Die Zukunft im Rückspiegel

Im Frühjahr findet auf dem Schwanberg ein Symposium über keltisches Christentum statt, auf das ich mich schon sehr freue. Gleich morgen werde ich auf dem Emergent Forum 2013 in Berlin einen Workshop dazu anbieten. Und ich bin inzwischen darüber, meinen acht Jahre alten Text aus „Licht der Sonne, Glas des Feuers“ gründlich zu überarbeiten. Gleich auf den ersten Seiten merke ich, wie viel ich von dem, was ich damals geschrieben habe, heute ganz anders sage.

Mein Interesse ist kein Romantisches, es geht nicht um die Verklärung einer heilen Welt oder die Reminiszenz an ein goldenes Zeitalter. Es reicht mir nicht, die beispiellose missionarische Erfolgsgeschichte zu erzählen und mich an den Heldentaten ihrer Großen moralisch und geistlich aufzurichten. Meine verarmte Vorstellungskraft mit blumigen Segenssprüchen aufzupeppen, ist nett, aber bei weitem nicht genug.

Für mich ist die Geschichte der keltischen Kirche ein Spiegel, in dem wir unsere heutige Situation betrachten können und all die Fragen die sie an uns stellt. Sie ist ein sprechender Spiegel, weil diese zeitlich und kulturell fernen Gesprächspartner Erfahrungen und Einstellungen mitbringen, die das heutige Bild verändern können. Ich will das an ein paar Punkten verdeutlichen:

1. Öko-Spiritualität: Die Moderne – unglücklicherweise auch das moderne Christentum – hat uns mit ihrer materialistischen Objektivierung und Ausbeutung der Natur in eine gewaltige Krise gestürzt. Die vielen Facetten wie Klimawandel, Artensterben, Niederbrennen der Regenwälder, Überfischung und Aufheizung der Weltmeere hier alle aufzuzählen, würde zu weit führen. Wenn sich daran noch etwas ändern soll, dann reichen Schadensstatistiken und Horrorszenarien nicht aus, sondern wir brauchen einen neuen inneren, emotionalen und spirituellen Zugang zu diesen Dingen, um eine neue Nachhaltigkeit leben zu können. Neben Einzelpersonen wie Franz von Assisi oder Hildegard von Bingen sind es vor allem die keltischen Christen, die uns hier weiterhelfen können.

2. Politische Nachfolge: Während in der lateinischen Kirche des Mittelalters Papst und Kaiser vielfach um die Weltherrschaft stritten und einer den anderen unterwerfen wollte, haben die Äbte und Bischöfe der Kelten es verstanden, den Kontakt zu den Machthabern zu halten, ihnen notfalls mächtig ins Gewissen zu reden, aber zugleich ihre Distanz und Unabhängigkeit zu wahren. Mit der Abschaffung der Sklaverei und dem Schutzrecht für die „Unschuldigen“ haben sie elementare Menschenrechte viele Jahrhunderte vor deren Formulierung durch die UN durchgesetzt.

3. Gemeinde als Gegenkultur: Die großen Kirchen genießen in Deutschland vielfältige Privilegien aus der Ära des Staatskirchentums. Entsprechend angepasst sind sie in vieler Hinsicht an den gesellschaftlichen Mainstream, und wie alle Etablierten schrecken sie, gelähmt von Verlustängsten, vor jeglicher Radikalität zurück, die einen Bruch mit dem kulturellen Mainstream bedeuten könnte. Haushalts- und Stellenpläne werden leidenschaftlicher und ausführlicher diskutiert als die Frage, was die Minderheitenkirche von morgen wohl stark macht. Freikirchen haben hier Vorteile, leiden jedoch oft unter ihrer undurchlässigen Subkultur. Freilich gibt es in beiden Lagern, bei den Etablierten wie den Imprägnierten, auch positive Ausnahmen; aber die sind eben genau das: Ausnahmen. Wie man als Minderheit angstfrei in einer andersgläubigen Umgebung leben kann und sich für das Gemeinwohl einsetzt, auch das haben uns die Kelten vorgemacht. Sie schöpften dabei aus der Spiritualität der Wüstenväter, die schon 150 Jahre früher ein asketisches Gegenmodell zur antiken Großkirche etabliert hatten.

4. Vielgestaltige Kirche: Unsere sesshaften Gemeinden und Verbände belohnen Kreativität und Querdenkertum in den seltensten Fällen. Wie viele andere Institutionen fördern und belohnen sie eher Anpassung, Mittelmaß und eine Kultur der Risikovermeidung. Pioniertypen, die die Welt auf den Kopf stellen möchten oder von einer „Verbuntung“ (P. Zulehner) der Kirche träumen, werden oft passiv ausgebremst und administrativ kaltgestellt. Prophetische Gestalten überleben nur in besonderen Nischen und Biotopen, die ihnen die Funktionäre lassen. Ganz anders St. Patrick & Co: In der neuen, rauen Umgebung der keltischen Kultur bildete das Christentum, das aus dem römischen Reich kam und sich dort zur Staatsreligion aufgeschwungen hatte und dessen Priester im Gottesdienst die Kleidung der kaiserlichen Beamten trugen, ganz andere kirchliche Strukturen aus. Und vor allem brachte es große Kämpfer- und Abenteurernaturen hervor.

5. Nichtkoloniale, gewaltfreie und kontextuelle Mission: Die Transformation einer ganzen Kultur durch das Evangelium, die an der Wende von der Spätantike zum Frühmittelalter durch die Verkündigung, Klostergründungen, Bildungsangebote und die gesellschaftliche Einmischung der keltischen Christen in ihrer Heimat und darüber hinaus stattfand, hat so gar nichts mit den Formen von Mission zu tun, für die sich die Kirchen heute entschuldigen und schämen – oft zu Recht, hin und wieder aber auch zu Unrecht. Sie ist das Gegenstück zu Karl dem Großen, der die Sachsen vor die Wahl stellte, sich taufen oder umbringen zu lassen, zu den Kreuzzügen und der Inquisition, zu den spanischen Conquistadores im sechzehnten Jahrhundert oder zu der kolonialen Verkirchlichung fremder Völker, die aus einer Position materieller, technischer und militärischer Überlegenheit heraus unternommen wurde und die ihre Adressaten herablassend bewertete. Auf all diese „Argumente“ verzichteten die keltischen Christen. Der nachhaltige Segen, den sie gebracht haben, gibt ihnen Recht.

Ich breche hier einfach mal ab. Es geht nicht darum, wie heil und schön damals alles war. Es geht darum, was bei uns heil werden könnte, wenn wir uns auf eine echte Begegnung und einen kirchengeschichtlichen Dialog einlassen. Darstellende Kunst, Dichtung, Erzählkunst und Musik kommen dann noch bereichernd hinzu. Meinetwegen diskutieren wir diese Fragen auch anhand anderer Beispielen. Ich habe nur noch keine besseren gefunden.
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Himmel und Highlands

Für den gerade beginnenden Winter muss man das Jahr über Farben sammeln. In Schottland habe ich diesen Sommer so viele davon gefunden, dass sie fürs ganz Jahr reichen, und wer möchte, kann sie für sich oder als Weihnachtsgeschenk für Schottland-Begeisterte im Freundes- und Bekanntenkreis bei Calvendo bzw. über Amazon erstehen. Dort findet Ihr auch eine Vorschau der Fotos.

Das Format bis zu A2 kann man selbst wählen. Ich werde dabei garantiert nicht reich, aber wenn Euch der Kalender gefällt, sagt es weiter oder schreibt gern auch eine Rezension.

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Blitzableiter-Mission

Christian Morgenstern hat sich – wie über vieles Andere auch – über manche Eigenarten religiösen Redens lustig gemacht, zum Beispiel in dem Gedicht vom Heiligen Pardauz:

Im Inselwald ›Zum stillen Kauz‹,

da lebt der heilige Pardauz.

Du schweigst? Ist dir der Mund verklebt?

Du zweifelst, ob er wirklich lebt?

So sag ichs dir denn ungefragt:

Er lebt, auch wenn dirs mißbehagt.

Er lebt im Wald ›Zum stillen Kauz‹,

und schon sein Vater hieß Pardauz.

Dort betet er für dich, mein Kind,

weil du und andre Sünder sind.

Du weißt nicht, was du ihm verdankst, –

doch daß du nicht schon längst ertrankst,

verbranntest oder und so weiter –

das dankst du diesem Blitzableiter

der teuflischen Gewitter. Ach,

die Welt ist rund, der Mensch ist schwach.

Der Name „Pardauz“ fällt sofort auf, er gehört zu den aussterbenden Begriffen (heute hieß der vermutlich „boing!“), allerdings war er das zu Morgensterns († 31.3.1914) Zeiten sicher nicht. Aber wer das Wort noch versteht, denkt unwillkürlich an jemand, der durch die Gegend stolpert oder irgendwie linkisch agiert. Und so passt das Linkische und „Kauzige“ zur implizierten vormodernen Weltferne, die in der Kombination von Insel und Wald besteht. Ein verschrobener Einsiedler also.

Es folgt die Auseinandersetzung des Gläubigen mit dem Zweifler. Welche Rolle spielt es denn für den Bewohner der modernen Großstadt, was der Heilige in seinem Hain tut und lässt? Der säkulare Adressat dieser Worte schweigt vermutlich nicht deshalb, weil er zweifelt, sondern weil er das Ganze verständlicherweise für vollständig irrelevant hält, worauf der Gläubige seine missionarische Botschaft mit einem trotzigen „so sag ichs dir denn ungefragt“ intoniert und die Ablehnung seines Gegenübers schon vorwegnimmt („auch wenn dirs missbehagt“).

Solche Töne begleiten die Affirmation des Glaubens: „Er lebt – es gibt ihn wirklich. Er lebt am angegebenen Ort, und das hat auch eine Vorgeschichte, die durch die Gleichnamigkeit mit dem Vater aber ins Zeitlose aufgelöst wird. Und dann wird die Not-Wendigkeit seiner Existenz aus der Warte des Wissenden herablassend („mein Kind“) erläutert: Der Mensch hat als „Sünder“, der er ist (etwa weil er zweifelt?), vom Leben im Grunde nur Böses zu erwarten – darauf deutet die für schaurige Ergänzungen offene Liste der „teuflischen Gewitter“. Allerdings steht der Missionar vor der schwierigen Aufgabe,einem eigentlich recht zufriedenen Sünder dessen gefährliche Lage dringlich bewusst zu machen.

Dabei überfällt ihn, noch während er redet, die fromme Melancholie. Denn es sind aus seiner Perspektive ja gerade die treuen Fürbitten des Heiligen, die dem Sünder eben jene Sorglosigkeit ermöglichen, aus der heraus er die Existenz des Mittlers und „Blitzableiters“ für unerheblich halten kann. „Die Welt ist rund“ (wie bei Sepp Herberger der Ball, zitierte der am Ende also Morgenstern?) und von dieser unumstößlichen Gewissheit aus geht es zur nächsten: „der Mensch ist schwach“.

Und so finden der Missionar und sein widerstrebender Adressat, religiöse und säkulare Weltdeutung, so fremd sie einander bleiben, doch noch einen gemeinsamen Nenner im Fatalismus, der alles beim Alten lässt. In der Schwachheit treffen der überforderte Evangelist und der desinteressierte Agnostiker sich wieder.

Wenn Papst Franziskus diese Woche in Evangelii Gaudium mahnt, Jesus müsse „aus den langweiligen Schablonen befreit werden, in die wir ihn gepackt haben“, gehört dazu auch die Schablone des „Blitzableiters“ (zumal der auch noch den Zorn Gottes abfängt), mit der das Relevanz- und Plausibilitätsproblem wundersam gelöst wird, oder die Schablone mythischer Zeitlosigkeit und Weltferne? Vielleicht wäre endlich auch der Pendelschwung zwischen Trotz und Melancholie überflüssig?

Freilich: Morgensterns Karikatur entspringt ja der puren Lust am Schabernack (ein Wort, so alt wie „pardauz“). Und der ernsthafte Theologe hat längst seinen Psalm 1 gelesen und mit solchen Spöttern rein gar nichts am Hut!

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Andachtskoller

Keine aktuelle, sondern eher doch eine typische Szene: Ich bin auf einer Tagung, vor uns liegen mehrere Stunden Referate und Diskussion. Aber zuvor gibt es eine „Andacht“ (wahlweise werden dafür auch andere Begriffe verwendet), die neben zwei Liedern wieder aus einer Menge Text bestehen wird. Dazu hat sich einer aus der Runde große Mühe gegeben und viel Kluges zusammengetragen, das am Ende dieses langen Tages von noch mehr Klugem zugedeckt sein wird.

Das Frühstück kommt erst noch, ich spüre den niedrigen Koffeinspiegel, der Kopf hat Mühe, den gewählten Worten zu folgen. Aber Schweigen scheint keine Option zu sein, obwohl es das eine ist, was im weiteren Programm nicht auch noch vorgesehen ist. Gern Schweigen im Blick auf eine Kerze oder ein Symbol, gern mit Musik im Hintergrund. Meinetwegen ein Bibelwort, das einfach nur für sich selbst sprechen darf.

Ist das zu schlicht? Oder ist es nicht anstrengend genug? Sollte man Menschen mit Gott nicht allein lassen (würde Gott in die Ruhe hinein sprechen, hätte dann noch jemand den Nerv, sich all die schönen Referate anzuhören? Vielleicht würde er auch jedem etwas anderes sagen)? Oder haben wir vor dem Schweigen Gottes solche Angst, dass wir jede mögliche Leere und jede Pause schon vorab füllen?

Während mir diese Fragen durch den Kopf gehen, rauscht der kluge Text zur Tageslosung an mir vorbei.

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Aktive Hoffnung (4): Aufstand der Chabos

Ohnmachtsgefühle sind die häufigste Reaktion auf die großen sozialen und ökologischen Krisen des 21. Jahrhunderts. Um nachhaltig etwas zu verändern, sagen Macy und Johnstone, müssen wir die Machtfrage stellen. Das Verständnis von und der Umgang mit Macht muss radikal neu bestimmt werden. Und ihre Neuausrichtung erinnert, ohne dass das explizit thematisiert würde, an Markus 10,42ff.

In die Krise geraten sind wir durch einen Machtbegriff, der auf Überlegenheit und Dominanz setzt. Der Mächtige unterwirft den Ohnmächtigen seinem Willen und setzt seine Vorstellungen auf Kosten anderer durch. Macht spaltet die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer, sie wird zur käuflichen Ware durch Wahlkampfspenden und Korruption (die Grenzen sind fließend), sie führt zu immer weiteren Konflikten und schafft ein Klima von Angst und Misstrauen, das durch einen aberwitzig teuren Sicherheitsapparat kompensiert werden muss.

Diese Art von Macht – Babo-Power, gewissermaßen – verhindert, dass Menschen lernen, denn schon das Eingeständnis, etwas nicht gewusst oder – schlimmer – sich geirrt zu haben, wird als Schwäche interpretiert. Zur alten, herkömmlichen Story der Macht gehört daher auch die Einsamkeit der Mächtigen – auch derer, die eigentlich aus dieser Form der Machtausübung aussteigen wollen und am Misstrauen ihrer Zeitgenossen scheitern.

Die neue Geschichte der Macht verabschiedet sich von diesem Dualismus des Oben und Unten, sie setzt ein anderes Selbstkonzept voraus als das der Objektivierung der Umwelt und dem Drang, sie zu kontrollieren, ein Selbst-in-Beziehung, das partnerschaftlich denkt und handelt. Der Gegensatz von Egoismus und Altruismus fällt damit in sich zusammen, dass der andere auch zu mir gehört und ich sein Wohlergehen als einen Gewinn empfinde. Dafür verwenden Macy und Johnstone den Begriff „Synergie“.

Synergie ist aber mehr als eine Bündelung von Kräften und Interessen, sondern sie führt auch zu Emergenz, indem sie unvorhergesehene neue Möglichkeiten eröffnet, die aus Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Akteuren und Elementen des Systems erwachsen. Das neue Ganze ist deutlich mehr als die Summe seiner Teile, und da wo der einzelne seinen Beitrag, so lange er ihn isoliert betrachtet, noch als Tropfen auf den heißen Stein versteht, da schöpft er Hoffnung in dem Augenblick, wo ihm deutlich wird, dass er selbst Teil einer viel größeren Bewegung ist und dass sein Beitrag durch andere ergänzt und vervollständigt wird, von denen er bisher vielleicht gar nichts wusste.

Visionen sind die Energie, die ein solches Beziehungsnetz entstehen und wachsen lassen. Ein Paradebeispiel wäre Nelson Mandelas Einsatz gegen Unterdrückung und für Gerechtigkeit und Frieden in Afrika. Wichtig ist diese positive Emergenz solcher Netzwerke auch deshalb, weil viele Krisen die Folgen negativer Emergenz sind – von Einstellungen und Handlungen, die jeweils für sich genommen harmlos wirken, deren kumulativer Effekt jedoch verheerend ist. Aber auch die Lösungen, die jeden einzelnen überfordern würden, funktionieren so: Jede Tat zieht Kreise, und auch wenn sich nicht jede positive Folge eindeutig einem einzelnen Impulsgeber zuordnen lässt (so wie sich eine gute Idee auch keiner einzelnen Gehirnzelle), haben wir doch gemeinsam etwas erreicht. Die Frage dabei lautet also: „Was geschieht gerade durch mich?“ Ist es eher „Business as usual“ oder bin ich ein aktiver Teil der „großen Wende“?

In dem Augenblick, wo jemand nicht nur fragt: „Was bringt’s mir?“, sondern „was kann ich beitragen?“ wird man auch immer wieder auf Verbündete stoßen, die man nicht auf der Rechnung hatte. Dieses Bewusstsein, Unterstützung zu erfahren und getragen zu werden und so über sich hinaus zu wachsen, nennen Macy und Johnstone „Gnade“. Mir scheint, sie verstehen das ganz ähnlich wie Tolkien es im „Hobbit“ beschreibt (Tolkien hatte ja neben der „sozialen“ immer auch die ökologische Bedrohung im Blick). Nicht nur wächst Bilbo über sich hinaus, als er sich um anderer Willen in Gefahr begibt, nicht nur finden Elben und Zwerge und Menschen zusammen, sondern in den düstersten Momenten fliegt urplötzlich ein Adler daher oder eine unscheinbare Amsel benimmt sich auffällig…

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Weisheit der Woche: Minderheiten

Zweifeln Sie nie daran, dass eine kleine Gruppe besonnener und engagierter Bürger die Welt verändern kann. In Wirklichkeit ist es nie anders geschehen.

Margaret Mead

Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben.

Lukas 12,32

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Qualvolle Alternative

Die Frage, was Erlösung und Evangelium bedeuten, wie das mit dem Leben und der Verkündigung, dem Tod und der Auferweckung Jesu zu tun hat und was als Folge all dieser Ereignisse die Rolle der Christen in der Welt ist, ist ein Dauerbrenner. Immer wieder kommen in den Gesprächen auch widersprüchliche Gottesbilder vor. Diese Woche kam rund um das Thema Himmel und Hölle die Frage auf, ob man letztere zwar nicht als Rache oder Vergeltung verstehen müsse, sondern als Gottes Rückzug aus der Beziehung zu einem Menschen, der ihn ablehnt.

Die Schwierigkeit bei dieser Vorstellung ist eine doppelte. Einerseits wäre ein vollständiger Rückzug Gottes nach biblischer Auffassung mit dem Tod gleichzusetzen, in diesem Fall gäbe es nicht Himmel oder Hölle, sondern ewiges Leben und endgültigen Tod. So etwa stellte es sich der große evangelikale Denker John Stott vor, doch schon der wurde für seine humane Abwandlung jener Eschatologie der transzendentalen Folterkammer von Kritikern verketzert.

Gut, das muss uns ja nicht stören, dass sich jemand aufregt – leidenschaftslos lässt sich das Thema wohl schwerlich behandeln. Manche scheinen seltsamerweise der Ansicht zu sein, ein gewaltfreier Gott könne unmöglich „Gott“ sein.

Die andere Schwierigkeit besteht darin, dass wir – das Todesproblem einmal ausgeklammert – auch mit dieser Variante (hier wäre die Formulierung „Hölle light“ tatsächlich mal angebracht!) bei einem recht zwiespältigen Gottesbild landen. Nicht von ungefähr gilt bei uns Vernachlässigung und Liebesentzug als seelische Gewalt und Grausamkeit, vor allem Kindern gegenüber; aber Dunkel- oder Isolationshaft werden ja auch ganz zu Recht als Folter bezeichnet. Gottes heißer und sein kalter Zorn unterscheiden sich an diesem Punkt nicht, dass beide in dem Moment, wo sie Gottes Liebe und Barmherzigkeit nicht mehr nach- und untergeordnet werden (etwa, indem man sie als vorübergehend versteht), sondern ihr gleichwertig an die Seite gestellt werden (etwa indem man sie als „ewig“ definiert), Gott in ein bedenkliches Licht rücken.

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Tragischer Verlust

Wenn nächstes Jahr die WM in Brasilien stattfindet, bleibt Zlatan der Große allein zu Haus. Indigniert gab der schwedische Superstar gestern nach der Pleite gegen Portugal den epischen Satz zu Protokoll: „Eines ist sicher. Eine WM ohne Zlatan lohnt sich gar nicht anzuschauen.“

Das animiert zur Nachahmung, und vielleicht tröstet das den Untröstlichen ja auch ein bisschen: Eine WM ohne Zlatan ist…

  • wie Schweden ohne Stechmücken
  • wie Paris ohne Touristen
  • wie der Club ohne Abstiegssorgen
  • wie die FIFA ohne Sepp Blatter
  • wie Große Koalition ohne Horst Seehofer
  • wie die Kanzlerin ohne den Verband der Automobilindustrie
  • wie Neapel ohne Vesuv
  • wie Verfassungsschutz ohne Neonazis
  • wie die NSA ohne Internet
  • wie Gerhard Schröder ohne Putin
  • wie Limburg ohne Dom

 

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Weisheit der Woche: Die wirklich wichtigen Dinge

Die verbreitete Unterscheidung zwischen Egoismus und Altruismus ist … irreführend. Sie beruht auf einer Trennung zwischen dem Selbst und dem anderen und stellt uns vor die Wahl, ob wir uns selbst (Egoismus) oder anderen (Altruismus) helfen wollen. Wenn wir das Verbundene Selbst betrachten, erkennen wir, wie unsinnig diese Alternative ist.

Denn das, was den meisten Menschen am Wichtigsten ist im Leben, ergibt sich aus unserem Verbundenen Selbst, und dazu gehören Liebe, Freundschaft, Loyalität, Vertrauen, Beziehung, Zugehörigkeit, Bestimmung, Dankbarkeit, Spiritualität, gegenseitige Hilfe und Sinn.

Macy/Johnstone, Active Hope


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Gott gibt keine Antworten

Aus dem Wettersturm heraus hört Hiob Gott erstmals sagen: „Wer ist es, der ohne Einsicht den Rat verdunkelt?“ (Hiob 42,3). Erst aus seiner Abwesenheit heraus macht Gott sich gegenwärtig, und nicht nur der Wettersturm steht für seine Abwesenheit, nicht nur Sturm und das Chaos der Welt, die alle Versuche des Menschen zertrümmern, Gott in der Welt zu finden, sondern Gott ist auch bewegend in all den Worten Hiobs über Gott und den Worten seiner Tröster, weil sie Worte ohne Einsicht sind, die die Gottesfrage verdunkeln, indem sie ihn als gegenwärtig definieren wollen in Weisen und an Orten, wo er nicht gegenwärtig, ihn als moralische Ordnung zu definieren, als die beste Antwort, die der Mensch auf das Problem seines Lebens geben kann. Gott ist keine Antwort, die ein Mensch geben könnte, sagt Gott. Gott selbst gibt keine Antworten. Er gibt sich selbst, und mitten hinein in den Wettersturm seiner Abwesenheit gibt er sich selbst.

Frederick Buechner

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Das Prophetentum aller Glaubenden

Seit der Reformation ist das Wort vom „Priestertum aller Glaubenden“ weit verbreitet. Oft jedoch nur als Floskel mit begrenzter Aussagekraft in der Praxis. In den letzten Jahren wurde das vielerorts stillschweigend zum „Priestertum aller Getauften“ umdeklariert. Ein ganz unglücklicher Zug, wie ich finde, weil es eine hinderliche Formalisierung darstellt, nicht auf den Akt des Glaubens in der Gegenwart (Partizip Präsens), sondern mit einem Partizip Perfekt Passiv auf das zurückliegende Geschehen der Taufe zu verweisen – ohne dass dabei klar wird, wie der einzelne heute zu Gott, Taufe und Kirche steht. Nicht wenige Getaufte haben die Kirche ja längst verlassen – sind sie auch gemeint (das wäre eine bedenkliche Vereinnahmung) und wie sollte man sich deren tätiges „Priestertum“ eigentlich konkret vorstellen?

In diesen Tagen saß ich über Numeri 11, wo Mose in kritischer Lage seufzt: „Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!“ Der Vers hat ein neutestamentliches Echo in 1.Korinther 14,5, wenn Paulus schreibt: „Ich wünschte, ihr alle […] würdet prophetisch reden.“ Wahrscheinlich hat er auch die Verheißung des Joel noch im Ohr, dass die Alten Träume und die Jungen Visionen haben würden – hier nimmt das Volk von Propheten schon erste Konturen an.

Ein interessanter Zug in Num 11 ist, dass der Geist der Prophetie nicht nur die im Heiligtum Versammelten, sondern auch auf zwei im Lager Zurückgebliebene erfüllt und damit die Grenze zwischen dem Sakralen und dem Alltäglichen sprengt. Wenn wir also vom Prophetentum aller Glaubenden reden – und ich denke, das müssten wir – dann geht es nicht nur um das Geschehen im Gottesdienst, sondern auch darum, wie jede(r) von uns in seiner alltäglichen Umgebung Prophet sein kann.

Interessanterweise geht es bei Mose weniger um das Mitteilen höherer Einsichten, sondern erst einmal um das Mittragen von Lasten und das Teilen von Leid und Mühen. Das ist eine ganz andere Interpretation der Prophetenrolle als die des erhobenen Zeigefingers. Von der Sorte gibt es vermutlich schon genug, und nicht alle, die ihrer Umwelt ständig die Leviten lesen müssen, sind dazu von Gott inspiriert und gesandt.

Aber das einfühlsame und aufrichtende Wort (vgl. Jes 50,4), die tröstende Geste, das Ausmalen von Bildern in Farben der Hoffnung, die Stimme der unterdrückten Klage, die Poesie der Sehnsucht und des Neubeginns, davon kann man eigentlich nicht genug hören. Oder?

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Sünden-Suche

IMG_1683Manchmal wird behauptet, man solle oder dürfe über das Thema Sünde heute nicht mehr reden. „Sollte nicht“, weil es säkulare Menschen verprellt, sagen die Modernisierer – „darf nicht“ weil die biblische Botschaft in unserer Spaßgesellschaft totgeschwiegen wird, argwöhnt dagegen die „Schluss-mit-Lustig“-Fraktion.

Weiter als diese Scheinalternative bringt uns, denke ich, die Frage, wie dieser theologische Begriff in unserer weitgehend säkularen Welt erscheint und gehört wird.

Dazu habe ich das Schlagwort bei einem großen Internet-Buchhandel eingegeben. Zur Trefferliste werden dort die Kategorien angezeigt, und ganz oben auf der Liste standen „Krimis und Thriller“, „Kochen und Genießen“ und „Liebesromane“. Die inzwischen tausendfach variierte Frage von Zarah Leander, ob Liebe denn Sünde sein könne, ist so betrachtet klar mit „ja“ beantwortet – erst die „sündige“ Liebe ist die eigentlich interessante. Zugleich wird deutlich, wie langweilig aus dieser Perspektive das Leben ohne Sinnlichkeit und den Reiz des Verbotenen wäre.

Die mit Abstand meisten Treffer jedoch waren weiter unten bei „Religion und Glaube“ einsortiert. Bei religiösen Menschen hat das Thema also einen höheren Stellenwert und ist Gegenstand ernsthafter, freilich nicht immer gelungener Auseinandersetzung. Man kann aber schon ahnen, warum man hier ganz schnell aneinander vorbei redet.

„Sünde“ ist ein altertümliches deutsches Wort, mit dem man vor Jahrhunderten den griechischen Begriff hamartia übersetzt hat. Seither haben sich die Wortfelder im deutschen wie tektonische Platten im Zeitrafferfilm munter verschoben. Vielleicht wäre ein erster Schritt zu gelingender Kommunikation, zu prüfen, welche heutigen Begriffe dafür vielleicht passender erscheinen und es ermöglichen, über den Sachverhalt verständlicher zu reden. Freilich werden manche auch das schon als Feigheit (das Schlüsselwort hier heißt „politisch korrekt“) werten, dass man die Frage nach einer angemessenen Terminologie überhaupt stellt, statt darauf zu beharren, dass die Welt den eigenen Jargon übernimmt.

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In bester Gesellschaft

Die „Verweiblichung“ der Gemeinde(n) und des geistlichen Amtes wird ja gelegentlich von großspurigen Machopredigern beklagt, die als Gegenmittel dann so „männliche“ Verhaltensweisen wie die Faszination von Waffen und Gewalt, PS-Protzerei oder eine (auch in der kavalierhaften Form) herablassende Haltung gegenüber Schwachen empfehlen – und natürlich mehr Zurückhaltung von Frauen in der Öffentlichkeit.

Sie sind anscheinend in guter biblischer Gesellschaft – schon Mose beklagt sich bei Gott, dass der ihm offenbar die Mutterrolle zumutet, und will dann (ist auch das typisch Mann?) gleich lieber sterben als weitermachen:

Warum hast du deinen Knecht so schlecht behandelt und warum habe ich nicht deine Gnade gefunden, dass du mir die Last mit diesem ganzen Volk auferlegst? Habe denn ich dieses ganze Volk in meinem Schoß getragen oder habe ich es geboren, dass du zu mir sagen kannst: Nimm es an deine Brust, wie der Wärter den Säugling, und trag es in das Land, das ich seinen Vätern mit einem Eid zugesichert habe? (Num 11:11f.)

Aber vermutlich hat sich Mose nicht darüber beklagt, dass das Bemuttern der Israeliten „Frauenkram“ und damit „unmännlich“ war, sondern es war ihm schlicht zu anstrengend. Andere biblische Charaktere haben gar keine Angst vor der vermeintlichen Geschlechterverwirrung. Jesus zum Beispiel kann in Lukas 13,34 sagen:

Jerusalem, Jerusalem, … Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt.

Paulus schließlich spricht von sich als einer Mutter, die wegen der begriffsstutzigen Galater (4,17) erneut Geburtswehen erleidet, und schreibt an die Thessalonicher (2,7f.):

… wir sind euch freundlich begegnet: Wie eine Mutter für ihre Kinder sorgt, so waren wir euch zugetan und wollten euch nicht nur am Evangelium Gottes teilhaben lassen, sondern auch an unserem eigenen Leben.

Falls also mal wieder jemand fürchtet, er käme nicht „männlich“ genug (tough, dominant, rau, zupackend – was auch immer das bedeuten soll…) daher: Hier sind ein paar vorbildliche Leidensgenossen, du bist also in allerbester Gesellschaft. Die eine Lektion, die es jetzt noch zu lernen gibt, ist die, dass du dich deiner Männlichkeit nicht ständig vergewissern und sie demonstrativ zur Schau stellen musst, sondern einfach du selbst sein kannst. Und dass dir kein Zacken aus der Manneskrone fällt, wenn du dich mal einfühlsam und fürsorglich verhältst.

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Die Wahrheit liegt im Eis

Chasing Ice ist ein wunderbarer Film, weil James Balog ein fantastischer Fotograf ist – und ein leidenschaftlicher Aktivist für das Leben auf diesem Planeten insgesamt. Und weil er verstanden hat, dass es das Staunen über die Schönheit der arktischen Eiswelten ist, das uns bereit macht, uns dem Schmerz über deren Sterben zu stellen und zu verstehen, dass die Gletscher heute im globalen Klima das sind, was früher die Kanarienvögel im Bergwerk waren: Ihr Tod ist ein ernstzunehmendes Alarmsignal.

Ich wünschte, jeder würde diesen Film sehen und danach mit all den gemischten Gefühlen sich zu ein paar sinnvollen Schritten verlocken lassen, die Bewegung in den Stillstand in Sachen Klima bringen. Die Häufung der Signale war in diesen Tagen ja nicht zu übersehen:

Deprimierend ist das Ganze auch deshalb, weil immer auf den Kosten der Wende herumgeritten wird und die Kosten des Abwartens und Nichtstuns nie in den Blick kommen – vielleicht aus deshalb, weil diesen Preis eben (noch) nicht die Verursacher der globalen Erwärmung zahlen, sondern die Küstenbewohner tropischer Meere, die Inselstaaten im Pazifik, die Opfer von Tornados und Waldbränden, die Kleinbauern, die heute unter Dürre und morgen unter Überschwemmungen leiden, von denen niemand im S-Klasse Mercedes beim Bäcker drei Ecken weiter fährt oder fünf Flugreisen im Jahr unternimmt und sein Geld in Aktien von Firmen angelegt hat, die alles andere als nachhaltig wirtschaften.

Besser als deprimiert zu sein wäre es, sich konstruktiv aufzuregen und gerade in diesen Tagen öffentlich Druck zu machen auf die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft.

Noch wichtiger aber: mehr Menschen für das Thema sensibilisieren. Der mehrfach ausgezeichnete Streifen Chasing Ice ist ein bezaubernd schönes Medium dafür.

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