„Sünde“ ist überbewertet

Neulich unterhielt ich mich mit einem Freund, der Theologie unterrichtet. Er hatte sich gerade mit dem Begriff „Vergebung“ beschäftigt und dabei festgestellt, das Thema kommt in den Evangelien (und im Neuen Testament überhaupt) zwar immer wieder einmal vor, aber längst nicht so oft, wie man das meinen könnte, wenn man manchen theologischen Traditionen unteren Verkündigen zuhört. Jesus ist keineswegs ständig dabei gewesen, Menschen ihre Sünden zu vergeben. Stattdessen hatte fast alles, was er tat und sagte, mit dem Kommen des Reiches Gottes zu tun und mit dem Stichwort der Gerechtigkeit.

Das traf sich gut, denn mir war es mit dem Begriff „Sünde“ ähnlich gegangen vor einiger Zeit. Im Neuen Testament kommt, wenn meine Software das richtig anzeigt, der griechische Begriff „hamartia“ 173 mal vor, in 150 Bibelversen. Allerdings nur ganze 41 mal in den vier Evangelien, 24 mal in den synoptischen Evangelien. Davon macht die dreifach erzählte Heilung des Gelähmten knapp die Hälfte aus, dazu kommt dann das Vaterunser und das Kelchwort beim Abendmahl und darüber hinaus bleibt nicht mehr viel übrig, wenn man die Länge der Texte bedenkt.

Im Römerbrief dagegen fällt das Wort Sünde 48 mal – ein gutes Viertel also und damit einsame Spitze im Neuen Testament. Der Hebräerbrief schlägt mit 25 Erwähnungen zu Buche, zusammen macht das 42% aus. Und es sind nun eben der Römer- und der Hebräerbrief, auf die sich zum Beispiel unsere Theologien des Sühnopfers stützen, genauso wie die Anschauung, dass die Erlösung von der Sünde (und dies nun verstanden als individuell zu verantwortendes, schuldhaftes und strafbedrohtes moralisches Versagen) das zentrale Problem sei, für das Bibel und Christentum eine (exklusive) Lösung anzubieten hätten (und manche konservative Stimmen würden hinzufügen: Für nichts anderes als dafür!).

Tom Wright hat immer wieder einmal darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir Paulus und das Neue Testament nicht vom Römer- sondern zum Beispiel vom Kolosser- und Epheserbrief her lesen würden, vielleicht zu ganz anderen Verhältnisbestimmungen kämen. Zudem bietet Wright auch eine großartige Rückbesinnung darauf, was die Rede von „Sünde“ (und „Sündern“) im Judentum zur Zeit Jesu bedeutete und inwiefern Sünde damals als Problem betrachtet wurde.

Jesus und außerhalb des Römerbriefes auch Paulus haben also nicht annähernd so oft über Sünde gepredigt, wie das in der Tradition des Spätmittelalters und der Reformation, weiten Teilen des Pietismus und vor allem der Heiligungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts geschah. Dass das Wort fehlt, muss nicht unbedingt bedeuten, dass auch die Sache nie in den Blick kommt. Menschliches Scheitern, Zerbrochenheit, Verlorenheit und sogar Bosheit werden immer wieder thematisiert, vor allem aber Gottes Antwort auf diese Misere.

Dallas Willard hat in The Divine Conspiracy gefrotzelt, das Evangelium des „Sündenmanagements“ (von dem es eine konservative und eine liberale Variante gibt) führe zu einem „Vampirchristentum“, das nur an Jesu Blut interessiert sei, nicht jedoch an der Nachfolge Christi und der Umgestaltung des Selbst durch Gottes Geist mitten in einer instabilen Welt.

Im apostolischen Glaubensbekenntnis, das ja durchaus einige theologische Leerstellen enthält, erscheinen die Begriffe Sünde und Vergebung ganz am Schluss. Ursprünglich war das ja ein Leitfaden für die Bibellektüre. In dieser Hinsicht vielleicht kein ganz schlechter. Wenn wir das Thema Sünde und Vergebung einen Augenblick zurückstellen und es nicht zwanghaft überall hineinlesen, wo es weder der Begrifflichkeit noch der Sache nach erscheint, dann entdecken wir möglicherweise viele spannende Aspekte von Gottes Handeln, die uns bisher gar nicht so richtig aufgefallen sind.

Den Versuch wäre es allemal wert!

PS: Bevor jetzt die Kommentare all derer losgehen, die falsche Umkehrschlüsse lieben – ich habe nicht gesagt und auch nicht impliziert, dass (1.) Sünde kein Thema im NT ist, (2.) Vergebung überflüssig, (3.) das Kreuz sinnlos. Ich stelle nur in Frage, ob (1.) Sünde und Vergebung die bestimmenden oder gar (2.) einzig legitimen Kategorien sind, in denen Gottes Handeln in Christus beschrieben werden sollte.

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