Tod und Popcorn

Der Tod drängelte sich – unerwartet, wie so oft – ganz oben auf die Tagesordnung meiner letzten Woche. Das relativierte manches, was mich sonst vielleicht mehr beschäftigt hätte, ließ mich aber noch länger über ein paar Seiten aus Zygmunt Baumans Essay „Postmoderne Religion?“ nachdenken. Dort spricht Bauman von einer „antieschatologischen Revolution“ in der Moderne. Gegenüber der Vormoderne, deren ganz Sorge sich um die Frage des ewigen Seelenheils drehte, verschiebt sich die Aufmerksamkeit radikal auf das Diesseitige. Sünden- und Höllenängste des Mittelalters führten ironischerweise dazu, dass die

Faszination und Betörung durch das Leben nach dem Tod sowie die Anforderungen einer ganz auf Seelenheil ausgerichteten Frömmigkeit auf Gipfel getrieben wurden, die für Menschen, die noch am normalen Leben teilnehmen wollten, nicht mehr zu erreichen waren. Mönche. Prediger und andere »Künstler religiösen Lebens« setzten Frömmigkeitsmaßstäbe, die nicht nur mit allgemein verbreiteten »sündhaften Neigungen« kollidierten, sondern auch mit der bloßen ‚Aufrechterhaltung des Lebens als solchem; die Aussicht auf ein »ewiges Leben« geriet damit für alle mit Ausnahme einiger Heiliger außer Reichweite.

Als Reaktion darauf und nicht unbedingt im Sinne der Bußprediger, entwickelte sich aus dieser Maßlosigkeit heraus einerseits eine makabre Zurschaustellung von Tod und Leiden, andererseits schlug das memento mori um in ein memento vivere und die Freuden des irdischen Lebens (geflissentlich übersehen von vormodernen „missionarischen“ Paradigmen, die bis heute alles auf die Frage konzentrieren, wohin jemand wohl käme, sollte er heute sterben).

Denn analog zum paulinischen „Tod, wo ist dein Stachel?“ entwickelte die Moderne mit großem Erfolg drei komplementäre Strategien, um den Schrecken des Todes zu relativieren.

Der Tod wurde erstens in professionelle Obhut verwiesen und aus dem Alltag ausgegliedert:

Wie alles andere im Modernen Leben wurde der Tod einer arbeitsteiligen Behandlung unterworfen: er wurde zur Sache von »Spezialisten«. Für alle übrigen, die Nichtprofis, entwickelte sich der Tod zu etwas Anstößigem; eine peinliche, in gewisser Weise […] der Pornografie verwandte Angelegenheit, ein Ereignis, über das man nicht öffentlich und schon gar nicht »vor den Kindern« sprach. Man verbannte die toten und vor allem die Sterbenden aus dem Alltagsleben…

Zweitens wurde der Tod zerlegt in Einheiten, die sich bewältigen ließen:

Wie alle anderen »Ganzheiten« wurde auch die Aussicht auf den absolut und unwiderruflich bevorstehenden Tod scheibchenweise in unzählige, immer kleinere Bedrohungen für unser Überleben fragmentiert. an dem Faktum selbst kann man nicht viel ändern, und es wäre einfältig, sich mit etwas zu befassen, woran nun einmal nichts zu ändern ist. Die kleinen Gefahren jedoch kann man bekämpfen, zur Seite drücken, ja sogar besiegen. Und der Kampf gegen sie ist eine so zeit und energieraubende Betätigung, dass von beidem nichts übrigbleibt, um über die letztendliche Nichtigkeit all dessen nachzusinnen. Der Tod […] wurde in die kleinen, doch unzähligen Fallen und Hinterhalte des täglichen Lebens aufgelöst. Man neigt dazu, ihn immer wieder anklopfen zu hören – in fettreichem Fast Food, in salmonellenverseuchten Eiern oder cholesterinreichen Versuchungen, im Sex ohne Kondom oder im Zigarettenrauch, in asthmaerzeugenden Hausstaubmilben, … in zuwenig oder zuviel körperlicher Bewegung, in übermäßigem Essen oder übertriebenem Fasten, in zuviel Ozon und im Ozonloch; doch weiß man nun, wie man die Tür verbarrikadieren muss, wenn er klopft, und man kann die alten verrosteten Schlösser und Riegel oder Alarmanlagen gegen immer »neue und bessere« austauschen.

Drittens fand eine Virtualisierung des Todes statt. Während der wirkliche Tod immer mehr im Privaten verschwindet, wird der öffentliche Tod in Kino und Fernsehen unterhaltsam und spektakulär inszeniert, der tödliche Kampf zur einer Kunstform entwickelt, die (Tarantino lässt grüßen) um ihrer selbst willen existiert. Die schiere Flut des Sterbens auf der Mattscheibe erzeugt denselben Effekt wie eine Menge nackter Körper auf einem Bild, sie neutralisiert die Wirkung des einzelnen (hier Begehren, da Schrecken und Empathie).

In noch viel eindrucksvollerer Weise, als Aldous Huxley es sich ausmalte, ist seine Vision einer Todeskonditionierung (indem man Kindern Menschen im Todeskampf zeigt und sie dabei mit ihren Líeblingssüßigkeiten füttert) zur gängigen Praxis geworden – mit Auswirkungen, die dem, was er sich vorstellte, nicht sehr nachstehen.

Die Vorstellung des Lebens als eines „Seins zum Tode“ ist damit massiv geschwächt. Der Tod verleiht dem Leben, das auf ihn zuläuft, keine Bedeutung mehr, sondern er ist nur noch das Nicht-Ereignis, das eine Lebensgeschichte beendet, die just in dem Augenblick uninteressant und irrelevant wird, wo sie keine neuen Episoden mehr hervorzubringen verspricht. Und während der Tod im Leben eines vormodernen Menschen, das wenig Abwechslung und Überraschung bot, das eine völlig unkalkulierbare Ereignis war, so ist er heute häufig das einigermaßen absehbare, jedenfalls medizinisch erklärbare Ende eines Lebens, das von Umbrüchen, Ungewissheiten und Apokalypsen – Bauman spricht von der „Instabilität alles Erreichten und der Zerbrechlichkeit menschlicher Bindungen“ und der „Launenhaftigkeit von Regeln, die sich schon vor Spielende wieder ändern“ – gekennzeichnet ist.

Ungewissheit postmodernen Typs zeugt nicht von einem Bedarf an Religion, sie bewirkt vielmehr eine ständig steigende Nachfrage für Identitätsexperten. Wen die Ungewissheit postmodernen Typs quält, der braucht keine Prediger, die ihm etwas über die Schwäche des Menschen und die Unzulänglichkeit menschlichen Vermögens erzählen. Er braucht die Bestätigung, dass er/sie es schaffen kann – und Anleitung, wie dies anzustellen sei.

Ich kann nicht auf alles eingehen, was Bauman hier anreißt, aber mich hat seine Analyse insofern überrascht, als ich im Blick auf seine jüdische Herkunft erwartet hätte, dass er den Kern des Glaubens und damit von Religion nicht in der Frage nach Tod und Jenseits sieht, wie es dann im katholischen Spätmittelalter der Fall war. Zu Beginn des Essays, aus dem ich zitiert habe, beschreibt er noch sehr treffend die Unmöglichkeit einer umfassenden Definition von Religion, nur um das alles mit einem Satz von Tisch zu wischen und festzustellen, Religion sei „schließlich nichts anderes […] als das intuitive Wissen um die Grenzen dessen, was wir Menschen als solche tun und verstehen können“, Religiosität bestehe mithin im „Bewusstsein menschlicher Unzulänglichkeit und dem Eingeständnis der Schwäche“, die er im Folgenden dann strikt auf Tod und Transzendenz bezieht.

Für den Alttestamentler Walter Dietrich hingegen (und das hätte ich bei Bauman eigentlich erwartet, weil es ja sein Ur-Anliegen darstellt) ist der rote Faden der hebräischen Bibel die Frage nach Gerechtigkeit, der „Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse gerade für die in ihrer Existenz oder ihrem Wohl Bedrohten […]. Für Israel kennzeichnend ist dabei, dass sich religiöse Motivation und politische Aktion untrennbar miteinander verbinden“ (Der rote Faden des Alten Testaments, in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, S. 21)

Für mein Empfinden gilt diese Aussage ebenso für das Christentum und Jesu Botschaft vom Reich Gottes. Besonders auch in dem Sinn, dass Jesu Eintreten für Gerechtigkeit ihn zum Märtyrer und Opfer eines Justizmordes machte – ein Ereignis, an dem deutlich wird, dass sich derjenige ganz besonders mit dem Tod beschäftigen muss, der die sozialen Verhältnisse verändern will. Dazu kommt das für die ersten Christen völlig unerwartete Geschehen der Auferweckung, in dem erkennbar wird, dass der Tod als die Summe und endgültige Festschreibung aller lebensfeindlichen Verhältnisse und Bedrohungen auf eine völlig andere Art und Weise und von anderer Seite relativiert wurde, als es im Projekt der Moderne geschah und geschieht. Wer sich gegen Großkonzerne, Geheimdienste, Diktatoren, rechte Todesschwadronen oder mafiöse Strukturen stellt, darf keine Angst vor dem Tod haben und wird ihn schwerlich durch den Konsum von Popcorn und Actionkino ausblenden können.

Ein „aktuelles“ Evangelium, das sich auf Identitätsmanagement reduzieren lässt und zu diesem Zweck die Ur-Angst postmoderner Menschen beschwichtigt, in den ständigen Wahlzwängen Entscheidendes zu verpassen, ist ebenso ungenügend wie ein traditionelles, dass sich auf Schuld und Tod reduzieren lässt. Wer mutig vom Tod reden kann, hat auch in Sachen Gerechtigkeit etwas zu sagen. Wer sich vor dem Tod in Wellness flüchtet, wird auch davor zurückschrecken, sich den Mächten dieser Welt tapfer entgegenzustellen.

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