Unerhört beten

Man macht sich die Sache mit dem Beten zu leicht, meint Walter Wink, wenn man meint, Gebete würden entweder nicht erhört, weil mit einem selbst etwas nicht stimmt (falscher Inhalt, falsche Motivation, falscher Zeitpunkt, andere Unzulänglichkeiten), oder weil Gott eben gerade nicht wollte.

In Wirklichkeit verweist uns die Frage, ob das eintrifft, worum wir bitten (und da geht es um Gerechtigkeit und Frieden, nicht um einen freien Parkplatz in der vorweihnachtlichen Innenstadt), auf ein viel komplexeres Feld von Kräften und Interessen. Das beschreibt das Buch Daniel in mythischen Bildern. „Mythisch“ bedeutet hier nicht etwa einfältig, sondern dass unsichtbare überindividuelle Wirklichkeiten („Mächte“) hier wie sichtbare, nichtmenschliche Akteure erscheinen – und sich aktiv einmischen.

In Daniel 10 fastet und betet der Gerechte für sein verschlepptes Volk, bis nach 21 Tagen ein Engel bei ihm auftaucht. Der Engel erklärt Daniel, dass er schon am ersten Tag aufgebrochen ist. Allerdings wurde er vom Engel des Perserreiches aufgehalten und konnte erst nach einer Intervention des Engelfürsten Michael (Israels „Völkerengel“) sein Ziel erreichen.

So wie Daniel in dieser Geschichte nicht wissen und sehen kann, was sich im Verborgenen tut, so wenig durchschauen auch wir politische und gesellschaftliche Prozesse um uns herum, und noch weniger, wie sich unser Handeln und Gebet auf sie auswirkt. Was keineswegs bedeutet, dass es egal wäre. Wink fragt:

Was besagt das nun über die Allmacht Gottes? Über Gottes Erlösungsmacht? Über Gottes Macht in der Geschichte? Den Mächten und Gewalten gelingt es, ihren Willen gegen den Willen Gottes durchzusetzen und sich eine zeitlang zu behaupten. Das Erstaunliche ist also nicht, dass unsere Gebete manchmal unerhört bleiben, sondern dass einige überhaupt erhört werden. Es ist uns schon lange klar, dass Gott durch unsere Freiheit eingeschränkt wird. Die neue Einsicht im Buch Daniel ist, dass Gott durch die Freiheit von Institutionen und Systemen ebenso begrenzt wird. (Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit, Regensburg 2014, 159)

[…] Ein Gebet, das die herrschenden Mächte ignoriert, endet damit, Gott die Schuld an dem von den Mächten verursachten Unheil zu geben. Aber ein Gebet in Anerkennung der Mächte wird zu einem unverzichtbaren Aspekt gesellschaftlichen Handelns. (Ebd., 163)

In ihren Tagebüchern der Jahre 1941-43 hat die Niederländerin Etty Hillesum diese Vorstellung einer zumindest zeitweise eingeschränkten Souveränität Gottes unter dem Eindruck des Naziterrors in die folgenden dramatischen Sätze gefasst:

Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.

Wenn Christen nun darum beten, dass Gottes Reich kommt und Gottes Wille geschieht, dann ist damit ja immer schon vorausgesetzt, dass in unserer Gesellschaft und auf dieser Erde nicht immer schon automatisch das geschieht, was Gott will, sondern oft genug das krasse Gegenteil. Und das heißt: Gottes Allmacht und Souveränität sind in irgendeiner Form eingeschränkt. Wink lässt sich auf keine lange Theoriediskussion (die auch in der Bibel nicht geführt wird) ein, sondern er schreibt:

Gott mag vielleicht außerstande sein, direkt zu intervenieren, und überschüttet dennoch die Erde mit „zufälligen“ Möglichkeiten, die nur die Bereitschaft eines Menschen brauchen, um zu wundern zu werden. Wenn das Wunder geschieht, haben wir den Eindruck, Gott habe auf besondere Weise interveniert. Doch interveniert Gott nicht nur gelegentlich. Gott ist die ständige Möglichkeit der Verwandlung, die jeder Gelegenheit anhaftet, auch solchen, die wegen der ausbleibenden Bereitschaft eines Menschen verloren gehen. (Verwandlung, 161)

Die richtige Reaktion auf ein Ausbleiben der Erhörung (und wieder, es geht hier nicht um fragwürdige Anliegen, sondern um weithin unstrittige: Frieden in Syrien, ein Ende von Hunger, Rassismus und Terror, u.v.a.) ist nicht das nonchalante Schulterzucken (das resignative „hat nicht sollen sein“ wäre in diesen Fällen bloß noch zynisch zu verstehen), sondern das Dranbleiben, bis die Sache „durch“ ist. Nur einen Tag länger auf Gerechtigkeit warten zu müssen, wäre zu lang, schreibt Wink. Wenn sie dann geschieht – und sei es nach Jahrzehnten! – ist das nichts weniger als ein ausgewachsenes Wunder.

Beten wird, eingebettet in dieses unablässige Ringen, von einer Angelegenheit des Kopfes (bei der um Korrektheit geht) zu einer Aktivität, die „aus dem Bauch heraus“ geschieht:

Wir werden energischer und aggressiver. Wir werden Gott ehren, indem wir die volle Bandbreite unserer Gefühle zulassen, von Frustration und Empörung bis zur Freude und alles, was dazwischen liegt. wir werden erkennen, dass auch Gott umzingelt ist von Kräften, die sich nicht einfach beherrschen lassen. Wir werden wissen, dass Gott am Ende siegen wird, wenn auch nicht unbedingt auf eine für uns verständliche Weise… (Verwandlung, 163)

Da gibt es also noch einiges zu entdecken…

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