Vorsprung durch Bescheidenheit

Was für eine Woche: Papst Franziskus hat die Amerikaner und die Staatschefs der UN-Generalversammlung eindringlich an Ihre Verantwortung für den Klimawandel erinnert. Und an dessen soziale Dimension: Die globalen Folgen treffen gerade die Armen besonders hart. Für den Papst ist das ein drängendes Thema, zu dem man als Christ nicht schweigen kan. Die religiöse und republikanische Rechte in den USA schäumt deshalb, er solle sich lieber darum kümmern, „Seelen in den Himmel“ zu bekommen (in Deutschland liest sich das, in etwas moderaterer Diktion und anderer tagespolitischer Stoßrichtung, dann so).

Deutschland hat in Sachen Klimaschutz ja ein paar positive Dinge zu vermelden. Gegenläufig waren allerdings die Emissionen im Straßenverkehr. Die Ursache dafür sind die immer schwereren Fahrzeuge und die immer leistungsstärkeren Motoren, die unsere Autoindustrie verkauft. Und die Tatsache, dass über den tatsächlichen Spritverbrauch und Schadstoffausstoß gelogen wird, dass sich die Balken biegen. Die Bundesregierung hat das Greenwashing bekanntlich nicht etwa bekämpft, sondern aktiv gefördert und allen einen Bärendienst erweisen. Daran hat uns der VW-Skandal eindringlich erinnert.

Die Industrie hat sich an Mogeleien gewöhnt und, wie es derzeit aussieht, noch ein paar neue erfunden, anstatt sich ernsthaft darum zu bemühen, sparsame Autos zu bauen. Ein Kommentator schrieb diese Woche treffend, VW habe den Autos das Lügen beigebracht. Wertvolle Zeit und Energie, um sich für den überfälligen technologischen Wandel zu rüsten, wurde vertan. Aus einem Vorsprung durch Technik wurde ein Rückstand durch Täuschung.

Deutschland ist in Sachen Autos ungefähr so rational wie die Amerikaner bei Schusswaffen. Der Autokauf ist eine emotionale Sache und, abgesehen von der Finanzierung, keine Frage der Vernunft: Unsere Hersteller verkaufen Gefühle statt Transportmittel, sie werben mit grenzenloser Freiheit und ungetrübtem Fahrspaß und setzen das gekonnt ins Bild, die Autotester der großen Verlage begeistern sich in ihren Kolumnen für die schnellen und schnittigen Modelle mit besonders üppiger Ausstattung. Sparsamkeit und Effizienz taugen allenfalls für Fußnoten. Die (emotionale) Wirkung auf den Fahrer steht im Zentrum, die Wirkung auf Umwelt und Mitmenschen ist seltener von Interesse.

Der Papst hingegen fährt im Kleinwagen durch die Staaten. Auch er weiß, dass sein Weckruf an die Welt Bilder braucht. Es ist Zeit, seinem Beispiel zu folgen. Vielleicht fährt er dann eines Tages auch mal einen VW.

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Das Ende der Ungleichmacherei

Beim Thema Schöpfungsspiritualität bin ich (nicht zum ersten Mal) auf einen Zusammenhang gestoßen, der mich noch weiter beschäftigt hat. Ob bei den keltischen Christen oder in der mittelalterlichen Tradition des Franziskus oder der Hildegard von Bingen, überall da, wo ein positives Verhältnis zu Natur und Schöpfung vorherrschte (so häufig war das in der westlichen Christenheit nicht), hatten Frauen einen besseren Stand in der Kirche.

Und dort wo Frauen unterdrückt wurden, stellte sich oft auch kein ungetrübtes Verhältnis zur Natur ein. Heute wieder wunderbar zu besichtigen im neoreformierten Christentum, während der „grüne“ Papst Franziskus bei seinen Kritikern, die das Feindbild des Ökofeminismus pflegen, auch schon im Verdacht steht, Frauen zu viele Zugeständnisse zu machen.

Sind das lediglich Koinzidenzen oder besteht ein innerer, theologischer und spiritueller Zusammenhang? Wächst beides aus einer gemeinsamen Grundhaltung? Ich habe bei Ina Praetorius, die sich in Wirtschaft ist Care unter anderem mit der „Dichotomisierung der Menschheit“ befasst, Auszüge aus dem dritten Buch von Aristoteles’ Politik gefunden, die offenbar eine lange Wirkungsgeschichte hatten.

That Way by Wil C. Fry, on Flickr
Creative Commons Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 2.0 Generic License   by  Wil C. Fry 

Bisher hätte ich ja eher auf manichäische Tendenzen aus der augustinischen Theologie getippt. Aber aus den folgenden Zeilen lässt sich unschwer erkennen, wie soziale, geschlechtliche und geistig/materielle Dualismen schon seit der hellenistischen Zeit eng verknüpft sind und wie tief die Polemik gegen eine angebliche „Gleichmacherei“ in einer symbolischen Ordnung wurzelt, die zum Glück längst tiefe Risse bekommen hat, dafür aber um so verbissener verteidigt wird:

Das Lebewesen besteht primär aus Seele und Leib, wovon das eine seiner Natur nach ein Herrschendes, das andere ein Beherrschtes ist. […] Denn die Seele regiert über den Körper in der Weise eines Staatsmannes oder Fürsten. Daraus wird klar, dass es für den Körper naturgemäß und zuträglich ist, von der Seele beherrscht zu werden. […]

Gleichheit oder ein umgekehrtes Verhältnis wäre für alle Teile schädlich. […] Desgleichen ist das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen von Natur so, dass das eine besser, das andere geringer ist, und das eine regiert und das andere regiert wird. […] Auf dieselbe Weise muss es sich nun auch bei den Menschen im Allgemeinen verhalten.

Diejenigen, die so weit voneinander verschieden sind wie die Seele vom Körper und der Mensch vom Tier […] , diese sind Sklaven von Natur, und für sie ist es, wie bei den vorhin genannten Beispielen, besser, auf die entsprechende Art regiert zu werden. […] Es ist also klar, dass es von Natur Freie und Sklaven gibt und dass das Dienen für diese zuträglich und gerecht ist.

So gesehen könnte man sagen, dass sich von der Abschaffung der Sklaverei und autoritärer Staatsformen über die Gleichstellung der Geschlechter und die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt bis hin zum Ringen um ein gewaltfreies Verhältnis zur Natur ein einziger langer Kampf darum abspielt, diese fatalen Machtverhältnisse aufzulösen, die Aristoteles mit all seinen Zeitgenossen und Nachfolgern für die Grundordnung der Welt hielt. Die Spur der Dichotomisierung lässt sich über Bacon und Kant bis zu Hegel und Marx verfolgen, wie Praetorius zeigt. „Männliche“ Naturaneignung (der Eroberer, der Wissenschaftler, der Technokrat) und passive „Weiblichkeit“ stehen einander gegenüber.

Männer, die sich selbst gern als intellektuelle und spirituelle Wesen betrachten, die ihre Körperlichkeit verachten und, so gut es geht, verdrängen, projizieren diesen Aspekt des Menschseins auf Frauen und sehen in diesen vor allem das körperliche Wesen, das sie nicht sein wollen. Jede Form von Gleichheit zwischen Männern und Frauen erschüttert dieses illusionäre Selbstbild – und den damit verbundenen hierarchischen Machtanspruch.

Luther hielt ja bekanntlich gar nichts von Aristoteles. Er hatte wohl andere Gründe dafür als wir, aber vielleicht war seine Intuition ja trotzdem gar nicht so falsch. Bringen wir also zu Ende, was er begonnen hat, indem wir eine postdualistische Sicht auf die Welt entwickeln, die mit Unterschieden anders umzugehen lernt. Zum Beispiel auch dem zwischen Autochthonen und Zuwanderern.

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Die Sehnsucht, die nicht warten kann

Beim Impulstag Schöpfungsspiritualität am Samstag in Köln habe ich auch als Mitwirkender Neues entdeckt. Martin Horstmann war ein wunderbarer Gastgeber und Moderator.

Und Jan Frerichs aus Bingen hat die franziskanische Tradition beleuchtet. In diesem Zusammenhang zeigte er auch diesen Clip des WWF, der das Verhältnis von Mensch und Schöpfung schön darstellt.

Ich finde das auch aus theologischer Sicht gelungen, weil auf der einen Seite die Identifikation mit der Schöpfung steht – Laub, Gras, Erde –, auf der anderen Seite der Begriff der Sehnsucht auch das menschliche Bewusstsein, das die reine Materie transzendiert. In der Sehnsucht nach einer heilen Schöpfung verbindet sich beides. Erst dann sind auch wir wirklich heil.

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Das Gebot der Stunde, oder: Was Angela Merkel und Keith Green verbindet

Man weiß ja nie, was noch alles kommt, aber so, wie es momentan aussieht, ist die Flüchtlingsfrage die größte politische Herausforderung dieses Jahrzehnts, für Deutschland wie für Europa – und die größte geistliche Herausforderung für uns Christen.

Die letzen Wochen waren eine Sternstunde der Zivilgesellschaft, die eine zögernde, planlose und widerwillig agierende Bundesregierung (verkörpert durch den Innenminister) vor sich hergetrieben hat. Dessen „Lösungen“, angefangen vom Beharren auf den Dublin-Verträgen, die die Probleme auf Italien und Griechenland abwälzten, bis hin zum kopflosen Hin und Her, was die Seenotrettung im Mittelmeer angeht, haben samt und sonders versagt und dazu beigetragen, dass sich auch in den anderen europäischen Ländern die Illusion verbreitet hat, man könne sich abschotten. Der Bund deutscher Kriminalbeamter fasste das Versagen jüngst so zusammen:

Hätten sich unsere verantwortlichen Politiker auf EU- und Bundesebene nicht diesen Erkenntnissen nach dem Prinzip der drei Affen (nichts hören, nichts sehen, nichts sagen) verschlossen, hätten wir uns auf die Situation ganz anders einstellen können. Wir hätten heute keine überquellenden Züge und Bahnhöfe und überforderte Länder, Städte und Kommunen gehabt, die nicht wissen, wie sie der Lage noch Herr bleiben können. Wir hätten fast 5 Jahre Zeit gehabt, uns auf die kommenden Herausforderungen einzustellen. Wir hätten Aufnahmeeinrichtungen in ausreichender Anzahl aufbauen und die notwendige Logistik bereitstellen können. Wir hätten die Flüchtlinge menschenwürdig in ihre Unterkünfte transportieren und unterbringen können. Haben wir aber nicht.

Syrian Refugees by FreedomHouse, on Flickr
Creative Commons Creative Commons Attribution 2.0 Generic License by FreedomHouse

Das muss nun mühsam korrigiert werden, ebenso wie die Versäumnisse dabei, sich rechtzeitig auf den Andrang derer einzustellen, die vor Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat fliehen mussten. Erstaunlicher- und erfreulicherweise hat sich die Kanzlerin hier nun klar positioniert, zuletzt gestern, als sie klarstellte:  „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Ein paar wundersame Schwarze hingegen preisen sich stolz als die Stimme der Vernunft an, weil vermeintlich naive Idealisten vor ihrer eigenen kopflosen Hilfsbereitschaft gerettet werden, indem an der Grenze zu Österreich wieder kontrolliert wird. Das alles sind offensichtlich Scheingefechte. Konkret anzubieten haben die Advokaten der Abschottung nur Parolen und bürokratische Konzepte, die schon versagt haben. In dieser Situation reißt sogar bayerischen Katholiken der Geduldsfaden: Der Fürther Dekan Hermany hat die Einladung von Viktor Orban zur CSU nach Kloster Banz nächste Woche scharf kritisiert. Orban schürt in Ungarn seit Jahren Fremdenfeindlichkeit und schränkt die Bürgerrechte massiv ein.

Bleiben wir kurz in der katholischen Welt: Paul M. Zulehner hat in einem äußerst lesenswerten Vortrag zum Umbau der Kirchen in dieser Krisenzeit jüngst auf Jesus und das Evangelium vom Reich Gottes, die Rede vom kosmischen Christus und das Pfingstereignis hingewiesen, und folgert dann:

Die Sorgen der Kirche um das Heil ihrer Mitglieder sowie um die ihr ständig abgeforderte Reform an Haupt und Gliedern, werden nicht belanglos, rücken aber in den Hintergrund. Im Mittelpunkt steht nunmehr die Sorge Gottes um seine eine Welt. […] Das relativiert die Kirche hin auf die mit der Weltgeschichte idente Heilsgeschichte, weitet also ihren Horizont soteriologisch enorm. Wesentlich ist für diese Überlegungen, dass die Menschheit bei allen Unterschieden der Kulturen und Personen als eine gesehen wird. Weil nur ein Gott ist, ist jede eine, ist jeder einer von uns. Also ist auch Aylan, das tote Kind am Strand von Kos, einer von uns.

Die leitenden Geistlichen der Evangelischen Landeskirchen haben diese Woche erfreulich eindeutig festgestellt:

Gott liebt alle seine Geschöpfe und will ihnen Nahrung, Auskommen und Wohnung auf dieser Erde geben. Wir sehen mit Sorge, dass diese guten Gaben Gottes Millionen von Menschen verwehrt sind. Hunger, Verfolgung und Gewalt bedrücken sie. Viele von ihnen befinden sich auf der Flucht. So stehen sie auch vor den Toren Europas und Deutschlands. Sie willkommen zu heißen, aufzunehmen und ihnen das zukommen zu lassen, was Gott allen Menschen zugedacht hat, ist ein Gebot der Humanität und für uns ein Gebot christlicher Verantwortung.

Auch wenn nur ein Teil der Helfer, die in Wien, München und an vielen anderen Orten sich spontan organisiert haben, um die Versäumnisse der Politik zu beheben und Flüchtlingen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sich explizit als Christen versteht, scheint es mir angemessen, diese Welle der Nächstenliebe als ein Werk Gottes zu verstehen – so wie vor allem das rechtskonservative Christentum, das mit muslimischen Neuankömmlingen noch heftig fremdelt, demnächst wieder die deutsche Einheit als ein solches Werk feiert.

Mir kam heute ein uralter Song von Keith Green in den Sinn, der in diesem Zusammenhang ganz aktuell klingt. Vieles, was Green in seiner Konzentration auf Seelenrettung eher metaphorisch formulierte, ist inzwischen ganz konkret:

Do you see, do you see all the people sinking down?
Don’t you care, don’t you care are you gonna let them drown?
How can you be so numb not to care if they come?
You close your eyes and pretend the job’s done

Ein Volltreffer auch der Verweis auf Matthäus 25, ich nenn’ das einfach mal prophetisch:

… He brings people to you door
And you turn them away as you smile and say
God bless you, be at peace and all heaven just weeps
‚Cause Jesus came to you door you’ve left Him out in the street

Die Frage ist also, ob wir Gott bei diesem Werk tatenlos oder mürrisch zusehen, oder uns dieser Bewegung anschließen. Der Kampf um ein offenes, barmherziges und fremdenfreundliches Europa, die Auseinandersetzung mit unseren Anteilen an den Kriegen, vor denen die Menschen fliehen (Spätfolgen des Kolonialismus, deutsche/europäische Waffenexporte, der Kuschelkurs mit den reichen Ölstaaten auf der arabischen Halbinsel, die den IS und andere Terrorgruppen fördern), die dringen nötige psychologische Unterstützung für traumatisierte Menschen und das Ringen um gute Integration und dauerhaften sozialen Frieden wird noch viel Zeit und Kraft kosten. Und die globalen Flüchtlingsströme werden mit fortschreitendem Klimawandel und dessen soziopolitischen Folgen dauerhaft eher noch ansteigen als nachlassen.

Bei Richard Beck habe ich neulich das folgende Zitat von Thomas Merton gefunden. Es motiviert und entlastet zugleich, und beides ist nötig:

Du bist nicht groß genug, um das gesamte Zeitalter wirksam anzuklagen, aber sagen wir einfach: Du befindest dich im Widerspruch. Du hast keine Position, aus der heraus man Befehle erteilen kann, aber du kannst Worte der Hoffnung sprechen. Soll das die Substanz deiner Botschaft sein? Sei menschlich in dieser unmenschlichsten Zeit von allen; bewahre das Bild des Menschen, denn es ist das Bild Gottes.

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Köpfe in Ketten

Unsere Arme sind Zweige, mit Früchten überladen,
Der Feind schüttelt sie
Er schüttelt uns, Tag und Nacht;
Und um uns leichter und unbekümmerter
plündern zu können,
Legt er nicht mehr unsere Füße in Ketten,
Sondern unsere Köpfe,
Meine Geliebte.

Nazim Hikmet, „Die Feinde“ (zitiert bei Jean Ziegler, in: Ändere die Welt)

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Wertvolle Fehleranalyse

Srdja Popovic ist ein Weltreisender in Sachen gewaltfreier Revolution. Die Quintessenz seiner Einsichten hat er in Protest! festgehalten. Wer schon einmal Walter Wink und Gene Sharp gelesen hat, wird dort viel Vertrautes wiederfinden.

Am meisten sind mir noch die im Buch verstreuten Kommentare über fehlgeschlagene Revolutionen nachgegangen. Popovic hält sich nicht übermäßig lange mit der Analyse des Scheiterns auf, aber er gibt Hinweise, aus denen sich eine komplette Fuckup-Night bestreiten ließe. Vermutlich lassen die sich kritisch kommentieren und hinterfragen (das kann ich hier nicht leisten), doch interessant sind sie allemal, weil das Scheitern der Opposition in vielen Ländern ja die Frage aufgeworfen hat, ob es denn überhaupt möglich ist, eine Gesellschaft von unten zu verändern.

  • Die Occupy-Bewegung hat es zum Beispiel versäumt, ihre Kultur und Gruppenidentität zu öffnen für den Rest der 99%, der nicht „Hiphop hört, politisch eher links der Mitte steht und Nischenfernsehen liebt“, aber dennoch vom neoliberalen Wirtschaftssystem im Stich gelassen wurde,
  • und sie konzentrierte sich auf eine Taktik (Besetzung, Proteste, Basisdemokratie), ohne weiter reichende Strategien zu entwickeln.
  • Mehrere Bewegungen des arabischen Frühlings haben das Ziel zu kurzsichtig bestimmt, indem sie auf den Sturz des jeweiligen Diktators hinarbeiteten, aber es versäumten, eine funktionierende Demokratie aufzubauen.
  • Widerstand, der gewaltfrei bleibt, hat eine Erfolgsaussicht von 53% gegenüber 26% bei Anwendung von Gewalt, dieser Punkt hat sich vor allem in Syrien ausgewirkt. Fünf Jahre nach einer gewaltfreien Revolution sind noch 40% dieser Länder demokratisch, nach einem gewaltsamen Umbruch nur 5%, das haben Erica Chenoweth und Maria J. Stephan in Why Civil Resistance Works ermittelt. Gewalt macht den Diktator stark, sie treibt ihm verängstigte Menschen in die Arme, sie schließt fast alle vom Widerstand aus, die im Umgang mit Waffen unerfahren sind.
  • Die Demonstranten auf dem Platz des himmlischen Friedens, schreibt Popovic, hat es versäumt, die angebotenen Zugeständnisse der chinesischen Regierung zu akzeptieren (gewiss nur als Teilerfolg, als erster Schritt, als eine Möglichkeit, sich als verändernde gesellschaftliche Kraft zu profilieren), und überspannten in ihrem jugendlichen Idealismus den Bogen.
  • Die orangene Revolution in der Ukraine schließlich zeigt, was passiert, wenn man zu früh zu siegesgewiss ist und es nicht gelingt, die innere Einheit einer Bewegung für Demokratie, Transparenz und Menschenrechte zu wahren. Popovic trocken: „Eine gewaltlose Revolution ist wie ein Schlag beim Golf: Sie müssen voll durchziehen.“

Der Gedanke, der sich mir angesichts dieser Fehlschläge am nachdrücklichsten eingeprägt hat, war jedoch der: Es gibt keinerlei Garantie auf Erfolg, der Kampf kann uns viel kosten und (selbst wenn wir alles richtig machen!) am Ende doch wenig bringen, aber der Preis des Nichtstuns ist noch viel höher.

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Verhörhammer

Ich wollte eigentlich nur den Verkehrsfunk hören, als der Radiosender seinen neuesten „Verhörhammer“ präsentierte. Ein Schnipselchen aus einem englischen Popsong enthielt scheinbar eine Nachricht auf Deutsch. Der Moderator erklärte zur Sicherheit auch genau, was ich gleich hören würde. Und es funktionierte so halbwegs, das Genuschel konnte man so verstehen.

Später versuchte ich, das Soundbyte in meinem Kopf auf seine ursprüngliche Bedeutung hin zu analysieren, aber es gelang mir nicht. Die Deutung, die mir vorab aufgedrängt worden war, ließ sich nicht von der Erinnerung trennen. Und es fehlte der Kontext des gesamten Songs.

Das Erlebnis ging mir noch eine Weile nach. Passiert das auch in anderen Zusammenhängen, dass ich mir Deutungen aufdrängen lasse, noch bevor ich eine Erfahrung mache?

Funktioniert das mit Vorurteilen und Ressentiments in Politik und Gesellschaft ähnlich, dass solche Stimmen ein freies Erleben verhindern und dass von da ab jede Erfahrung das Vorurteil nur noch festigt? Kann man öffentlich punkten, indem man eine möglichst plakative (Fehl-)Deutung einer Sache (nehmen wir nur mal die Gendertheorie…) früh genug hinausposaunt, dass die meisten gar nicht erst unbefangen hinhören können?

Fremdenfeindlichkeit scheint oft nach diesem Muster zu funktionieren: Gerade da, wo es kaum Erfahrungen mit Fremden gibt, lassen sich besonders viele Menschen erzählen, wie bedrohlich diese doch seien. Und wenn sie Fremden dann mit dem Filter dieser Erwartung je einmal begegnen sollten, sehen sie nur noch das Vertraute, das sie sehen sollen und wollen, egal wie viele Indizien gegen ihre Anschauung sprechen.

Aber auch in anderen Zusammenhängen gibt es Leute, deren Deutung schon vor aller Wahrnehmung feststeht. Ich habe mir dann übrigens keine Mühe mehr gegeben, die eigentliche Bedeutung des Verhörstücks zu ermitteln. Wann immer es aber von Bedeutung ist, etwas richtig zu verstehen, würde ich gern

  • ungestört hinhören dürfen,
  • den Kontext einbeziehen können und
  • mir bewusst machen, dass ich einen Text nicht in meiner, sondern in seiner Sprache verstehen muss
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Falsches Entgegenkommen

Heute morgen war in allen Zeitungen von einem Eklat bei „Hart aber Fair“ zu lesen. Die Sendung hält sich hartnäckig in den Schlagzeilen, der Quote dürfte das freilich nicht schaden.

Diesmal bestand der Skandal darin, dass unser bayerischer Innenminister das Wort „Neger“ verwendet hat. Er tat dies, wie er später durchaus glaubwürdig versicherte, obwohl der Begriff nicht zu seinem normalen Vokabular gehört; vielmehr hatte ein Anrufer (mutmaßlich aus Bayern) ihn verwendet und Herrmann wollte dem eine andere Wendung geben, indem er auf Roberto Blanco und den FC Bayern verwies.

Vielleicht ist das aber eben auch symptomatisch dafür, wie rechte Ressentiments von konservativen Politikern (und leider auch einzelnen Kirchenmenschen) aufgegriffen werden. Man versucht, die Sprache der Stammtischbrüder (so wird das ja immer eingeordnet: rustikal, aber nicht zwingend bösartig) aufzunehmen, ohne sich ihrer Stoßrichtung in vollem Umfang anzuschließen.

Das Problem ist, dass es sich hier durch die Bank um Negativstereotype handelt (Wirtschaftsflüchtlinge, Asylanten, Asylflut, Pleitegriechen, Sozialschmarotzer und was da noch alles herumschwirrt – bei der christlichen Rechten etwa die verhassten „Gutmenschen“). Und diese Negativstereotype macht man, indem am sie um Wählergunst werbend aufnimmt, statt sie energisch zurückweist, immer ein bisschen salonfähiger. Entsprechend dreist treten die Rechten inzwischen überall da auf, wo sie auf ein solches „Verständnis“ hoffen dürfen.

Vielleicht setzt sich diese Erkenntnis nach den Ereignissen der letzten Wochen nun auch bei den Konservativen durch. Das Verständnis für schäbige Angstmacher als Grundhaltung ist das eigentliche Problem. Ob es nur taktischer Natur ist, etwa um die Bildung rechter Parteien zu verhindern bzw. deren Wählerpotenzial demokratisch und rechtsstaatlich „einzubinden“, spielt nämlich irgendwann keine Rolle mehr.

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