Muss Blatter bald Toiletten putzen?

Es ist eines der am häufigsten zitierten Jesusworte, dass die ersten die letzten sein werden und umgekehrt (Mt 19.30). Angesichts der Tatsache, dass auf dieser Welt unzählige Menschen unter der Willkür weniger Mächtiger leiden, ist das erste Gefühl, das diese Aussage hervorruft, Erleichterung und Genugtuung – völlig zu Recht. Die Vorstellung von einer Welt, in der Sepp Blatter und seine Handlanger die Klos putzen, Putin PET-Flaschen sammelt (das ist nur der Alliteration geschuldet, es gibt freilich keine PET-Flaschen mehr in dieser Welt, zum Verdruss von Nestlé) – das hat schon was.

 

Viele Revolutionen sind genau diesem Schema der Umkehrung der Machtverhältnisse gefolgt. An den Gefängnissen und Friedhöfen ließ sich das gut ablesen. Und die Unterlegenen planten schon, sofern sie noch konnten, den Umsturz des Umsturzes. Hat Jesus das so gemeint und gewollt?

Wenn nämlich das Reich Gottes darin besteht, dass niemand mehr Macht über andere ausübt und alle gleich geachtet und gleich unmittelbar zu Gott sind, wenn Gottes Herrschaft das Herrschen über andere kategorisch ausschließt, wie kann es dann noch „Letzte“ geben?

Allenfalls eben so: Dass die ehemals Überlegenen schon die Gleichheit als eine solche Zurücksetzung, Demütigung und Kränkung empfinden, dass sie unter allen Ebenbürtigen die einzigen sind, die unglücklich über diese fairen Verhältnisse sind. Das ist ja das Absurde, dass manchen Zeitgenossen nichts so gegen den Strich geht wie die Gleichheit aller Menschen. Wenn ihre Privilegien futsch sind, geht für sie die Welt unter. Wenn unter mir niemand mehr ist,  wer bin ich dann noch?

Und dann sitzen sie im Schmollwinkel wie der alte Jona unter seiner verdorrten Rizinusstaude und schimpfen über „Gleichmacherei“, „Gutmenschen“, „Sozialismus“. Wenn jemand mal eine Vorstellung von „Hölle“ sucht, die irgendwie mit der Botschaft Jesu kompatibel ist – das wäre ein Ansatz.

Ob das allerdings ewig dauert? Ich kann es mir nicht vorstellen.

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Blutige Erlösung (2): Stellvertretung

Wie kann es sein, dass der Tod eines einzelnen sich auf das Leben vieler, möglicherweise aller Menschen auswirkt? Was für die einen eine Selbstverständlichkeit ist, die sie nie angezweifelt haben, ist für andere schwer einzusehen. Die Tage haben wir das wieder einmal in einer Gesprächsrunde diskutiert.

So lange wir uns in der Metapher von Kult und Opfer bewegen, ist die Sache klar. Da gehört (ähnlich wie im magischen Denken) die „Stellvertretung“ zu den ungeschriebenen Regeln des Spiels: Ein Opfertier repräsentiert eine Gruppe von Menschen, und dann kann auch das Lebewesen noch durch Lebensmittel ersetzt werden und es ist immer noch ein „gültiges“ Opfer, das seinen rituellen Zweck erfüllt.

Was aber, wenn diese Selbstverständlichkeit nicht schon da ist? Welche Analogien lassen sich dann finden? Stellvertretung „funktioniert“ in unserer Gesellschaft über Institutionen und Strukturen. Die ermächtigen Menschen, für ganze Gruppen als deren Repräsentanten Entscheidungen zu treffen und Zusagen zu geben, im Gegenzug gibt es (wenigstens auf dem Papier) eine Pflicht zur Rechenschaft und regeln für die Entscheidungsfindung. Der Bundespräsident kann nur ein Gesetz unterschreiben, das der Bundestag zuvor beschlossen hat, und manchmal muss auch der Bundesrat noch zustimmen.

Es gibt aber auch, und damit kommen wir Jesus wieder näher, eine charismatische, nichtinstitutionelle Form der Stellvertretung oder Repräsentanz. Wir finden sie in Bewegungen und deren Führergestalten. Und dann lassen sich ähnliche Aussagen finden: Als Martin Luther King ermordet wurde, da galt dieser Anschlag nicht nur ihm als Person, sondern der Bewegung, für die er stand. Er wusste von der Gefahr und nahm das Risiko bewusst auf sich. Insofern starb King für die Rechte der Afroamerikaner, man kann aber auch sagen, dass er „für alle Amerikaner“ starb, denn der Rassismus belastete den Frieden im ganzen Land. Man kann vielleicht noch einen schritt weitergehen und sagen, er starb für alle Menschen, die in der einen oder anderen Form von Rassismus und sozialer Ausgrenzung betroffen sind – Opfer wie Täter. Ganz ähnlich lässt sich das von Oscar Romero sagen, der heute seliggesprochen wird für seinen todesmutigen Einsatz für die Armen. Und freilich galt dieser Einsatz auch den Reichen und Mächtigen, die er zur Umkehr rief.

Wenn wir bei Märtyrern sind – freilich nicht der völligen Perversion dieses Begriffs durch Selbstmordattentäter, sondern bei Menschen, die sich für die Würde und Rechte anderer einsetzen und dabei Gewalt erleiden – dann könnten viele Zeitgenossen auch noch mit, wenn wir sagen, sie setzen sich für etwas ein, das ihnen (und womöglich uns auch) „heilig“ ist. Etwa die Vision, die wir in der Erklärung der Menschenrechte formuliert finden. Wenn Menschen ihr Leben riskieren für etwas, das uns heilig ist, dann tun sie das in einem gewissen Sinn immer auch „für uns“ mit, sie repräsentieren alle Gleichgesinnten, und die Gewalt, die sie erleiden, wird von allen als persönlicher Angriff erlebt, die sich mit ihnen identifizieren.

Wenn wir von da aus auf Jesus zurückschauen und uns vergegenwärtigen, dass er quasi auf der Grenzlinie – beziehungsweise im Niemandsland – zwischen Juden- und Heidentum starb (oder in römischer Sprache: Römern und „Barbaren“), dann lässt sich das eben analog verstehen wie Kings Bedeutung für Angehörige aller Rassen und Völker oder Romeros für die Armen und deren Unterdrücker. Paulus scheint das in Galater 3,28 so verstanden zu haben, und er fügt den konfliktträchtigen Unterschied der Geschlechter dort gleich noch hinzu, ebenso wie die soziale Kluft zwischen Herren und Sklaven (das Kreuz war die Strafe der Herren für aufständische Sklaven). Ganz verschiedene Abgrenzungen und Identifikationen treffen also in diesem Punkt zusammen.

Es lassen sich also genug Kategorien für Konflikte und Zerwürfnisse finden, die auf uns zutreffen. Damit sind auch „unsere Sünden“ markiert und qualifiziert. Der Katholik James Alison hat sie in einer erfrischenden Interpretation des Sühnegeschehens summarisch so beschrieben: »… he was giving himself entirely without ambivalence and ambiguity for us, towards us, in order to set us “free from our sins” – “our sins” being our way of being bound up with each other in death, vengeance, violence and what is commonly called “wrath”.«

Inwiefern lässt sich das als „Erlösung“ deuten? Märtyrer wie King, Romero und andere weigern sich, sich in die ihnen zugewiesene Opferrolle zu fügen. Sie weigern sich ebenfalls, die gewaltsame Opfer-Täter-Relation einfach umzukehren. Sie demonstrieren damit eine Freiheit, sich über die Logik des Aufrechnens und der Vergeltung hinwegzusetzen. Sie räumen dieser Freiheit einen höheren Stellenwert ein als der eigenen Unversehrtheit und dem Überleben. Sie sind überzeugt davon, dass ein solcher Tod nicht sinnlos ist, sondern die Gewalttäter und deren Motive demaskieren, ihre fadenscheinigen Legitimierungen erschüttern und damit schließlich den Niedergang und Zerfall ihrer Macht herbeiführen kann.

Wenn man das nun in einem weiteren Interpretationsschritt zusammendenkt mit dem paulinischen „Gott war in Christus“, dann folgt daraus:

  • Gott solidarisiert sich mit den Opfern und öffnet den Tätern die Tür zur Versöhnung
  • Er „braucht“ keine Gewalt, sondern er stellt sie bloß in ihrer ganzen Abscheulichkeit
  • Er legitimiert auch keine menschliche Gewalt als „notwendig“
  • Er offenbart einen Gott, der frei ist von Rachegelüsten und Vergeltung (und sie auch nicht als „Strafe muss sein“ tarnt)
  • Er macht als Opfer von Gewalt das Angebot der Versöhnung
  • In dem allen wird ein Neuanfang möglich

Fortsetzung folgt, Teil 1 steht hier

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Soundtrack zum nächsten Bahnstreik

Nun ist der Bahnstreik (erst einmal?) wieder vorbei. Für alle, die sich schon drauf eingestellt hatten (und erst mühsam wieder umschalten im Kopf) oder noch am Zweifeln sind, ob es auch wirklich der letzte war, hier schon mal ein möglicher Soundtrack für die nächste Runde:

Slow Train Coming – Bob Dylan fährt im Regionalzug weiter

Homeward Bound – Simon und Garfunkel studieren den Notfahrplan

Downtown Train – Rod Stewart wartet vergeblich auf seine Mitreisende

Railway Hotel – Mike Batt hat den Anschlusszug verpasst

High Speed Train – REM fahren in einem ICE, der nicht in Wolfsburg hält

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Don’t Answer Me – Alan Parsons in der Warteschleife der Bahn-Hotline

If I Could Turn Back Time – Cher wäre lieber mit dem Auto gefahren

Don’t Leave Home – Dido sagt die Reise gleich ganz ab

On the Evening Train – Johnny Cash ist streikmüde

Nine Million Bicycles – wo hatte Katie Melua nochmal ihr Fahrrad abgestellt?

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Credo (A.D. 2015)

Den Impuls für den folgenden Text hat mein Freund Andreas Ebert mir am vergangenen Samstag in einem Münchner Biergarten gegeben. Er ist nicht mehr als ein Zwischenstand. Ich habe auf jede Art der Absicherung gegen Missverständnisse verzichtet, weil auch das zu einem Bekenntnis gehört. Ich habe auch auf theologische Standardformeln so weit wie möglich verzichtet, weil sie meist ins Reich der Gewohnheit deuten.

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Ich glaube, dass im Ursprung alles gut ist und dass es das am Ende auch wieder sein wird. In der Zwischenzeit ist es, wie wir alle wissen, ziemlich kompliziert.

Ich glaube, dass diese Welt der Quanten und Quasare nicht von Ungefähr denkende und fühlende Wesen beherbergt, dass sie geistreich, kommunikativ und schöpferisch ist: Lebende Verbindungen, aus denen heraus Überraschendes geschieht – wie gute Poesie, zwischen deren Zeilen sich mehr andeutet, als ich erfasse.

Ich glaube, dass wir Denkende und Fühlende das Potenzial haben, über uns hinauszuwachsen, oder das Gute, das wir uns wünschen, zu sabotieren. Und dass wir beides tun. Doch mitten in dieser Geschichte des zaghaften Lernens und krachenden Scheiterns begegnen manche einer Stimme, die herausruft: Aus der Stadt in die Steppe, aus dem Frondienst in die Freiheit, von den Hecken und Zäunen an den gedeckten Tisch zu Wein, Musik und Tanz.

Ich glaube, dass dieser Ruf allen gilt und sich einzigartig ausspricht im Leben Jesu von Nazareth, der diese Botschaft nicht nur bringt, sondern ist. Weil er bei den Abseitigen erscheint und ihnen eine Stimme gibt, mit seiner Zuwendung soziale, mentale und physische Wunden heilt, die Nutznießer der alten Ordnung aufschreckt, eine Gerechtigkeit an den Tag legt, die noch ihre Feinde umarmt, und Menschen in eine herrschaftsfreie Ordnung einweiht, wird er des Verrats und der Verführung angeklagt und im Namen der Staatsräson zur Abschreckung von Nachahmern am Kreuz brutalstmöglich vernichtet.

Ich glaube, dass der Autor der kosmischen Poesie, die wir „Welt“ und „Geschichte“ nennen, die Gerechtigkeit vor den Mächtigen gerettet und damit ein neues Kapitel aufgeschlagen hat. Sein Ruf der Liebe dringt durch das Leid, durch Hass und Gleichgültigkeit bis hinein in den absoluten Abgrund des Grabes. Das Neue beginnt dort – mit einer Person, die durch verschlossene Türen geht. Und es setzt sich fort in einer Gemeinschaft von Ausbrechern, die (gewiss oft zögernd und zweifelnd, dann aber auch wieder zielstrebig und mutig) soziale, kulturelle und ethnische Schranken überwinden.

Ich glaube, der Geist des Lebens befreit dazu, dass wir zu unserem verwundeten Menschsein stehen, mit uns selbst und anderen versöhnt leben, zerstörerischen Kräften in uns selbst und um uns her trotzen, und gelassen in die Zukunft schauen.

Ich glaube, dieses alltägliche Wunder ist der Vorbote einer großen Verwandlung.

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Blutige Erlösung: Die Meta(pher)-Ebene

In den immer wieder aufbrechenden Diskussionen über die Frage, inwiefern die Kreuzigung Jesu von Nazareth eine Heilsbedeutung für die ganze Welt hat, geraten die Ebenen, auf denen wir diskutieren, oft durcheinander. Es geht um ein Ereignis, nämlich die Hinrichtung eines jüdischen Propheten nach einem politischen Prozess in Jerusalem zur Zeit des Passafestes (um nur ein paar wichtige Stichpunkte zu nennen), und um dessen Deutung.

Freilich kehrt sich dieser Zusammenhang für die meisten Christen insofern um, als sie eine bestimmte Deutung schon mitbringen, wenn sie die Ereignisse betrachten. Das führt dann tendenziell dazu, dass man die übernommene Deutung in den Texten wieder entdeckt und nicht auf die Idee kommt, sich noch nach alternativen Schlussfolgerungen umzusehen. Selbst dann nicht, wenn diese in der Bibel stehen, oder der Bibel ähnlich nahe stehen.

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Die bekannteste dieser Deutungen ist die vom stellvertretenden Strafleiden: Jesus erleidet am Kreuz die Strafe für die Sünden entweder der Mensch- oder zumindest der Christenheit (bzw. in der Regel noch präziser: der einzelnen Christen) und macht es damit möglich, dass Schuld aller Art vergeben werden kann. Im Umkehrschluss heißt das, dass eigentlich jeder einzelne Sünder diese grausame, zum qualvollen Tod führende Folter verdient gehabt hätte. Das andere Problem: Die einzige Instanz, die eine solche Strafe verhängen (und einen Deal zugunsten der eigentlich Schuldigen ermöglichen) könnte, ist Gott selbst. Veranlasst hier also der liebende Vater im Himmel die brutale Hinrichtung seines Sohnes? Und hätte das, wenn dieser Tod denn schon „notwendig“ war, nicht etwas humaner ausfallen können? Ist als Gewalt das Mittel der Wahl, mit dem Gott Frieden, Versöhnung und Ordnung in die Welt bringt?

Die Deutungen basieren alle auf Metaphern, also sprachlichen Bildern. Wenn wir heute zum Beispiel in den Nachrichten von einem „Dammbruch“ lesen (weil ein Gericht Sterbehilfe erlaubt, weil die Griechen einen Teil ihrer Schulden nicht zurückzahlen, weil die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte drastisch zunehmen), dann bricht da natürlich keine Mauer und kein Wall und es ergießt sich auch keine verheerende Springflut oder Schlammlawine, es werden geltende Konventionen außer Kraft gesetzt mit entsprechenden Folgen für die gesamte Gesellschaft.

[Gleichzeitig ist die Metapher vom Dammbruch auch ein Bild, das ganz bewusst darauf abzielt, aufzurütteln oder Ängste zu maximieren: Für einen Fundamentalisten ist jeder Akt der Bibelkritik ein „Dammbruch“, weil damit die „objektive“ Autorität der Schrift insgesamt einem Urteil der „subjektiven“ Vernunft unterworfen wird – wer sich also heute fragt, ob die Pastoralbriefe von Paulus geschrieben wurden, der bestreitet morgen die Gottessohnschaft Christi oder rüttelt an den ewig gültigen Fundamenten der Schöpfungsordnung im Sinne der christlichen Ehe und Familie.]

Mit Metaphern ist es wie mit Modellen. Wenn ein (sprachliches, grafisches, dreidimensionales) Modell uns hilft, das Wesentliche an einem Vorgang oder Sachverhalt besser zu verstehen, hat es seinen Zweck erreicht. Der Stadtplan ist dazu da, dass ich den Bahnhof oder das Rathaus finde. Je intuitiver das geschieht, desto besser. Wenn es aber länger dauert, den Plan zu verstehen, als den Weg selbst zurückzulegen (und mich dabei notfalls durchzufragen), dann stellt sich die Frage, wie sachdienlich und wie nützlich mein Modell ist.

Metaphern laden zu Assoziationen ein. Wenn aber die spontanen Assoziationen eher befremdlich als erhellend ausfallen, dann erfüllen sie ihren Zweck nicht. Manche Begriffe und Bilder sind entweder nichtssagend oder verbrannt. Wollen wir also beurteilen, wie nützlich unsere Metaphern sind, dann muss sich das einerseits an den geschichtlichen Ereignissen orientieren, die sie erläutern sollen, und andererseits am Verstehenshorizont der Menschen hier und heute, denen diese Erläuterung gilt. Es gibt zum Beispiel Menschen, für die etwa die Metapher von Gott als „Vater“ genau das Gegenteil dessen anklingen lässt, was sie in den Evangelien meint: eine zugängliche, lebensbejahende, zärtliche und fürsorgliche Autorität. Ich kann nun ausgiebig lamentieren, wie verkommen unsere Gesellschaft ist und wie die verqueren Vorstellungen einzelner Gott im Weg stehen. Ich kann eine teuflische List dahinter vermuten, aber ich kann auch einfach die Metapher wechseln. Vielleicht lässt sich aus einem nicht nur intellektuell, sondern auch emotional geklärten Gottesbild irgendwann auch die Anrede „Vater“ irgendwann erlösen.

Womit wir wieder beim Thema wären.

Fortsetzung folgt

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Die Zechpreller der Postmoderne

Religion, schreibt Zygmunt Bauman, steht in der Postmoderne vor dem Problem, dass die Konsum- und Erlebnisgesellschaft das Thema Transzendenz weitgehend besetzt und aus dem Jenseits ins Diesseits verlagert hat. Für ein „Leben in Fülle“ werden zahllose Techniken, Waren und Dienstleistungen angeboten, mit denen die einzelnen ihr Lebensglück optimieren können.

Swim at your own risk

Manchmal fällt die Orientierung schwer. Die postmodernste Form von Religion ist daher der Fundamentalismus, und der ist für Bauman gerade „keine kleine Nachwehe angeblich längst ausgetriebener, doch immer noch nicht ganz unterdrückter mystischer Sehnsüchte“ oder gar eine Flucht in die Vormoderne:

Der Fundamentalismus ist ein durch und durch zeitgenössisches, postmodernes Phänomen, das sich die „rationalisierenden“ Reformen und technischen Entwicklungen der Moderne voll und ganz zu eigen macht und weniger ein Rollback moderner Ansätze erreichen, als vielmehr den Kuchen essen und ihn behalten will: einen vollen Genuss moderner Attraktionen, ohne den Preis zu zahlen, den sie fordern.

Der „Preis“ ist ein Leben unter den Bedingungen der permanenten Wahl mit der ständigen Sorge, das Beste und Entscheidende zu verpassen und die vorhandenen Möglichkeiten nicht befriedigend auszureizen. Damit bleibt letztlich auch jede(r) allein. Folglich beschreibt Bauman den Preis für die postmoderne Freiheit als

… die bittere Erfahrung […] eines aus riskanten Entscheidungen bestehenden Lebens – stets unter dem Zwang, auf bestimmte Chancen zu setzen und andere zu vergeben; es ist die Erfahrung der jeder Entscheidung innewohnenden unabänderlichen Ungewissheit; der unerträglichen, weil mit niemandem geteilten Verantwortung für die unbekannten Konsequenzen jeglicher Wahl; der beständigen Furcht, sich die Zukunft und bisher nicht vorstellbare Möglichkeiten zu verbauen;

Im Unterschied zur traditionellen Religion, in der die Schwäche der Gattung Mensch das Problem darstellte, scheinen der Menschheit insgesamt heute kaum noch Grenzen gesetzt. Dieser Omnipotenz steht aber die Versagensangst und Unvollkommenheit des einzelnen Menschen um so schroffer gegenüber. Folglich treibt der Fundamentalismus mit seinen klaren Ordnungskategorien und Orientierungshilfen „den Kult der Expertenberatung und den besessenen Selbstdrill unter Spezialistenaufsicht, wie die postmoderne Konsumkultur sie alltäglich propagiert, lediglich zu ihrem radikalen Schluss.“

In dieser Hinsicht verkörpert der Fundamentalismus die Errungenschaften wie die Schattenseiten der Postmoderne. Er verspricht die Erlösung vom Wahlzwang durch die Bindung an eine absolute, höchste Autorität:

Der Fundamentalismus ist eine radikale Medizin gegen den Flucht der postmodernen, marktbeherrschten Konsumgesellschaft, gegen die risikokontaminierte Freiheit […].

In einer Welt, in der jede Lebensform gestattet und doch keine sicher ist, bringen sie den Mut auf, jedem, der es hören will, zu erklären, wie er sich entscheiden muss, damit die Entscheidung ungefährlich bleibt und vor allen in Frage kommenden Gerichten bestehen kann. In dieser Hinsicht gehört der Fundamentalismus zu einer größeren Familie totalitärer oder prototoatlitärer Lösungen, die all denen angeboten werden, die die Bürde der individuellen Freiheit unerträglich finden.

Bauman kann den Fundamentalismus daher auch als „alternativen Rationalismus“ bezeichnen, der sich gegen den neoliberalen Rationalismus totaler Wahlfreiheit stellt, der alles beliebig erscheinen lässt. Hier wird nun umgekehrt alles der Gewissheit untergeordnet.

In ihrer fundamentalistischen Version wird Religion nicht zur »Privatsache«, nicht wie alle anderen individuellen Belange privatisiert und im Stillen praktiziert […]: Sie regelt verbindlich und unmissverständlich jeden Bereich des Lebens und hebt damit die Bürde der Verantwortung auf, die schwer auf den Schultern des einzelnen lastet.

Und dann stellt Bauman die entscheidende Frage: Lassen sich Antworten auf all diese real existierenden Schwierigkeiten finden, die keinen Hang zum Totalitären haben? Auf die Theologie bezogen könnte das bedeuten: Wenn es keine absolute äußere Autorität (Buch, Papst etc.) gibt, kann der Glaube an das Evangelium zu einer inneren Quelle von Kraft und Mut werden, die uns in dieser verrückten Welt hilft, die Augen offen zu halten, ohne dabei zu resignieren? Finden wir unsere eigene Stimme und lernen wir, mutig verantwortliche Entscheidungen zu treffen, oder versuchen wir lieber, all das fehlerfrei aufzusagen, was uns als unfehlbare Richtschnur angepriesen wurde? Was könnte Menschen dazu bewegen, sich die eigene Interpretations- und Anpassungsleistung in Glaubensfragen einzugestehen, statt auf Buchstaben zu zeigen und daraus alternativlose Konsequenzen zu ziehen?

Parker Palmer hat einmal geschrieben: „Wir sind unvollkommene und kaputte Wesen, die in einer unvollkommenen, kaputten Welt leben. Die Genialität des menschlichen Herzens liegt darin, aus diesen Spannungen Einsicht, Energie und neues Leben zu gewinnen.“ Vielleicht hat das auch mit jener Fähigkeit zu tun, die Rilke in seinem vielzitierten Brief an Franz Kappus beschreibt:

ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.

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Was ist schon modern?

Heute ist es genau vier Wochen her, dass wir abends durch den Pessach-Trubel in der Jerusalemer Altstadt gingen (ich hatte in meinem Leben noch nie so viele schwangere Frauen und kinderreiche Familien gesehen wie dort. Hierzulande fällt man mit vier Kindern schon auf, dort hätten wir am untersten Ende der Skala gelegen). Aus der Ferne warfen wir einen Blick auf die Klagemauer, vor der die Haredim dicht gedrängt standen. Als wir uns auf den Rückweg machten, sprach uns einer von ihnen an. Mit seinem festlichen Schtreimel sah er aus wie eine Gestalt aus dem 18. Jahrhundert.

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Der Eindruck änderte sich jedoch, als er ein paar Bücher und Traktate aus seinem schwarzen Mantel zog. Die englischen Titel sprachen davon, wie man es schnell zu Reichtum bringt – mit Gottes Hilfe natürlich. Der Verfasser sei übrigens ein Rabbi aus Frankfurt, sagte unser Gegenüber. Auf den ersten Blick konnte ich wenig Unterschied zum christlichen Wohlstandsevangelium erkennen. Da weder die Zeit noch die Sprachkenntnisse für ein theologisches Gespräch ausreichten, gingen wir bald weiter.

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Später habe ich bei Gilles Kepel nachgelesen, der die Renaissance des (Ultra-)orthodoxen Judentums seit den Siebzigern beschreibt. Und auch da zeigt sich, dass Moderne und Vormoderne sich eigenartig mischen und durchdringen, so dass man das Ergebnis nicht einfach als „altmodisch“ abtun kann. Kegel schreibt:

Allgemein betrachtet, kann man sagen, dass die ganze jüdische Welt in den siebziger Jahren eine Bewegung der Teschuwa (was soviel bedeutet wie „Rückkehr zum Judentum“ und „Reue“, das heißt Rückkehr zu einer strikten Einhaltung des jüdischen Gesetzes, der Halacha) erlebte. Die „Reumütig Zurückgekehrten“ (Baalei Teschuwa) verschließen sich den Versuchungen der säkularen Gesellschaft, um ihr Dasein ausschließlich auf die Gebote und Verbote zu gründen, die sie heiligen jüdischen Texten entnehmen. (Die Rache Gottes, S. 205)

Kepel untersucht Bücher und Selbstzeugnisse der Rückkehrer, die vormals laizistisch, areligiös oder atheistisch waren, dann aber in Begegnung mit einem Rabbi oder in einer der zahlreichen neugegründeten Talmudschulen erkannten, dass die Säkularisierung in eine Sackgasse und die moderne Gesellschaft in eine Wertekrise führt, eine „Epoche der Anomie“. Dem konservativen Protestantismus ebenfalls nicht fremd ist die Kritik an der Aufklärung: Hochmut der Vernunft, der notgedrungen zum Totalitarismus führt, erst in der Französischen Revolution, dann im Dritten Reich. Diese Argumentationslinie ist bei verwandten Strömungen in der katholischen Kirche auch anzutreffen (ich habe sie erst vergangene Woche wieder in einer Diskussion entdeckt). (205)

Vorbereitet wurde das Wiedererstarken der Haredim in den USA. Dort zerbrach während der sechziger Jahre das Bündnis von Juden und Afroamerikanern in der Bürgerrechtsbewegung. Es kam zu Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte und Einrichtungen.

Eine ganze Philosophie des Universalismus, des Zusammenhalts der Gesamtgesellschaft zerbricht hier unter der Gewalt eines stark ritualisierten, den anderen gezielt ausgrenzenden Partikularismus. In dieser Situation verschärfter ethnischer, rassischer und religiöser Abgrenzungen sehen jene ihre Chance gekommen, die die äußerliche gesetzestreue und Trennung von den Gojim zum obersten Prinzip der jüdischen Identität erklären. (215)

Ein weiterer Faktor dieses Aufstiegs ist die Gegenkultur der 68er-Generation. Die Auflehnung gegen das bürgerliche Establishment, gegen Konformismus und Repression, die Begeisterung für speziale Utopien und Experimente wie die Sehnsucht, eine bessere Gesellschaft auf den Ruinen der bestehenden zu schaffen, zogen viele junge Juden an – ihr Anteil an der Protestbewegung wurde dreimal so hoch veranschlagt wie in der Gesamtbevölkerung. Viele dieser Hippies fanden den Weg in die konservativen Talmudschulen zu einer Zeit, als andere sich den Jesus People anschlossen (und dem amerikanischen Evangelikalismus einen kräftigen Wachstumsschub einbrachten).

In Frankreich waren jüdische Studenten 1968 federführend in der radikalen Linken und lang entschiedene Gegner des Staates Israel. Seit dem Schock des Münchener Attentats von 1972 wandelte sich die Stimmung jedoch. Viele distanzierten sich vom linken Aktivismus und besannen sich auf ihre jüdische Identität. Verstärkt wurde diese Bewegung in den folgenden Jahren durch junge sephardische Juden, die aus dem Maghreb eingewandert waren.

Die weitere Entwicklung ist durch den Ausgang des Sechstagekrieges bestimmt: Die heiligen Stätten sind in jüdischer Hand, die Grenzen des säkularen Staates Israel (den die Haredim ablehnten) entsprechen plötzlich denen zur Zeit Davids, selbst säkulare Juden betrachten den Sieg über die arabischen Armeen als göttliches Wunder. Wenn aber die Einnahme des Landes eine Tat Gottes war, dann ist eine Rückgabe ein Akt des Ungehorsams, also kategorisch ausgeschlossen. Das zumindest ist die Interpretation der Ereignisse durch die nationalreligiöse Bewegung Gusch Emunim. Plötzlich sind Kombinationen von Kampfanzug und Kippa, Jeans und Zizit denkbar. Religiös-zionistische Schulen und Lehranstalten entstehen und werden staatlich gefördert, der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten beginnt und wird nach der Wahl Menachem Begins 1977 nachträglich legalisiert, um nur ein paar Ereignisse zu nennen, die Kepel aufzählt. Seither wächst der Einfluss der Religiösen auf die Politik und das öffentliche Leben.

Aus ihren religiösen Traditionen weitgehend entfremdeten Hippies und Linken wurden Strenggläubige, die eigentlich gerade am Aussterben waren. Ein erstaunliches Comeback, das unter anderem die Frage aufwirft, was wohl eines Tages aus diesen religiösen Protestkulturen wird. Die widersprüchliche Sehnsucht danach, irgendwie aus der Zeit zu fallen, gehört offenbar untrennbar in unsere Zeit hinein. Anders gesagt: Pointiert unmodern sein zu wollen, ist ganz schön modern.

Die andere Lektion lautet: Fortschritt ist keine Einbahnstraße. Es wäre naiv zu glauben, dass einmal erreichte Verbesserungen unwiderruflich erhalten bleiben, und dass die Entdeckungen und Erkenntnisse, die ihnen zugrunde liegen, keiner sorgfältigen Begründung mehr bedürfen.

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Gärten und Gestrüpp

Weiter in der unsortierten Israel-Nachlese. Heute mal ohne Bezug zum Palästina-Konflikt:

Als ich in Jerusalem erzählte, dass ich ein paar Tage später nach Haifa fahre (inzwischen ist das fast drei Wochen her), wurde mir gesagt, ich müsse dort unbedingt die wunderschönen Baha’i Gärten ansehen. Dort angekommen, machte ich mich also auf den Weg und entdeckte eine streng an den Nordhang des Karmel gezirkelte Anlage, gegen die jeder Barockgarten unordentlich und asymmetrisch wirkt.

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So viel Künstlichkeit hatte ich nicht erwartet. Ich bog nach ein paar Minuten lieber wieder ab und spazierte durch das Wadi Nisnis, in dem sich lokale und internationale Künstler verewigt hatten und wo kein Haus wie das andere aussah. Und fragte mich währenddessen: Ist diese Gartenanlage typisch für moderne Kunstreligionen, und deren – zweifellos gut gemeintes – Anliegen, Symmetrie und Ordnung in das gewachsene Gestrüpp konkurrierender Glaubensrichtungen zu bringen?

Direkt unterhalb der Baha’i Gärten liegt übrigens die German Colony. Sie wurde ebenfalls im 19. Jahrhundert von der Tempelgesellschaft erbaut und gegründet, die ihre Wurzeln im württembergischen Pietismus hat, sich aber theologisch von diesem deutlich unterscheidet, weil sie zum Beispiel die Gottessohnschaft und den Erlösungstod Christi ablehnt. Nach der Gründung des Staates Israel wurden die Templer 1950 aufgefordert, Haifa zu verlassen. Heute sind in den schmucken Häuschen Restaurants und Läden untergebracht und Touristen flanieren vorbei.

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Zwei religiöse Innovationen des 19. Jahrhunderts also nebeneinander. Die eine aus einem europäisch-christlichen Kontext, die andere aus einem muslimisch-persischen. Beiden merkt man diese Herkunft an, beide versuchen die Tradition, aus der sie stammen, universal zu erweitern und deren innere Widersprüche und Spannungen zu beseitigen, und so ließen sich wohl noch weitere Parallelen finden.

Niedergelassen haben sie sich in Haifa am Fuß des Karmel, auf dem der Prophet Elija seine blutige Konfrontation mit den Baalspropheten hatte. Harte Kontraste auf engem Raum…

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