Gott im Zwielicht der Gewalt?

Seit ein paar Tagen geht mir ein Beitrag meines geschätzten Bekannten Krish Kandiah im Kopf herum, den er jüngst auf Christian Today veröffentlicht hat. Krish ist für die Evangelical Alliance tätig und hat die Aktion Home For Good ins Leben gerufen, er ist ein wacher Beobachter des Zeitgeschehens und ein feiner Kommunikator.

In dem Beitrag hat er sich der Frage von Genozid und Heiligem Krieg in der Bibel angenommen, ein Thema, das vorwiegend im Rahmen des deuteronomistischen Geschichtswerks erscheint und tagespolitisch kaum aktueller sein könnte. Wie geht man mit Bibelstellen um, in denen davon erzählt wird, Gott habe angeordnet, eine ganze Bevölkerung zu vernichten?

Sie eroberten die Stadt und bannten alles, was in der Stadt war, von Mann bis Weib, von Knabe bis Greis, bis Ochs und Lamm und Esel, mit der Schneide des Schwerts. (Josua 6,20f.)

Drei Lösungen des Problems lehnt Krish ab: Den Völkermord erstens als unhistorisches Sagenmotiv zu relativieren, ihn zweitens als Missverständnis und Irrtum der Israeliten zu bezeichnen, und drittens die Annahme, dass Gott seine Meinung in dieser Frage später geändert haben könnte.

Stattdessen versteht er – er nennt das die „kanonische Perspektive“ die Texte offenbar als Tatsachenberichte, die ein göttliches Gericht beschreiben, zu dem es keine gewaltfreie Alternative mehr gab. Israel vollzieht dieses Gericht in Gottes Namen an den Kanaanäern, so wie die Propheten später sagen werden, dass Gott sich auch der Feinde Israels bedient, um sein abtrünniges Volk zu strafen. Dabei bedient sich Gott – in Ausnahmefällen, nicht grundsätzlich – menschlicher Akteure und der Methoden damaliger Kriegsführung.

Die „Moral“ dieser Geschichten ist dennoch die, dass Gott Krieg und Gewalt ablehnt, dass er deren Urheber zur Rechenschaft ziehen wird und dass sich kriegs- und Konfliktparteien nicht auf göttliche Legitimation herausreden dürfen.

Mit der Schlussfolgerung bin ich völlig einverstanden, aber die Herleitung überzeugt mich ganz und gar nicht. Der Versuch, alle historische und theologische Kritik an den entsprechenden Textpassagen zu umgehen (wie authentisch und zuverlässig sind die Berichte einzuschätzen, wie ist das Gottesbild zu bewerten, das ihnen zugrunde liegt?), führt dazu, dass gravierende Ambivalenzen ins Gottesbild verlagert werden. Die Bibel ist aus dem Schneider, aber Gott rückt ins Zwielicht.

Denn wenn Gott früher einmal einen Völkermord in Auftrag gegeben hat, warum nicht heute wieder? Wenn sich nicht grundsätzlich und kategorisch bestreiten lässt, dass Gott Gewalt verabscheut und verbietet, dann kann jeder, der solche Gräuel begeht, theoretisch im Recht sein. Die Kirchengeschichte ist voller Beispiele: Luther meinte 1525, die Fürsten vollstreckten das Gericht Gottes an den Bauern. Die Conquistadores bestraften die Azteken für deren Menschenopfer und Unterdrückung der Nachbarvölker, Karl der Große war Gottes Antwort an die sturen Sachsen. Nun werden manche einwenden, ein Missbrauch dieser Vorstellung hebe den rechten Gebrauch nicht auf (so wie Übergriffe der Polizei das staatliche Gewaltmonopol nicht grundsätzlich widerlegen), aber für mein Empfinden läuft es genau umgekehrt: Wer diese Tür offen lässt, darf sich nicht wundern, wenn plötzlich alle möglichen Gestalten durchgehen.

Im Unterschied zum Josuabuch haben die Aussagen der Propheten über Gottes Gericht eine völlig andere Struktur: Gott bedient sich der Großmächte ohne deren Wissen und ohne ihnen einen expliziten Auftrag erteilt zu haben. Und die exzessive Grausamkeit wird zugleich beklagt und kritisiert. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Gerichtsworten Jesu gegen Jerusalem, in denen sich die Katastrophe des Jahres 70 schon abzeichnet. Blutvergießen erhält hier keinen heiligen, religiösen Anstrich. Es erscheint lediglich als die absehbare Folge der Verstrickung in rabiate Machtpolitik und Gewaltanwendung, gegen die die Propheten Sturm laufen.

Wenn wir uns also in dieser Frage der Denkfigur des Paradoxons bedienen wollen (Krish Kandiahs aktuelles Buch heißt „Paradoxology“), dann in dem Sinn, dass Gott einstweilen Kriege und Verbrechen zulässt, ohne sie zu billigen, und uns lediglich die Verheißung bleibt, dass er kommt, um den Schaden zu heilen); aber nicht in dem Sinn, dass Gott situativ einmal brutal für Ordnung und Gerechtigkeit sorgt und dann wieder nicht.

Die naheliegendste Lösungsmöglichkeit kommt in diesem Artikel nämlich gar nicht vor: Nicht Gott hat sich verändert, wohl aber das Gottesbild Israels: Im Buch Jona finden wir einen Gott, der so vorhersagbar barmherzig ist mit Mensch und Tier, dass Jona (der offenbar noch mit dem kriegerischen Gott des Josuabuches liebäugelt) seinen Auftrag verweigert. Wenn man Gott nicht als bipolare Persönlichkeit missverstehen möchte, dann bleibt nur der Schluss, dass sich die Gottesvorstellungen verändert haben.

Denkt man von der Offenbarung Gottes im Kreuz Christi her, dann lässt sich dieser gewaltsame Aspekt der Eroberungskriege im Zuge der Landnahme (die, wie viele Historiker unter Verweis auf Richter 1 glauben, ohnehin eher ein allmähliches Einsickern als ein kohärenter Feldzug war) nicht mehr additiv integrieren als ein Charakterzug neben anderen, sondern nur noch radikal und konsequent korrigieren und kritisieren: Ein Massaker auf Gottes Geheiß wie das von Jericho ist nach christlichen Maßstäben ein schweres Kriegsverbrechen – und nichts anderes.

Wo dieser klärende Schritt ausbleibt, da wächst die Wahrscheinlichkeit (wieder), dass Christen Gewalt als Mittel der Konfliktlösung akzeptieren und zugleich blind werden für die prophetische Fundamentalkritik der Bibel an menschenverachtender Machtausübung und massiver Gewaltanwendung durch das Herrschaftssystem, wie Walter Wink diesen gemeinsamen Zug menschlicher Machtgebilde nannte.. Wenn die „kanonische Methode“ diese Kritik nicht hergibt und die innerbiblischen Entwicklungs- und Diskussionsprozesse verschleiert, dann ist sie, fürchte ich, einfach ungenügend.

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