Selber Schuld…?

Dass in der Theologie auch hin und wieder Probleme unzulässigerweise individualisiert und privatisiert wurden, habe ich hier schon einmal kritisiert. Freilich geschieht genau das in unserer Gesellschaft fortwährend, und wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass es niemanden mehr richtig aufzuregen scheint:

  • Globale Finanzkonzerne verursachen einen Crash, für den dann viele einzelne Privatpersonen zur Kasse gebeten werden: wir Staatsbürger und Steuerzahler.
  • Multinationale Firmen flüchten in Billiglohnländer und Steueroasen, bauen massiv Stellen ab, und die entlassenen Arbeitskräfte bekommen zu hören, sie müssten flexibler werden (Codewort für: finanzielle Einbußen und weniger Rechte, also Lohnkürzungen und Sozialabbau), wenn sie jemals wieder einen Job finden wollen.
  • Immer mehr dieser Lasten drücken zersetzend auf einzelne und Familien, aber wenn eine Ehe scheitert, erleben es alle Beteiligten ausschließlich als ihr ganz privates Versagen, und es wird auch nur auf dieser Ebene reflektiert.

Als wäre das alles noch nicht genug, hat in diesen Tagen ein Matthias Zahn vom SWR in einem Rundfunkkommentar behauptet, der belauschte und bespitzelte Bürger könne doch von Sicherheitsdiensten unserer demokratischen Rechtsstaaten nichts anderes erwarten, als illegal ausspioniert zu werden. Man könne mithin auch nicht von der Bundesregierung erwarten, dass sie dem Einhalt gebiete. Nein, schützen müsse sich schon jeder selbst.

Aber was ist das für ein Staat, der das Recht und seine Bürger nicht mehr schützen kann und will? Und wo hört das auf, eine legitime Erwartung zu sein, dass man geschützt wird? Wen schützt der Staat, wenn er uns nicht mehr schützt? Seine Institutionen und Dienste? Die Hinterteile seiner Amtsträger und Funktionäre, beziehungsweise deren Chancen auf Wiederwahl?

Die Kanzlerin beschwichtigt, ohne irgendetwas zu sagen. Der Innenminister fliegt durch die Weltgeschichte und macht große Augen. Vielleicht war es ja auch nur Resignation, die aus Zahns Kommentar sprach, weil da tatsächlich kein Interesse erkennbar ist, Abhilfe und damit Recht zu schaffen.

Heute nachmittag nun schloss sich Innenminister Friedrich der Position von Zahn an: Datenschutz ist Sache des einzelnen Bürgers. Vielleicht ist der fehlende Gemeinsinn auch in den höchsten Staatsämtern schon üblich, diese Tugend ist bei uns im Vergleich zu anderen Ländern laut Bertelsmann-Stiftung eher unterentwickelt.

Vom „jeder muss selber sehen, wie er klarkommt“ zum „jeder ist sich selbst der Nächste“ ist es nur ein winziger Schritt. All das erinnert an einen Satz von Theodor Adorno aus „Minima Moralia„:

Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, daß man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es anders und besser möglich wäre.

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