Unsichtbare Unfreiheit

Unter der treffenden Überschrift „Selbstzufriedene Unmündigkeit“ betrachtet Felix Stephan für Zeit Online zwei Autorinnen aus China und fragt, warum dort eigentlich kaum jemand gegen die autoritäre Regierung aufbegehrt. Wirklich bemerkenswert daran sind nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten mit dem Westen:

Von Chinesen höre man oft, dass ein Einzelner nichts ändern könne und dass das hier eben das Leben sei, mit dem man irgendwie zurechtkommen müsse. Dem Einzelnen bleibe nur, das Beste aus der eigenen Hilflosigkeit zu machen, also zu reisen und in der Galerie Lafayette Haussmann einkaufen zu gehen. Die persönlichen Freiheiten überwiegen die politischen.

Stephan zitiert Guo Xiaolu, die in Zürich lebt, mit den Worten

Früher hatten Kunst und Literatur einen sehr viel größeren Einfluss auf die Politik, aber heute leben wir in einer globalen Konsumkultur, in der kommerzielle Werte die Richtung der Politik vorgeben.“

Die Fragestellung des Artikels ähnelt der von Walter Wink in seiner Powers-Trilogie:

Wie ist es möglich, dass buchstäblich Milliarden von Menschen es zulassen, hereingelegt und abgezockt zu werden von kleinen elitären Zirkeln, die sich auf Armeen stützen, die bei weitem nicht ausreichen um die Weltbevölkerung zu unterdrücken? Das ist wohl das größte politische Mysterium aller Zeiten: das regelmäßige Versagen der Massen, ihre zahlenmäßige Überlegenheit auszunutzen, um ihre Unterdrücker abzuschütteln.

Wink hat in seiner theologischen Deutung der paulinischen Rede von „Mächten und Gewalten“ herausgearbeitet, wie wirtschaftliche Strukturen und gesellschaftliche Institutionen Menschen dazu bewegen, sich aus freien Stücken in den Dienst derselben zu stellen, und warum den Betroffenen Widerstand oder ein Bemühen um Veränderung aussichts- und sinnlos erscheint.

Diese Beobachtungen decken sich an entscheidenden Stellen mit dem, was Byung-Chul Han in Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken schreibt. Es ist immer weniger äußerer Zwang nötig, um Menschen zur Konformität zu bewegen. Im Unterschied zu Deleuze und Foucault, die nach den Funktionsweisen der Disziplinargesellschaft fragten, sieht er in der Leistungs- und Konsumgesellschaft neoliberaler Prägung viel subtilere Formen der Macht und Ausbeutung am Werk.

Die Machttechnik des neoliberalen Regimes nimmt eine subtile Form an. Es bemächtigt sich nicht direkt des Individuums. Vielmehr sorgt es dafür, dass das Individuum von sich aus auf sich selbst so einwirkt, dass es den Herrschaftszusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit interpretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Ausbeutung fallen hier in eins.

Das neue globale Machtgefüge beeinflusst auch die Einstellung zu politischen Fragen. Wahlbeteiligungen sinken stetig. Die Mentalität wandelt sich in eben jene Richtung auf die selbstgefällige Unmündigkeit:

Die Freiheit des Bürgers weicht der Passivität des Konsumenten. Der Wähler als Konsument hat heute kein wirkliches Interesse an der Politik, an der aktiven Gestaltung der Gemeinschaft.  Er ist weder gewillt noch fähig zum gemeinsamen, politischen Handeln. Er reagiert nur passiv auf die Politik, indem er nörgelt, sich beschwert, genauso wie der Konsument gegenüber den Waren oder Dienstleistungen, die ihm nicht gefallen.

Es ist in dieser Situation schon gar nicht mehr klar, gegen wen man in dieser Situation eigentlich aufbegehren sollte. Big Data weiß vermutlich mehr über uns als staatliche Geheimdienste, und diese informationen haben die Unternehmen von uns allen freiwillig ausgehändigt (bzw. ausgehandygt) bekommen. Damit ist auch die theologische Aufgabe für eine Art „Befreiungstheologie des Konsumzeitalters“ formuliert: Die klassischen Strategien der großen Bürgerrechtsbegewegungen des 20. Jahrhunderts setzen voraus, dass Unterdrücker klar benannt werden können und man mit dem Finger auf die Zwänge zeigen kann. Das wird immer schwieriger.

Wink hat ganz zu Recht stets betont, dass diese Mächte eine sichtbare und eine unsichtbare Seite haben. Er hat herausgearbeitet, dass uns Paulus keine metaphysische Theorie an die Hand gibt, sondern eine Sprache schenkt, in der bestimmte Erfahrungen überhaupt thematisiert und gedeutet werden können. In der fluiden Moderne aber tritt das Sichtbare und Materielle zunehmend zurück (wir konsumieren Emotionen, die nur noch locker an bestimmte Produkte geknüpft sind, von denen viele digital und damit weitgehend immateriell sind). Wenn uns für diese neuen unsichtbaren Unfreiheiten der Blick und die Worte fehlen, droht eben jene Unmündigkeit, von der Stephan schreibt.

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