Die Tücken des postmodernen Über-Ich

In den letzten Tagen hat mich ein Aufsatz von Slavoj Žižek beschäftigt, der eigentlich schon etwas älter ist (1999), aber viele Anregungen enthält, die auch 15 Jahre später noch aktuell sind. Ich denke, das ist ein Beweis dafür, wie scharfsinnig Zizek die Welt analysiert. Der Titel – „You May“/“Du darfst“ – spielt direkt auf kalorienreduzierte Lebensmittel deutscher Provenienz an. Im Grunde aber geht es um Freiheit, Normierung, Begehren und Zwang in unserer Gesellschaft.

„You May“ beginnt mit dem Phänomen der „Reflexivierung“ von Gebräuchen in der heutigen Risikogesellschaft. Verhalten, das früher einmal selbstverständlich war, ist heute etwas, für das man sich entscheidet und das man lernen muss, es bedarf also der Reflexion. Zizek zeigt das am Beispiel des Rassismus gegenüber seiner Heimatregion, dem „Balkan“: Es gibt den traditionellen Rassismus mit seinen Vorurteilen und Stereotypen (barbarisch, despotisch, korrupt, un“westlich“…), daneben existiert aber ein politisch korrekter, reflexiver Rassismus (die Gräueltaten zeugen von einem irrationalen und ungebildeten Stammesdenken, das den Anschluss an die – unparteiisch und verwundert zusehende – zivilisierte Welt noch nicht gefunden hat, in der Nationalstaaten ein Phänomen der Vergangenheit sind), und schließlich ist da der umgekehrte Rassismus, etwa der Serben, die sich gegenüber dem weichlichen, blutleeren Westen, den sie verachten, als authentisch, ursprünglich und leidenschaftlich inszenieren.

In der Psychoanalyse ist es inzwischen kaum noch möglich, das Unbewusste eines Menschen durch Interpretation heilsam zu erhellen, weil die Patienten ihre Leidensgeschichte schon im reflexiven Vokabular des Therapeuten schildern und damit bereits über Erklärungen verfügen. Žižek schreibt (und man hört im Geist schon die Ärzte singen):

Es ist so, als würde ein Neonazi-Skinhead, von dem man verlangt, sein Verhalten zu begründen, anfangen, wie ein Sozialarbeiter, Soziologe oder Sozialpsychologe zu reden, als zitiere er die geringe soziale Mobilität, die wachsende Unsicherheit, die Auflösung väterlicher Autorität, den Mangel an Mutterliebe in seiner Kindheit.

Ein postmoderner Neonazi, „der Schwarze verprügelt weiß genau, was er tut, aber er tut es trotzdem“. Die postpolitische, liberal-freizügige Gesellschaft kann den Missbrauch der Menschenrechte nicht verhindern:

Das Recht auf Privatsphäre ist im Endeffekt das Recht, Ehebruch zu begehen, heimlich, ohne dass man bespitzelt oder dass gegen einen ermittelt wird. Das Recht, nach Glück zu streben und Privateigentum zu besitzen, ist im Endeffekt das Recht, zu stehlen (andere auszubeuten). Presse- und Meinungsfreiheit – das Recht zu lügen. Das Recht freier Bürger auf Waffenbesitz – das Recht, zu töten. Das Recht auf Glaubensfreiheit – das Recht, falsche Götter anzubeten. …

Gut, das mit dem Bespitzeln und der Privatsphäre hat sich, wie wir alle wissen, gründlich geändert. Aber nach wie vor gilt Žižeks Beobachtung, dass der Rechtsstaat den Missbrauch der Freiheitsrechte kaum einschränken kann, ohne die Freiheit selbst einzuschränken. Das geschieht inzwischen zwar punktuell, das grundsätzliche Dilemma bleibt jedoch, das es keine absolut gültigen Regeln mehr gibt – und dass diejenigen, die wir noch haben (Menschenrechte), von manchen mutwillig pervertiert werden, während ihre wahren Anhänger keinen Gegendruck erzeugen können, ohne sie zu verraten.

Wenn die öffentliche Ordnung nicht mehr durch „Hierarchie, Repression und strikte Regelungen“ aufrechterhalten wird, kann sie auch nicht mehr durch befreiende Regelbrüche (etwa dem Lachen hinter dem Rücken des Lehrers) verletzt werden. In einer freizügigen Gesellschaft wird dafür die selbstgewählte Unterwerfung zum Tabubruch, was für Žižek auch die Erotisierung von Repression und Sklavenverhältnissen erklärt (was das für theologische Fundamentalismen bedeutet, etwa im Blick auf den sogenannten Komplementarismus und dessen Motivation, eine Hierarchie der Geschlechter zu repristinieren, oder auch autoritäres Führungsverständnis bzw. eine antiquierte, grob gerasterte Dogmatik, wäre noch zu klären: Es könnte vormodern und unreflektiert sein – man kann sich die Welt gar nicht anders denken als so –, oder postmodern und reflexiv – dann wird dieser Glaube zum Vehikel der antiliberalen Grenzüberschreitung).

An dieser Stelle bringt Žižek den Begriff des „Über-Ich“ ins Spiel. Wo Eltern ihr Kind früher dazu verdonnerten, die Großmutter zum Geburtstag zu besuchen, da sagen sie heute: „Du weißt ja, wie gern Deine Großmutter dich sehen möchte. Aber Du solltest natürlich nur hingehen, wenn Du es wirklich möchtest, sonst bleib lieber zuhause.“ Das Kind weiß natürlich, dass es im Grunde keine Wahl hat, nur kann es jetzt nicht mehr gegen den Zwang aufbegehren, der vordergründig keiner mehr ist. In Wirklichkeit lautet die Forderung aber nun: „Du musst die Großmutter besuchen, und Du musst es auch noch gern tun.“ Das Über-Ich befiehlt uns, die Dinge, die wir tun, gefälligst zu genießen. Aus Kants kategorischem Imperativ, der davon ausging, dass ich das Gute tun kann, weil es meine Pflicht ist, wird somit die Pflicht, alles zu tun, was ich kann: Die Verfügbarkeit von Viagra schlägt um in die Erwartung, so viel Sex wie nur möglich zu haben. Unter Esoterikern wird Selbstverwirklichung und das Lebensglück eben deshalb zur Pflicht, der man mit Freuden nachzukommen hat, weil sie machbar ist. In der totalitären Demokratie muss man dem Führer nicht nur gehorchen, mann muss ihn lieben. Es ist nicht genug, seine Arbeit ordentlich zu machen, es muss jetzt auch noch mit totaler Leidenschaft und Begeisterung geschehen. Damit bilden sich neue „Fundamentalismen“, während die alten, autoritären auch noch irgendwie lustvoll und reflexiv gebrochen fortbestehen. Und jetzt kommt der Slogan fettfreier Produkte ins Spiel, denn man kann plötzlich Salami essen, ohne sein Fett abzubekommen:

Nationalistischer Fundamentalismus fungiert als ein kaum noch verschleiertes „Du Darfst“. Unsere postmoderne reflexive Gesellschaft, die so hedonistisch und freizügig scheint, ist in Wirklichkeit gesättigt mit Regeln und Vorschriften, die unserem Wohlergehen dienen sollen (Einschränkung des Rauchens und Essens, Regeln gegen sexuelle Belästigung). Eine leidenschaftliche ethnische Identifikation ist keineswegs eine weitere Einschränkung, sondern ein befreiender Zuruf „Du darfst!“: du darfst (nicht den Dekalog, aber) die starren Vorschriften friedlicher Koexistenz in einer liberalen, toleranten Demokratie verletzen; du darfst essen und trinken, was auch immer du willst, Sachen sagen, die politische Korrektheit verbietet, sogar hassen, [andere] bekämpfen, töten und vergewaltigen.

Diese Fundamentalismen verdanken also ihren Sexappeal ausgerechnet der toleranten Gesellschaft, die sie verachten und auf deren Kosten sie sich als „authentische“, „ungezähmte“ Freiheitskrieger inszenieren. Leute, die sich „den Mund nicht verbieten lassen“, „Klartext reden“ oder wie auch immer das dann heißt.

In seinem jüngsten Beitrag für die Zeit vom 16. April nimmt Žižek viele dieser Motive übrigens wieder auf und wendet sie auf den Rechtspopulismus in Europa an, sein Interesse gilt nun aber den Folgen rechter Tabubrüche. Die richtige Antwort auf derartige Umtriebe wäre aus seiner Sicht, mit Freiheit und Gleichheit in Europa noch viel konsequenter und radikaler Ernst zu machen (sich also, um auf das „du darfst“ zurückzukommen, die subtilen Zwänge des Über-Ich bewusst zu machen), statt dem rechten Druck zur Abschottung und der Rückkehr zu autoritären Ordnungsstrukturen nachzugeben, mit der man den Feinden der Freiheit (die Orbans, Le Pens und wie sie alle heißen) den Grund zur Klage nehmen möchte, in Wahrheit aber ihre Ziele und Methoden legitimiert. Denn wenn die emanzipatorischen Bemühungen aus Angst oder Trägheit eingefroren werden, erhalten die Reaktionäre die Chance, sich als die bessere Revolution auszugeben.

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Schwierige Verständigung

Gestern traf ich am Nürnberger Hauptbahnhof einen jungen Mann, der sich dort mit jemandem zur Weiterreise über eine Mitfahr-Plattform verabredet hatte. Irgendwo zwischen Post und Haupteingang sollte das Auto parken, aber nichts war zu sehen. Die beiden telefonierten, dann suchten sie einander, dann sprachen sie wieder. Und stellten dann fest, dass der eine in Nürnberg war und der andere in Regensburg.

Anscheinend war es mit der Übersichtlichkeit der Online-Plattform etwas schwierig gewesen. Aber die Situation erinnerte mich an so manche irritierenden Gespräche, in denen mein Gesprächspartner und ich zwar dieselben Begriffe benutzten (in dem Fall statt Auto, Bahnhof, Post, Haupteingang etc. dann eben irgendwelche weltanschaulichen und politischen Dinge) und dann doch merkten, dass wir meilenweit entfernt waren von einander.

Der junge Mann vom Hauptbahnhof hat seinen Fahrer gestern übrigens noch getroffen, weil Nürnberg an der Strecke zu beider Ziel weiter westlich lag. Vielleicht ist das ja auch ein tröstlicher Gedanke im Blick auf die anderen schwierigen Verständigungen. Und natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall, dass mir jemand näher ist, als ich aufgrund seiner Redeweise bisher vermutet hatte.

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Eine Theologie des Blühens

Ich bin kürzlich in einem Aufsatz von Hanna Strack über Hildegard von Bingen auf folgenden interessanten Gedanken gestoßen: Strack plädiert für eine „Theologie des Blühens“ und stellt diese in einen Kontrast zur traditionellen „Theologie der Mortalität“, die sie so beschreibt:

… die bisher überwiegend gelehrte und gepredigte Theologie der Sterblichkeit aller Menschen [betont] die Hinfälligkeit, Fehlerhaftigkeit, das Schuldbewusstsein und die Angst. Diese zielt auf Erlösung durch die strafende und barmherzige Gottheit.

Während Strack das biblische Motiv des Blühens mit (vor allem auch explizit weiblicher) Fruchtbarkeit verbindet, könnte man, um eventuell problematische Parallelen zu Fruchtbarkeitskulten oder Esoterik zu meiden, die „Theologie des Blühens“ auch von Auferstehung und Neuschöpfung her denken und sagen, dass Gott in der Sendung Christi seine Liebe zum Leben erweist und sie mit der Auferweckung bestätigt als die grenzenlose, überströmende Lebenskraft und -fülle, die selbst das verwelkte und beschädigte Leben erneuert und verwandelt.

Denn für Hildegard von Bingen hat die „Grünkraft“ auch mit dem Heiligen Geist zu tun, der nach dem Neuen Testament nicht nur in der anfänglichen Schöpfung wirkt, sondern auch die Kraft ist, durch die die Welt und die Menschheit neu geschaffen wird. So kann Hildegard, wie Strack zeigt, Christus als schöne Blume bezeichnen und von ihm sagen: „sie schenkte ihren Duft all den Gewürzen, die da dürre waren. Da prangten alle sie in sattem Grün“.

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Deutsch zum Abgewöhnen (9): „Ein“ Thomas Müller

Heute las ich den Kommentar von Oliver Fritsch in der Zeit zum Halbfinale zwischen den Bayern und Real Madrid. Neben vielen guten Beobachtungen habe ich mich gefreut, dass kein Eigenname mit unbestimmtem Artikel im Text erschien. Selbstverständlich ist das schon lange nicht mehr.

Nicht im Sport jedenfalls. Ich weiß nicht, wer mit diesem Unsinn begann, aber er hat sich im Umfeld des Profifußballs durchgesetzt. „Ein“ Lothar Matthäus begann schon früh, über sich selbst in der dritten Person zu reden und dann den unbestimmten Artikel zu verwenden. Dabei soll dieses „ein“ bei Lothar M. natürlich nicht ausdrücken, dass es auch noch andere Menschen mit diesem Namen gibt (für die dieses Aussage dann ja auch gelten müsste), sondern eben nur den einen und einzigartigen – ihn selber: Weltmeister, Weltfußballer, Würdenträger.

Oliver Kahn gehört zu Lothars gelehrigsten Schülern. Immerhin kommentieren sie nun beide gelegentlich im Fernsehen und werfen mit unbestimmten Artikeln nur so um sich. So weit ich sehe, hat selbst Pep Guardiola zwar zwei Marios im Kader, kann aber nur einen Mandzukic und einen Götze auf dem Platz schicken, und das jeweilige Original spielt dann, nicht eine von mehreren Kopien.

Oder habe ich das missverstanden? Wissen Kahn und Matthäus mehr als wir? Spielt tatsächlich nur ein Klon? Hat die Sportmedizin im Schatten der Dopingdebatten längst den nächsten Quantensprung gemacht und multipliziert wichtige Leistungsträger? Liegt das Original vielleicht irgendwo an einem Strand in der Karibik, nachdem es seine Gene an den Verein lizensiert hat?

Jemand sollte dieser Frage einmal nachgehen. Vielleicht findet ein Oliver Fritsch die Antwort.

PS – Fest etabliert ist das „ein“ freilich bei dieser Fußballikone:

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Unvergänglich

Where are the nails that pierced His hands?

Well the nails have turned to rust

But behold the Man

He is risen

And He reigns

In the hearts of the children

Rising up in His name

Where are the thorns that drew His blood?

Well, the thorns have turned to dust

But not so the love

He has given

No, it remains

In the hearts of the children

Who will love while the nations rage

Rick Mullins, While The Nations Rage

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Der Aufstand des Lebens

Das Grab ist schließlich par excellence das Symbol metaphysischer Totalität und des Mythos kosmischer Gewalt: es ist Endstation und Grenze, es markiert nicht nur die Schranke zwischen Leben und Tod, sondern zwischen Sein und Nichtsein, Fleisch und Seele, Kosmos und Chaos, Geschichte und Mythos, Sinn und Sinnlosigkeit, dem Physischen und dem Spirituellen, dem Reinen und Unreinen, Zeit und Ewigkeit, Polis und Exil, Subjekt und Objekt; es ist, kurz gesagt, ein absoluter taxonomischer Index der Welt als einer abgeschlossenen Totalität; denn wenn jede Begrenzung eine Art Tod ist, dann ist die Begrenzung auch die Kraft des Lebens – so lange sie gewahrt wird.

Aber genau diese Begrenzung überschreitet Christus, der keine Schranken respektiert, in absoluter Freiheit. Die Auferweckung Christi ist, sofern das leere Grab ihr Kardinalzeichen ist, das genaue Gegenteil jeder Form gnostischer Vertröstung, jedes Heilsschemas, das die Schöpfung der Herrschaft der Mächte ausliefert und zugleich eine Emanzipation von der Welt und ihren Leiden bietet; die Form Christi, der Heilsweg, legt sein reales historisches Gewicht nie ab, seine Schönheit – seine kabod.

David Bentley Hart

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Karfreitagsverse

Wir fürchten uns wohl vor dem Schmerz,

Mehr aber vor der Stille, denn kein grausamer Alpdruck

Könnte furchtbarer sein als diese Öde.

Dies ist die Verdammnis. Dies ist der Zorn Gottes.

(W.H. Auden)

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Zum Aufstehen zu wenig

Vor einiger Zeit bekam ich das inzwischen veröffentlichte Thesenpapier Zeit zum Aufstehen zugesandt mit der Einladung, Erstunterzeichner zu werden. Anscheinend gehöre ich zu den Menschen, denen die Autoren das zutrauten. Viele meiner Freunde und Bekannte haben sich inzwischen dem Aufruf angeschlossen.

Ich war nicht begeistert. Hier sind ein paar Gründe:

Erstens scheint es mir, dass es hier um evangelikale Richtigkeiten geht, die zu bekräftigen die Urheber und wohl auch viele Unterzeichner nichts kostet, weil sie diese Positionen seit Jahr und Tag vertreten und in einem Umfeld arbeiten, das sie ebenfalls für selbstverständlich hält – jedes Rütteln an ihnen aber vehement sanktionieren würde. Das Papier hätte vor 25 Jahren genau so erscheinen können. Ich habe mich gefragt, was sich denn eigentlich bewegt hat in letzter Zeit. Aber vielleicht ist das schon die falsche Frage, weil Positionierung und Bewegung ja gerade nicht dasselbe sind.

Zweitens enthält es formal und inhaltlich aus meiner Sicht keinerlei Gesprächsangebot an Andersdenkende, lädt zu keinem Brückenschlag ein, stellt keine Fragen, sondern formuliert Parolen und versucht, die eigenen Reihen zu schließen. In der obligatorischen Bekräftigung der Autorität der Bibel finden sich so – Entschuldigung, plumpe – Slogans wie „Die Bibel ist immer aktueller als der jeweilige Zeitgeist.“ Gilt das auch für die Bibeltexte, die Sklaverei unkritisch sehen? Und wenn nicht, was bedeutet so ein Satz dann eigentlich noch?

Drittens fallen die Leerstellen auf: Die Christologie (genauer: Göttlichkeit und Einzigartigkeit Christi, Versöhnung durch Kreuz und Auferstehung) hat die Trinität überlagert, vom Heiligen Geist ist nirgends die Rede und der Schöpfer erscheint, wenn man genau hinsieht, nur als Begründer und Garant der Ebenbild-Anthropologie. Diese wiederum reduziert sich, wie die weiteren Aussagen zeigen, auf die Festschreibung traditioneller Geschlechtermuster und die Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Ich bin auch gegen eine „Entwertung der Ehe“, aber ich weiß natürlich, dass dieser Textbaustein mittlerweile ein gängiges Codewort ist, das darauf zielt, andere Lebensformen als problematisch und defizitär hinzustellen.

Viertens: Fahndet man nach den gesellschaftspolitischen Konsequenzen des Aufrufes, dann bleiben die Themen Lebensrecht, islamkritisch akzentuierte Religionsfreiheit und die Exklusivität der traditionellen Familie allein auf weiter Flur. Hat Jesus das gemeint, als er vom Reich Gottes sprach? Die Bekräftigung der alten Engführungen ist doch ein Schlag ins Gesicht für die Vertreter der Micha-Initiative, die evangelikale Frömmigkeit und den Einsatz für eine gerechte Welt verbinden, die sich ja längst nicht mehr trennen lässt von der Bewahrung der Schöpfung.

Das ohrenbetäubende Schweigen zu diesen Themen ist natürlich auch eine klare Abgrenzung von allen anderen kirchlichen Bewegungen, die sich eben diese Themen auf die Fahnen geschrieben haben. Und damit vermittelt der Text unterm Strich den Eindruck, dass es den Autoren nicht um Kooperation, gegenseitige Ergänzung und lebendigen Austausch geht, sondern um das Beharren auf und die Durchsetzung von bestimmten Positionen.

Das ist jetzt meine völlig subjektive Interpretation dieses Textes. Möglicherweise lesen und meinen ihn die Autoren und Unterzeichner ja anders. Daher ist das keine persönliche Kritik an einzelnen, wohl aber eine an diesem verunglückten Aufruf.

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Liebe, Lieder und der Abwasch

Neulich erzählte ein Pfarrer, dass sich manche Gemeindeglieder mit Lobpreisliedern auch deshalb schwer tun, weil Gott darin nicht in der dritten Person erscheint, sondern in der zweiten. Es sind Lieder an Gott und nicht, wie gewohnt über Gott. Im Falle der Lobpreislieder gibt es eine doppelte Analogie zu ihren Gunsten, die bei der Gewöhnung helfen könnte:

Erstens entspricht es der Mehrzahl der biblischen Psalmen, Gott unmittelbar zum Adressaten zu machen (viele der neutestamentlichen Hymnen allerdings wählen die dritte Person).

Zweitens ist das intime „Du“ auch in der Popmusik zuhause, wo die Angebetete (oder Verflossene…) meist auch in der zweiten Person angeredet wird. Bis dahin, dass auf den ersten Blick gar nicht mehr so leicht auszumachen ist, ob da noch ein menschliches Wesen gemeint ist oder ein göttliches. Schön zu sehen aktuell bei Sunrise Avenue und „Lifesaver“. Es sieht fast danach aus, als hätte der Texter sich von Amazing Grace inspirieren lassen, wenn es unter anderem heißt:

Oh, my friend, you’re holding out your hand


I take it like an oar from the depth 


Hey, Lifesaver, I’m drowning in despair 


But you’re fighting for me right until the end. 


You pull me back to land and save me once again.

You help me wash away 


The insane mistakes I’ve made 


And I see it in your face 


My only source of grace

Kleine Randbemerkung: Diese Songtext-Website hat die Zeile „You help me wash away“ mit „Du hilfst mir beim Abwaschen“ übersetzt. So praktisch kann Liebe sein! Andererseits – gar nicht so ganz falsch, das Ganze: Auch in den geistlichen Liedern muss immer Gott den „Abwasch“ erledigen…

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„Was ist Wahrheit?“

Nietzsche fand bekanntlich, dass Pilatus besser abschneidet als Jesus, weil er illusionäre Wahrheitsansprüche ironisiert. David Bentley Hart betrachtet das Gespräch der beiden aus einem anderen, sehr erhellenden Blickwinkel, wie ich finde:

Die Frage des Pilatus ist höchst dialektisch, höchst sokratisch: Mit einem Wahrheitsanspruch konfrontiert, einer rhetorischen Geste, die den Angesprochenen zur Anerkennung einlädt, aber die abgesehen von dieser Einladung nicht in eigener Sache argumentiert, versucht Pilatus, deren Kraft umzuleiten, indem er seinen Blick von der Wahrheit vor seinen Augen abwendet, hin zu einer abstrakten Frage bezüglich der Wahrheit von Wahrheit.

Jesus jedoch hat keine Behauptung aufgestellt, die besagt, dass er wahr sei, dass er im Abstrakten an „Wahrheit“ appelliere, vielmehr hat er gesagt, dass er die Wahrheit ist, die er anbietet und bezeugt; er hat die Frage des Pilatus tatsächlich schon beantwortet, und Pilatus manövriert sich nun weg von dem beunruhigenden Anspruch, vor den Christus ihn stellt. Und dann wieder, nachdem Christus gegeißelt und verspottet worden ist, versucht Pilatus Christus ein letztes Mal dazu zu zwingen, über sich Auskunft zu geben, irgendein reinrassiges – „Wo bist du her?“ – das den außerordentlichen Ansprüchen, die er stellt, Autorität verleiht oder sie wenigstens erklärbar macht; Pilatus ringt darum, die Kraft der Rhetorik aufzulösen, die vor ihm steht, mit Dornen gekrönt, und schließlich kann er nur die eine Wahrheit aussprechen, die er kennt – „weißt du nicht, dass ich die Macht habe, dich zu kreuzigen?“ – und dann kann er nur diese Wahrheit herbeiführen, … indem er Christus dem Tod übergibt.

Pilatus ist also nicht der vornehme Ironiker, sondern schlicht ein kurzsichtiger Reaktionär; Jesus hat die Ordnung von Wahrheit, der Pilatus sich verschrieben hat, längst untergraben, also hat Pilatus keine andere Wahl, als sie wiederherzustellen, indem er handelt. Christi Wahrheit jedoch ist derart, dass sie umso offenkundiger wird, je mehr man sie unterdrückt; ihre Geste ist die des Geschenks, das selbst dann gegeben wird, wenn es abgelehnt wird; und so macht Christus am Kreuz die schiere Gewalt, die den Ökonomien weltlicher Wahrheit zugrunde liegt, für sich selbst transparent, und eröffnet eine Wahrheit anderer Ordnung, eine andere Geschichte, eine, die jedes Mal neu und mit größerer Kraft erzählt wird, wenn man sie mit Gewalt zu Schweigen bringt. (The Beauty of the Infinite, S. 332f.)

(Wer dem Wahrheitsthema gern weiter nachgehen möchte, kann hier zu Parker Palmers Gedanken klicken).

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Weisheit der Woche: Der poetische Gott

Ein schönes Zitat von Alfred N. Whitehead (aus der Predigt meines katholischen Kollegen Michael Pflaum vom vergangenen Wochenende):

Gott ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte.

Und im kritischen Blick auf populäre Gottesbilder (der Monarch, der Moralist, der Apathische) konnte Whitehead sagen:

Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie blickt nicht in die Zukunft; denn sie findet ihre eigene Belohnung in der unmittelbaren Gegenwart.

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Niemand hat das verdient!

Vielleicht liegt es daran, dass ich vorgestern einen Bericht über die heimlichen Foltermaßnahmen der CIA und einen über Augenzeugenberichte aus den Konzentrationslagern des Dritten Reiches gelesen habe und dann über Karfreitag nachdenken musste. Jedenfalls fiel mir ein, wie oft ich den Satz gehört habe, „ich“ oder „wir alle“ hätten es ja eigentlich „verdient“ gehabt, am Kreuz zu enden. Also an der für damalige Verhältnisse brutalsten und unmenschlichen Folter zu sterben.

Ich weiß schon, was damit vermutlich gemeint ist: Es ist der Versuch, das neutestamentliche „für unsere Sünden gestorben“ nachzubuchstabieren. Aber es ist für mich ein Versuch, der in eine falsche Richtung führt:

Erstens nämlich verharmlost und legitimiert so ein Satz (ungewollt zwar, aber um so effektiver) die unmenschlichen Grausamkeiten, auf die er sich bezieht, indem es sie als „verdient“ bezeichnet. Dagegen kann man nur sagen: Niemand hat das verdient, wirklich niemand. Zumal sich sofort die Frage stellt, wer ein solches Urteil überhaupt fällen und solche Gewalt verüben darf. Der Satz setzt die Folterknechte und ihre Dienstherren damals und heute ins Recht.

Zweitens wirft der Satz ein völlig entstellendes Licht auf Gott. Dessen Heiligkeit scheint sich daran zu bemessen, dass jeder Kratzer, der ihr zugefügt wird, möglichst drakonisch vergolten wird. Je vernichtender das Urteil über jeden, der sie antastet (man könnte auch sagen: je grausamer die Rache), desto strahlender erscheint Gottes Herrlichkeit. Zugleich löst sich angesichts der Dominanz von strafender „Gerechtigkeit“ die Beziehung von Gottes Heiligkeit und seiner Barmherzigkeit und Liebe fast vollständig auf.

Drittens führt die Aussage zu einem kranken Menschenbild. Wenn jedem Durchschnittssünder schon aus Prinzip die Höchststrafe droht, dann fehlt in Gottes Blick auf den Menschen jedes Element von therapeutischer Korrektur, sanftem Werben, und das kann ja nur heißen, dass man es eben gar nicht wert ist. Wenn also jemand von sich sagt, er habe das „verdient“, dann tut er es ja meist in dem sicheren Wissen, dass ihm die Vollstreckung erspart bleibt. Vielleicht schaut man dann nicht so genau hin und fragt auch nicht, ob man das wirklich, wirklich ernst meint.

Diese Strafe, die an Jesus vollstreckt wurde, hat niemand verdient. Gott hat sie auch nicht „verhängt“. Er hat sie am dritten Tag aufgehoben.

Die Liebe Gottes, die sich am Kreuz zeigt, fragt im Übrigen nicht einmal rhetorisch, was wir „verdienen“ oder nicht. Also auch nicht, um uns einen pädagogisch-taktischen Schreck einzujagen und den dann durch den nachfolgenden Hinweis auf die Vergebung in ewige Dankbarkeit zu verwandeln.

Die Liebe fragt nur danach, wie sie möglichst allen Menschen einen solchen Tod ersparen kann, und wie das unbeschreibliche Leid derer, denen Folter und Grausamkeit widerfährt, in den Horizont einer noch größeren Hoffnung gestellt werden kann.

Das Kreuz ist, so verstanden, aber auch Gottes Gerichtsdrohung gegen die Verbrechen der Nazis, der CIA und aller anderen Menschenverächter. Die unterdrückten Stimmen der Opfer werden nicht aus der Geschichte verdrängt. Die Täter werden sich ihnen noch stellen müssen. Erst dann kann die Welt heil werden.

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Die Kunst, gastfreundlich und verwundbar zu sein

Vor mir liegt der stattliche Sammelband Christus heute bezeugen: Mission auf dem Weg von Edinburgh 2010 nach Busan 2013. Einer der ersten Texte, die ich gelesen habe, stammt von Michael Bieler aus Hamburg und trägt den Titel „Gastfreundschaft und Verwundbarkeit“. Ich bin an der Formulierung deswegen hängen geblieben, weil sie zwei wesentliche Werte darstellen, die ich durch die Northumbria Community schätzen gelernt habe: Gastfreundschaft und Verwundbarkeit.

Im Blick auf das Missionsverständnis in einer multireligiösen Welt und ganz konkret im Blick auf das Verhältnis zu Migrationskirchen fragt Bieler dort, durchaus provokativ, wie absichtslos Mission eigentlich sein müsste:

Wie leben wir und wie drücken wir die Gastfreundschaft aus, die wir von Gott empfangen haben? Indem wir anderen Raum geben, indem wir bereit sind, uns durch die verändern zu lassen, denen wir Gastfreundschaft anbieten oder von denen wir selbst Gastfreundschaft erfahren. Wenn dieses Verständnis ernst genommen wird, stellt es letztlich in Frage, ob Mission überhaupt Ziele identifizieren kann.

Den Englischen Text kann man hier nachlesen.

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