert werden. Aber immer so, dass die Herrschaft des Rechts nicht in Gefahr gerät. Recht und Liebe sind nicht das Gleiche. Sie müssen unterschieden werden. Aber sie dürfen nie voneinander getrennt werden. Die Kunst der Politik ist es, das Recht so zu setzen, dass die Liebe darin Heimat zu finden vermag.

Gerechtigkeit in dieser unteilbaren Form – nämlich lebensfreundliche Verhältnisse für alle – ist, wie Walter Dietrich sehr plausibel gezeigt hat, nicht nur der rote Faden durch das Erste Testament, sondern auch das Thema, das Jesus in seiner Verkündigung der Herrschaft Gottes wieder aufnimmt.

Der Advent ist ein guter Anlass, sich wieder daran zu erinnern.

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Sekundenzweifel

Am Rande einer kleinen ökumenischen Adventsfeier komme ich mit einem Besucher ins Gespräch. Der Mann hat, so weit ich weiß, studiert und in seinem Beruf einiges von der Welt gesehen. Wir reden über Gemeindethemen und irgendwie kommen wir erst auf die Finanzkrise und dann auf dem Klimawandel. Zu beiden Themen bekomme ich lupenreine Verschwörungstheorien serviert.

Mein inneres Mikroklima oszilliert plötzlich zwischen hitzig und frostig.

Ich erkläre freundlich, dass ich das nicht für plausibel halte. Er behauptet im Gegenzug, dass Al Gores Film „Eine unbequeme Wahrheit“ in den britischen Schulen gerichtlich verboten wurde, weil er lauter Unwahrheiten enthalte. Ich kann das nicht glauben und setze mich zuhause sofort an den Rechner, um auf Spiegel Online zu lesen, dass in England ein einzelner (!) Elternbeirat gegen die Verwendung des Filme im Unterricht geklagt hatte, der offenbar nicht in sein Weltbild passte. Das Gericht wies die Klage jedoch ab. Es werden im Urteil zwar einige legitime Kritikpunkte vermerkt, Al Gores Grundaussage steht aber keineswegs in Frage.

In solchen Momenten ist man in einer bescheuerten Gesprächssituation. Man bekommt eine falsche Behauptung serviert, die man nicht sofort widerlegen kann. Ein „wusstest du schon“, wo es nichts zu wissen gibt. Und dann steht man als jemand, der etwas nur vermutet, jemandem gegenüber, der etwas weiß. Zwar ist meine Vermutung richtig und sein Wissen falsch, das weiß ich jetzt, aber das werden längst nicht alle Leute nachprüfen, die sich mit ihm unterhalten.

Zwei Dinge lerne ich daraus: Ich werde, auch wenn es schönere Dinge gibt, möglichst viele dieser Behauptungen nachprüfen und ich werde mich daran gewöhnen, dass ich mich angesichts der (irrigen und oft auch irrsinnigen) Gewissheiten anderer oft in einer gefühlt schwächeren Gesprächsposition wiederfinde. Dieses Gefühl, wenn ich mich frage, ob ich jetzt spinne oder doch wirklich der andere, lässt sich nicht abschalten.

Aber vielleicht muss ich mir immer wieder sagen, dass genau dieser Sekundenzweifel ein tröstliches Zeichen ist, weil er die meisten (r)echten Spinner anscheinend nie befällt.

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Liebes Europa,

bevor Du Dich wunderst, ich weiß schon, dass Du nicht identisch bist mit den Eliten und Bürokratien, die Dich verwalten. Die Dein Wohl mehren sollten, aber oft genug nur ihren eigenen Vorteil und den ihrer Klientel im Sinn haben. Aber dann gibt es Tage, an denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein kluges Urteil fällt, und ich bin wieder ein bisschen versöhnt mit Dir.

Aber Du musst Dich wohl wundern, dass hier ein Deutscher schreibt: Aus dem Land der satten Exportüberschüsse, das dem Süden Europas mit seiner Sparwut und herablassenden Lektionen über schwäbische Hausfrauen in soziale Krisen gestürzt hat, die in dieser Schärfe nicht nötig gewesen wären, und das sich zugleich über viele Jahre hinweg einen Dreck darum kümmerte, wie Italien und Griechenland mit Flüchtlingen umgehen. Wir haben keine Hilfe angeboten und uns ab und zu über die (tatsächlich untragbaren) Verhältnisse mokiert. Ach ja, und wir haben die europäischen Umweltnormen für unsere Automobilindustrie zurechtgebogen, die WM 2006 gekauft, und auch wenn es uns ab und zu etwas peinlich ist, wird sind immer noch einer der größten Waffenexporteure der Welt.

Du siehst schon, liebes Europa, ich sollte eigentlich hier aufhören. Aber ich kann nicht. Denn in diesem Jahr haben einige von uns – nicht die Eliten, nicht die Bürokraten (oder wenn welche darunter waren, dann in ihrer Freizeit, als Privatleute) – uns endlich ein Herz gefasst, sind auf die Bahnhöfe in München und anderswo gegangen und haben das getan, was wir schon lange hätten tun müssen: Den Menschen, die zu uns geflohen sind, einen freundlichen Empfang bereitet und für eine möglichst menschenwürdige Aufnahme gesorgt. Und irgendwann hat unsere Kanzlerin das begriffen und gesagt, dass wir das schaffen. Wir wissen nicht, wie lange sie das durchhält. Und auch wenn einige von uns müde und erschöpft sind ab und zu, glauben wir das immer noch. Egal, wie viele Seehofers und Söders das jeden Tag schlechtreden und wie viele Rechte uns dafür beschimpfen oder – rhetorisch wie praktisch – Brände legen.

Italia Dallo Spazio (NASA, International by NASA
Creative Commons Creative Commons Attribution-Noncommercial 2.0 Generic License by NASA’s Marshall Space Flight Center

Natürlich ist es verwunderlich, dass wir es auf einmal sind, die (als einzige?) laut sagen, dass „Dublin“ nicht funktioniert und auch nie mehr funktionieren wird. Wir haben ja lange davon profitiert, wirst Du sagen. Ich weiß nicht, ob ich dem zustimme – wir hatten zwar unsere Ruhe, aber es war die schändliche Ruhe des Wegduckens. Und natürlich hat dieser Alleingang alte Wunden aufgerissen und zusätzlich all jene beunruhigt, die noch immer meinen, sie könnten einfach so weiter machen wie bisher, und Europa sei dazu da, genau das zu garantieren.

Ich war, so lange ich denken kann, ein überzeugter Europäer. Aber dieses Jahr frage ich mich zum ersten Mal ernsthaft, ob wir das schaffen.

  • Schaffen wir es, mehr als nur eine Freihandelszone für Geld und Waren zu sein (und steuerbefreiten Großkonzernen mit ihren emsigen Lobbyisten), aber mit Zäunen für Menschen, Herr Cameron?
  • Schaffen wir es, bessere und menschlichere Antworten auf die Herausforderungen des Islamismus und des Terrors zu geben, als nun planlos Bomben irgendwo abzuwerfen (einfach deshalb, weil es sich irgendwie besser anfühlt als nichts zu tun und weil wir wissen, dass wir das ganz gut können), Herr Hollande?
  • Schaffen wir es, uns von einem Nationalismus zu verabschieden, der seit dem 19. Jahrhundert nur Unheil anrichtet, liebe Polen, Ungarn oder Tschechen und Slowaken?
  • Schaffen wir das, liebe „C-Parteien“ und Bürgerliche, wenn es Euch (allem Augenschein zum Trotz) wirklich ernst sein sollte mit dem „C“, auf den Papst und den Ökumenischen Rat zu hören, wenn es um die Teilhabe der Armen und der Fremden geht?
  • Schaffen wir alle es, den rechten Scharfmachern und Hasspredigern unaufgeregt, beharrlich und konsequent das Wasser abzugraben?
  • Schaffen wir es, dass die Schere zwischen Arm und Reich, den Chancenlosen und den Privilegierten nicht immer noch weiter aufgeht?

Mir graut vor einem Europa, das sich gewaltsam (anders wird es nicht gehen!) abschottet und nur noch Almosen verteilt. Mir graut vor einem Europa, in dem manche die Bedrohung durch Putin beschwören und dann genau dieselben autoritären und nationalistischen Strukturen etablieren, wie wir sie in Russland sehen. Mir graut vor einem Europa, in dem jeder nur Kumpane für die jeweils eigenen egoistischen Zwecke sucht, ein Europa, das von seinen Ängsten und Albträumen umgetrieben wird, sich nach starken Männern (und blonden Frauen) sehnt und zugleich gnadenlos alles dafür tut, dass die Furcht immer neue Nahrung bekommt.

Das wäre dann nicht mehr mein Europa.

Liebes Europa, Du hast 2011 den Friedensnobelpreis bekommen. Wir dachten (vielleicht hofften wir auch nur), du hättest verstanden, dass damit auch ein moralischer Anspruch verbunden ist, der mit Deinen – unseren! – ureigensten Werten, Träumen und Visionen zu tun hat. Die Quintessenz deines mühsamens Lernens und deiner oft blutigen Geschichte; die Einsicht, dass die Kolonialisierung der Welt mit unzähligen Verbrechen einherging und dass wir uns heute dieser Verantwortung stellen müssen; die Bereitschaft, dass uns (klar, auch uns Deutsche!) das etwas kosten darf: All das schwang doch mit damals, oder?

Wenn es die Frage nach der Mitmenschlichkeit und Offenheit ist, an der Europa nun zu zerbrechen droht, dann weiß ich nicht, was ich mir wünschen sollte. Soll ich hoffen, dass sich alles zum Guten wendet, wenn die Flüchtlingsfreunde ein bisschen einlenken und den „Flüchtlingskritikern“ ein bisschen Recht geben – und die Zeit, sich eines Besseren zu besinnen (aber ist das überhaupt eine Frage der Zeit)? Der Riss geht ja längst nicht nur durch die Staaten der EU, sondern auch durch die Bevölkerung aller dieser Staaten. Oder hätten wir mit solchen Kompromissen, die ja wahrlich nichts Neues darstellen, schon fast alles verspielt, was an Europa jemals schützenswert war? Müsste eine Beziehung, die anscheinend auf falschen Prämissen und Erwartungen beruht, vielleicht besser gelöst und noch einmal neu verhandelt werden? Und haben wir gerade jetzt überhaupt die Zeit dazu, dich – uns! – neu zu erfinden?

Ein Europa der Rechten, von UKIP über FN bis PiS und von den Schwedendemokraten bis Fidesz, hätte sich quasi selbst abgeschafft, egal welche Institutionen diese politischen Geisterfahrer überrollen und welche nicht. Doch unabhängig davon, ob der nationale und rassistische Backlash bei uns und in anderen EU-Staaten (und den USA) in nächster Zeit noch weiter zunimmt, wir haben in diesem Jahr etwas Entscheidendes gelernt:

Wenn wir mutig und entschlossen handeln und uns für die Schwachen stark machen, dann können wir auch unsere anderweitig taktierenden Kompromisspolitiker wie Angela Merkel – heute von Time zur Person des Jahres gekürt, warum nur? – zu unerwartet kühnen Schritten in die richtige Richtung verführen und sogar eine zappelnde und zeternde CSU im Stillen gegen jene ureigensten Überzeugungen handeln lassen, die sie nicht laut genug herumposaunen kann. Wollen wir doch mal sehen, ob sich das nicht ausbauen und exportieren lässt, und wo sich überall Verbündete finden. Auch in Sachen Klimaschutz und Energiewende funktioniert es nur so, dass Aktivisten die Regierenden vor sich hertreiben.

Was wir dagegen nicht können und dürfen, ist abwarten. Abwarten, ob noch mehr Menschen auf der Flucht umkommen. Abwarten, ob die etablierten Parteien, die es den Rechten oft so leicht gemacht haben, sie zu diskreditieren, das Gemeinwohl endlich über ihre Wahltaktik und Lieblingsideen stellen. Abwarten, ob wir wahrgenommen, nach unserer Meinung gefragt oder irgendwohin eingeladen werden. Abwarten, ob der rechte Spuk sich wieder verliert. Abwarten, ob der Hass nur den Muslimen gilt oder eben doch auch den Christen, die ein klares Profil zeigen. Letzte Woche habe ich einen Brief von Martin Luther King gelesen. Er enthält einen Aufruf zum Handeln, an den ich in diesen Tagen immer wieder erinnert wurde:

Ich glaube allmählich, dass die Menschen bösen Willens ihre Zeit wesentlich nützlicher verwendet haben als die Menschen guten Willens. Unsere Generation wird eines Tages nicht nur die ätzenden Worte und schlimmen Taten der schlechten Menschen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der guten. Wir müssen erkennen lernen, dass menschlicher Fortschritt niemals auf den Rädern des Unvermeidlichen heranrollt. Er ist das Ergebnis unermüdlicher Bemühungen und beharrlichen Einsatzes von Menschen, die bereit sind, Mitarbeiter Gottes zu sein. Ohne solche Anstrengungen wird die Zeit zum Verbündeten der Kräfte des sozialen Stillstandes.

Liebes Europa, das hat King vor 50 Jahren geschrieben und sein Kampf ist heute noch nicht endgültig gewonnen. Aber auch wenn es 50 Jahre oder länger dauert, diesen Kampf zu gewinnen, werden wir Dir keine Ruhe mehr lassen.

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König oder Rebell – die Macht der Metaphern

Vor ein paar Wochen hatten wir Martin Pepper hier zu Gast. Er hatte eine Menge guter Beobachtungen und Anregungen rund um das Stichwort „Anbetung“ im Gepäck. Immer wieder war auch davon die Rede, wie wir uns selbst im Weg stehen können, wenn wir die Bilder und Metaphern nicht passend wählen. Das betrifft sowohl unser Reden von Gott als auch die Vorstellung davon, was wir in einem Gottesdienst denn tun (oder tun sollten).

Wir kommen ja nicht umhin, bildhafte Sprache zu verwenden, nur machen wir uns selten bewusst, welche Metaphern im Hintergrund des jeweiligen Diskurses stehen, und wie sie das Resultat beeinflussen. Schon vor längerer Zeit habe ich das folgende Zitat von Iain McGlichrist einmal gepostet:

Die gewählte Metapher ist sowohl Ursache als auch Wirkung der Beziehung. Daher offenbart sich, wie wir über uns selbst und unser Verhältnis zur Welt denken, schon in den Metaphern, die wir unbewusst wählen, um darüber zu sprechen. Diese Entscheidung verfestigt unsere Teilansicht des Themas weiter. Paradoxerweise scheinen wir genötigt, etwas – einschließlich unserer Selbst – gut genug zu verstehen, um das angemessene Modell zu wählen, bevor wir es verstehen können. Unser erster Sprung bestimmt, wo wir landen.

In einem von mehreren Gesprächen seit dem Seminar kamen wir darauf, dass Martin bei der Königs- und Thronsaal-Metapher zu besonderer Behutsamkeit riet. Monarchie und Feudalismus sind seit fast einem Jahrhundert abgeschafft, und autoritäre Willkür ist gerade kein prominenter Zug eines gesunden Gottesbildes. Nicht von ungefähr ist die Königs-Metapher diejenige Vorstellung, die auch in den heidnischen Religionen im Vordergrund stand, wo der Götterhimmel als Monarchie und der irdische König als gottgleich gedacht wurde. Und Jesus hat mit seiner Verkündigung der Gottesherrschaft vor allem an die königs- und machtkritischen Traditionslinien der hebräischen Bibel angeknüpft, während er außer dem kryptischen „Menschensohn“ die angebotenen Hoheitstitel eher ablehnte.

Kürzlich habe ich mit einer Konfi-Gruppe verschiedene Jesusbilder angesehen. Die stärkste positive Reaktion kam zu einem revolutionären Jesus, die befremdlichste Darstellung war ein kitschig-prunkvoller Jesus, der wie ein Kaiser (oder wie ein russischer Zar) gekleidet war. Mit dem konnten sie am wenigsten anfangen. Sie sagten: Irgendwie (!) ist Jesus ja ein König, aber doch nicht so einer. Und sie haben völlig Recht: Wenn überhaupt, dann ist Jesus doch der absolute Anti-König. Nimmt man den Hebräerbrief aus, dann kommt der Königstitel in der neutestamentlichen Briefliteratur extrem selten vor. Folglich ist es auch nicht die beste Idee, Bilder aus dem höfischen Leben eine zentrale Rolle in Gebeten, Liedern und Verkündigung einzuräumen. Für den Seher Johannes in der Verbannung und für die bedrängten Gemeinden, an die seine Offenbarung adressiert ist, war es ein revolutionärer Akt, einen Jesus zu verehren, der dem Kaiser in Rom und seinen Handlangern überlegen war. Heute aber klingt diese Sprache eher nach Märchen mit Faunen und sprechenden Bibern als nach der Alltagswelt. Wir brauchen andere Gegenbilder gegen die Unterdrückung und das Leid auf diesem Planeten.

Die Königsmetapher hat aber noch einen weiteren, gravierenden Pferdefuß, und der betrifft unser Verständnis von Leitung: Egal wie freundlich wir unser Reden vom König ausschmücken, ein gewisses hierarchisches Element bleibt immer erhalten. Wenn wir Gottesdienst primär als „Majestätsverehrung“ begreifen, dann machen wir es uns selbst schwer, Verständnis aufzubringen für die, denen unsere Formen unzugänglich sind, die sich in unserer Sprache nicht so zuhause fühlen, deren Erfahrungen in den letzten Tagen nicht so triumphal ausgefallen sind oder was auch immer sonst jemanden dazu bringen kann, sich eher verhalten zu beteiligen – weil es in der vorgegebenen Logik unserer Metapher quasi Majestätsbeleidigung ist, wenn man dem legitimen Herrscher das im zustehende Lob vorenthält.

Zum Glück gibt es viele andere Bilder, biblische und (wer hat denn gesagt, dass es immer nur biblische sein müssen?) aktuelle wie den Rebellen-Jesus. Der trifft die Person, von der die Evangelien erzählen, nämlich gar nicht so schlecht.

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