„Sünde“ ist überbewertet

Neulich unterhielt ich mich mit einem Freund, der Theologie unterrichtet. Er hatte sich gerade mit dem Begriff „Vergebung“ beschäftigt und dabei festgestellt, das Thema kommt in den Evangelien (und im Neuen Testament überhaupt) zwar immer wieder einmal vor, aber längst nicht so oft, wie man das meinen könnte, wenn man manchen theologischen Traditionen unteren Verkündigen zuhört. Jesus ist keineswegs ständig dabei gewesen, Menschen ihre Sünden zu vergeben. Stattdessen hatte fast alles, was er tat und sagte, mit dem Kommen des Reiches Gottes zu tun und mit dem Stichwort der Gerechtigkeit.

Das traf sich gut, denn mir war es mit dem Begriff „Sünde“ ähnlich gegangen vor einiger Zeit. Im Neuen Testament kommt, wenn meine Software das richtig anzeigt, der griechische Begriff „hamartia“ 173 mal vor, in 150 Bibelversen. Allerdings nur ganze 41 mal in den vier Evangelien, 24 mal in den synoptischen Evangelien. Davon macht die dreifach erzählte Heilung des Gelähmten knapp die Hälfte aus, dazu kommt dann das Vaterunser und das Kelchwort beim Abendmahl und darüber hinaus bleibt nicht mehr viel übrig, wenn man die Länge der Texte bedenkt.

Im Römerbrief dagegen fällt das Wort Sünde 48 mal – ein gutes Viertel also und damit einsame Spitze im Neuen Testament. Der Hebräerbrief schlägt mit 25 Erwähnungen zu Buche, zusammen macht das 42% aus. Und es sind nun eben der Römer- und der Hebräerbrief, auf die sich zum Beispiel unsere Theologien des Sühnopfers stützen, genauso wie die Anschauung, dass die Erlösung von der Sünde (und dies nun verstanden als individuell zu verantwortendes, schuldhaftes und strafbedrohtes moralisches Versagen) das zentrale Problem sei, für das Bibel und Christentum eine (exklusive) Lösung anzubieten hätten (und manche konservative Stimmen würden hinzufügen: Für nichts anderes als dafür!).

Tom Wright hat immer wieder einmal darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir Paulus und das Neue Testament nicht vom Römer- sondern zum Beispiel vom Kolosser- und Epheserbrief her lesen würden, vielleicht zu ganz anderen Verhältnisbestimmungen kämen. Zudem bietet Wright auch eine großartige Rückbesinnung darauf, was die Rede von „Sünde“ (und „Sündern“) im Judentum zur Zeit Jesu bedeutete und inwiefern Sünde damals als Problem betrachtet wurde.

Jesus und außerhalb des Römerbriefes auch Paulus haben also nicht annähernd so oft über Sünde gepredigt, wie das in der Tradition des Spätmittelalters und der Reformation, weiten Teilen des Pietismus und vor allem der Heiligungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts geschah. Dass das Wort fehlt, muss nicht unbedingt bedeuten, dass auch die Sache nie in den Blick kommt. Menschliches Scheitern, Zerbrochenheit, Verlorenheit und sogar Bosheit werden immer wieder thematisiert, vor allem aber Gottes Antwort auf diese Misere.

Dallas Willard hat in The Divine Conspiracy gefrotzelt, das Evangelium des „Sündenmanagements“ (von dem es eine konservative und eine liberale Variante gibt) führe zu einem „Vampirchristentum“, das nur an Jesu Blut interessiert sei, nicht jedoch an der Nachfolge Christi und der Umgestaltung des Selbst durch Gottes Geist mitten in einer instabilen Welt.

Im apostolischen Glaubensbekenntnis, das ja durchaus einige theologische Leerstellen enthält, erscheinen die Begriffe Sünde und Vergebung ganz am Schluss. Ursprünglich war das ja ein Leitfaden für die Bibellektüre. In dieser Hinsicht vielleicht kein ganz schlechter. Wenn wir das Thema Sünde und Vergebung einen Augenblick zurückstellen und es nicht zwanghaft überall hineinlesen, wo es weder der Begrifflichkeit noch der Sache nach erscheint, dann entdecken wir möglicherweise viele spannende Aspekte von Gottes Handeln, die uns bisher gar nicht so richtig aufgefallen sind.

Den Versuch wäre es allemal wert!

PS: Bevor jetzt die Kommentare all derer losgehen, die falsche Umkehrschlüsse lieben – ich habe nicht gesagt und auch nicht impliziert, dass (1.) Sünde kein Thema im NT ist, (2.) Vergebung überflüssig, (3.) das Kreuz sinnlos. Ich stelle nur in Frage, ob (1.) Sünde und Vergebung die bestimmenden oder gar (2.) einzig legitimen Kategorien sind, in denen Gottes Handeln in Christus beschrieben werden sollte.

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Geglückte Verbindung

Am gestrigen Sonntag haben wir Konfirmation und Taufe gefeiert. Beides in einem Gottesdienst unterzubringen war eine interessante Herausforderung, aber wir haben uns in den Gesprächen mit den noch nicht getauften Jugendlichen und ihren Familien dagegen entschieden, um der einheitlichen Erscheinung willen schnell noch eine Taufe kurz vor der Konfirmation anzubieten.

Alles andere, da waren wir uns einig, wäre ein problematisches Signal, denn es würde die Taufe de facto auf eine Zugangsvoraussetzung zur Konfirmation reduzieren. Aber die Taufe ist das Eigentliche, die Konfirmation deren Aktualisierung. Und es wäre doch ziemlich merkwürdig, bewusst getaufte Jugendliche ein paar Tage später zu fragen, ob das denn wirklich ihr Ernst war. Nicht nur ich fand gestern, es hat dem Konfirmationsversprechen der KonfirmandInnen einen wunderbaren Bezugspunkt gegeben, dass ihm zwei Taufen (mit richtig viel Wasser…) vorausgingen.

Wir sind damit sicher nicht die einzigen, aber anscheinend eine Minderheit: Die Website der EKD stellt den theologischen Zusammenhang zwar zutreffend dar, erwähnt dann jedoch die verbreitete Inkonsequenz in der Praxis (nebenbei: etwas unpassend fand ich, dass in dem Textabschnitt durchgängig von „Kind“ die Rede ist). Das Thema hat also noch Entwicklungspotenzial:

Die Konfirmation ist die Bestätigung der Taufe. Wenn das Kind nicht getauft ist, so wird das Kind in der Regel am Ende des Konfirmandenunterrichts getauft; eine Bestätigung der Taufe, also die Konfirmation, ist dann nicht mehr notwendig, da das Kind ja schon selber Ja zu der Taufe gesagt hat. In der Praxis wird das Kind dennoch oft vor der Konfirmation getauft.

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Stalin, Hitler und die Hölle

Anscheinend ist das Thema „Hölle“ immer noch ein mächtiger Aufreger für viele Christen. Um sicherzustellen, dass die Ewigkeit nicht von Krethi und Plethi bevölkert wird, weil die strengen Zugangsvoraussetzungen von allzu liberalen Gutmenschen aufgeweicht werden, wird immer wieder mal angemerkt, dass am Ende auch noch Hitler und Stalin im „Himmel“ auftauchen könnten, weshalb man in dem Fall selber gar nicht mehr da hin will. Ich nenne das mal den Monster-Trick.

So weit, so gut. Ich wüsste noch ein paar Namen von Leuten, denen ich lieber nicht begegnen würde. Je länger nicht drüber nachdenke, desto mehr fallen mir ein für die Monster-Liste. Nur: Wo ist die Grenze? Und ist mein netter, aber vermeintlich gott-loser Nachbar nun näher an mir oder näher an den Monstern? Es geht ja gar nicht um diese Grenzfälle, sondern um die Milliarden unspektakulärer Individuen, die schon erwähnte „massa damnata“,

Auf der anderen Seite haben viele die Blüten, die der theologische Exklusivismus hier und da so treibt, dermaßen satt, dass sie der Kirche insgesamt den Rücken kehren, die für sie zum Hort der Bigotterie und Intoleranz geworden ist. Von einer solchen Geschichte erzählte neulich Peter Rollins. Einer seiner Freunde erklärt seinen Abschied vom organisierten Christentum mit einer Parabel: Er kommt an der Himmelstür an, Petrus überprüft seine Identität und will ihn hereinlassen, da fällt sein Blick auf seine Freunde. Ob die auch hinein dürfen? Petrus schüttelt den Kopf. Dann, so der Freund, ziehe er es vor, auch draußen zu bleiben. Petrus strahlt ihn an und beglückwünscht ihn zu dem Entschluss.

Es ist freilich eine konstruierte Geschichte, die auf diese sympathische Pointe hinausläuft. Immerhin: Jesus hat selbst den „Himmel“ verlassen um all der Menschen, ja der ganzen Welt willen, die Gott liebt. Wie sollten wir ihm da nicht nacheifern?

Die Szene an der Himmelstür, wo man sich in Ruhe informieren kann, wer nun drin ist und wer nicht, und sich dann selber entscheiden, ob Gottes Auswahl einem nun zusagt oder nicht, wird es freilich nicht geben. Die Entscheidung, wie ich zu Gott und anderen Menschen stehe, treffe ich heute. Sich von einer Organisation zu distanzieren (oder ihr entschieden zu widersprechen!), die den Großteil der Menschheit mehr oder weniger verklausuliert in die Kategorie „Monster“ einstuft, kann dabei ein sinnvoller Schritt sein.

Letzten Endes aber bedeutet es, auf das Urteil in dieser Frage überhaupt zu verzichten, keine end-gültige Ausgrenzung vorwegzunehmen und zu akzeptieren, dass ich nicht Gott spielen kann – für niemanden. Wer sich damit schwer tut, kann ja mal drüber meditieren, wie es wäre, tatsächlich im „Himmel“ einem Hitler oder Stalin zu begegnen. Einem, der dort all die positiven Möglichkeiten verwirklicht, die er in seinem „irdischen“ Leben ausgelassen hat. Einen, der in all das Gute hineinwächst, das Gott ihn ihm angelegt hatte.

Man muss ja nicht gleich eine Theologie draus machen. Als Herzensübung ist das jedoch gar nicht so schlecht. Denn wenn Gott so etwas mit Hitler gelingen könnte, was wäre dann mit meinen ganz persönlichen Intimfeinden – oder gar mir selbst?

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Die Hölle der anderen?

DSC08717Am vergangenen Wochenende hat Paul Zulehner die Universalität der biblischen Heilszusagen angeschnitten. Es geht Gott um nichts weniger als die Erlösung der Menschheit, und nicht einer kleinen Schar von Erwählten (während der Rest als massa damnata in der Hölle brutzelt). Seit Augustinus († 430) ist ersteres die Mehrheitsposition der westlichen Christenheit gewesen, mittlerweile ist aber einiges in Bewegung geraten.

Es lohnt sich, bei dem Thema zu verweilen: Der theologische Exklusivismus funktioniert nach der Formel „Wir kommen in den Himmel, die anderen nicht“. So schroff wird das selten formuliert, aber die Position wird ja doch in der Regel von denen vertreten, die relativ sicher wirken, dass sie der richtigen Religion (und natürlich Konfession) angehören und damit qualifiziert sind für die Zukunft in der lichtdurchfluteten Hälfte des durch einen breiten Graben geteilten Jenseits.

Dass diese Heilsgewissheit entgegen aller Beteuerungen immer auch mit irgendeiner Form von Leistung zu tun hat, zeigt sich daran, dass auf jede kritische Anfrage an den Exklusivismus die stereotype Antwort kommt, andernfalls sei ja erstens alle Mission für die Katz und zweitens gehe die Moral den Bach runter, weil sich niemand mehr anstrengen würde. Das tatsächliche Vorhandensein der jenseitigen „Hölle“ wird so zum objektiven wie subjektiven Grund christlicher Mission. Objektiv, weil der doppelte Ausgang des göttlichen Gerichts schon jetzt fest steht, und subjektiv, weil nur der, der die Dringlichkeit der katastrophalen Lage der Anderen verinnerlicht hat, alle Kräfte dafür aufbieten wird, die Sünder umzustimmen. Alles andere liefe in dieser theologischen Konstruktion auf unterlassene Hilfeleistung hinaus, die selbst wieder zum Ausschluss führen müsste. Den ersten Christen scheint das eher fremd gewesen zu sein.

Reichlich unklar bleibt freilich, wie jemand, der das ernsthaft glaubt (nur um nicht missverstanden zu werden: die allermeisten Exklusivsten sind sehr nette und zum größeren Teil auch kluge Menschen!), überhaupt noch ruhig schlafen kann, denn alle Mühen sind augenscheinlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein und jede Nacht könnte theoretisch jemand sterben, dem ich das Evangelium schuldig geblieben bin. Verständlich also, wenn man versucht sein sollte, um des vermeintlich guten Zwecks willen auch mal zu fragwürdigen oder recht drastischen Mitteln zu greifen. Zumindest ergibt sich das Problem, anderen permanent ihre echten oder vermuteten moralischen Defizite vorhalten zu müssen, derentwegen ihnen die gerechte Verbannung in die äußerste Finsternis droht (ein passabler Ausweg aus dem Dilemma wäre die Lehre von der doppelten Prädestination, denn die erlaubt es, fröhlich an der eigenen exklusiven Erwählung festzuhalten ohne sich über den gottgewollten Verlust der vielen anderen zu grämen und das alles noch als Akt vollkommener Gnade zu feiern). Vielleicht sollte man das theologisch zutreffender als „Teilversöhnung“ bezeichnen. Donald Miller kommentierte treffend: “If the religious fundamentalists are right, heaven will be hell. And almost nobody will be there.”

Exklusivsten nämlich bezeichnen den Widerspruch gegenüber ihrer Position mit dem Kampfbegriff „Allversöhnung“. Nicht nur jene, die richtig glauben, werden nach dieser Vorstellung erlöst, sondern alle Menschen. Jesus ist nicht nur für wenige Erwählte gestorben, sondern für die von Gott geliebte Welt und Menschheit. Während Exklusivisten vielfach Himmel und Hölle zum Glaubens- und Bekenntnisgegenstand erheben und ausgiebig zum Thema christlicher Doktrin machen, die ihrerseits vornehmlich Gewissheiten begründen soll, liegt bei vielen der „Allversöhnung“ beschuldigten Theologen die Sache ein bisschen anders. Hans Urs von Balthasar hat in seinem „Kleinen Diskurs über die Hölle“ unter anderem zwei Dinge herausgestellt: Christen sind zum Festhalten an der Hoffnung gerufen, dass Gottes Heil am Ende alle Menschen erreicht, und zugleich müssen sie die Warnungen der Bibel, dass dieses Heil kein bloßer Automatismus der Weltgeschichte ist, und man Gottes Ziel für das eigene Leben verfehlen kann, für sich persönlich ganz ernst nehmen. Diese Mahnungen wirken einer gnadenlosen Selbstgefälligkeit entgegen, während jene Hoffnung für die anderen den Horizont der Gnade ganz weit offen hält.

Denn eine „Allversöhnung“, die lediglich darin bestünde, dass Gott aus einer müden Laissez-faire-Nettigkeit heraus alles ignoriert, was Menschen einander und ihren Mitgeschöpfen antun, die das Problem des Leidens und menschlicher Bosheit nicht ernst nähme (und damit auch die Opfer derselben), wäre auch keine gute Nachricht für die Welt. In der Fortschrittseuphorie des 18. und 19. Jahrhunderts war es vielleicht noch denkbar, dass diese düsteren Seiten der Menschheit sich irgendwann erübrigen. Heute ist niemand mehr so naiv. Ebensowenig kann es ja um einen „Zwangshimmel für alle“ gehen, wie Steve Turner einmal spöttisch dichtete.

Einig waren sich jedoch, das hat jüngst Brian McLaren wieder betont, beide Richtungen bisher oft in der Annahme, dass es im Evangelium primär um die Frage der „Seelenrettung“ geht, wo und wie der einzelne Mensch die Ewigkeit verbringt, und dass das Leben hier und jetzt vor allem im Blick auf jene Zukunft zu sehen und zu bewerten ist. Nun könnte man sagen, im Zweifelsfall gehen wir vom ungünstigeren Fall aus und freuen uns, wenn Gott großzügiger ist, als wir denken. Mit dem gleichen Recht kann man aber auch umgekehrt argumentieren, das strenge Gottesbild der exklusivistischen Verkündigung sei so negativ, dass es viele Menschen abstößt und damit das Gegenteil dessen erreicht, wozu es theoretisch da ist.

Wenn es aber zutrifft, dass Jesus die kommende Herrschaft Gottes im Sinne der jüdischen Prophetie als Befreiung Israels und der Welt aus der inneren und äußeren Versklavung unter zerstörerische Mächte verstanden hat, wenn die Auferstehung das Urdatum der Neuschöpfung ist, wenn es weniger darum geht, Menschen „in den Himmel“ als den Himmel zu den Menschen zu bringen, wenn Jesu Gerichtsworte viel mehr von innergeschichtlichen als überzeitlichen Folgen destruktiven Verhaltens handeln, dann wird das Diesseitige nicht länger zugunsten des Jenseitigen abgewertet, das Soziale nicht mehr zugunsten des Individuellen, das Äußere, Politische nicht mehr zugunsten des Innerlichen und Religiösen. Der Bogen von der Schöpfung nur Neuschöpfung reicht an beiden Enden weiter als der von der Erbsünde zum Weltgericht. Dann verlangt das nach einer integralen Spiritualität aus Aktion und Kontemplation (oder, wie Paul Zulehner es nannte, Mystik und Politik), dann sind andere Weltanschauungen nicht in erster Linie Konkurrenz, die Menschen vom wahren Heilsweg ablenkt, sondern durchaus auch mögliche Partner in der Erwartung des Neuen. Dann muss ich an anderen Menschen nicht die Schatten und Schwächen finden und ans Licht zerren, sondern ich kann all das würdigen, was Gott schon Gutes geschaffen hat – und auf dieser Grundlage dann Probleme und Konflikte lösen.

Mission hieße dann, Menschen für diese Bewegung der Versöhnung und Umgestaltung zu mobilisieren, die ihnen vielleicht auf absehbare Zeit größere Unannehmlichkeiten bringt als vordergründigen Gewinn, weil die Saat des Guten langsam und ungleichmäßig verteilt heranreift und alles auf eine Zukunft hin angelegt ist, für die wir keine andere Garantie haben als die biblische Verheißung. Es hieße, diesen Himmel der Gegenwart Gottes im Gewöhnlichen und Unvollkommenen (das „Heil-Land“) auch jenen offen zu halten, die ihn missverstehen, verachten oder gar vernichten wollen. Es hieße aber auch, die vielen Höllen auf Erden zu bekämpfen und in Gottes Namen ihren Protagonisten und Nutznießern hartnäckig zu widerstehen. Die Kraft dazu werden Menschen nur schwerlich finden, wenn sie nicht bei Gott „eintauchen“ und aus der Hoffnung und Kraft der Auferstehung schöpfen. Jürgen Moltmann hat die Alternative schön auf den Punkt gebracht:

Die Messiashoffnung kann in beiden Richtungen wirken: Sie kann das Herz der Menschen aus der Gegenwart abziehen und in die Zukunft setzen. Dann entleert die Messiashoffnung das gegenwärtige Leben, das Handeln, aber natürlich auch das Leiden an den gegenwärtigen Unterdrückungen. Sie kann aber auch die Zukunft des Messias vergegenwärtigen und die Gegenwart mit dem Trost und dem Glück des nahenden Gottes erfüllen. Dann erzwingt die messianische Idee gerade kein »Leben im Aufschub«, sondern ein Leben in der Vorwegnahme, in welchem alles schon in endgültiger Weise getan werden muss, weil das Reich Gottes auf die Weise des Messias schon »naheherbeigekommen« ist. (Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen. S. 43)

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Beflügelnder Austausch

Zulehner.jpg Etliche waren da, viele haben etwas versäumt und manche haben inzwischen schon nach den Mitschnitten gefragt: Am Wochenende hatten wir Paul M. Zulehner eingeladen, über Kirchenvisionen zu sprechen, und es gab viele begeisterte Rückmeldungen auf seine Vorträge hin.

Kein Wunder: Ich kenne wenige Theologen, die so wie er in der Lage sind, Menschen aus ganz unterschiedlichen Altersgruppen und Konfessionen anzusprechen, mit verschmitztem Humor („niemand ist davor gefeit, den eigenen Vogel mit dem Heiligen Geist zu verwechseln“), sprachlich-theologischer Präzision und geistlicher Poesie. Eine Art Rob Bell der katholischen Kirche, der übrigens große Hoffnungen auf den reformwilligen neuen Bischof von Rom setzt.

Zum Glück haben unsere rührigen ELIA-Techniker den Aufnahmeknopf gedrückt. Wer möchte, kann also alles noch einmal nachhören. Wir als Gemeinde und die Gäste von außen haben jedenfalls wieder Stoff zum Nachdenken und Umsetzen für die kommenden Jahre: Ökumenische Weite, Offenheit für die Veränderungen in unserer Gesellschaft und die konsequente Ausrichtung an Jesus und dem Evangelium vom Reich Gottes, um nur ein paar Punkte zu nennen.

Hier sind die Mitschnitte der drei Referate: Freitag, Samstag vormittag, Samstag nachmittag. Wer lieber liest als hört, wird hier fündig, und hat den Vorteil, dass die besprochenen Bilder und Grafiken dort mit abgedruckt sind.

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Stiefmütter, Schwiegermütter und skandalöse Situationen

Heinz Schilling schreibt in seiner Luther-Biographie von einem Zwischenfall zwischen Luther und Georg Spalatin, der nach seiner Zeit am kursächsischen Hof als Superintendent von Altenburg einem verwitweten Pfarrer erlaubte, die Mutter seiner verstorbenen Ehefrau zu heiraten. Luther machte dem früheren Freund daraufhin derart massive Vorwürfe, dass der in eine Angstdepression verfiel und Monate später starb.

Dass Luther so lospolterte, hat eine biblische Analogie: In 1.Korinther 5 tadelt Paulus die Gemeinde in Korinth dafür, weil sie duldete, dass ein Mann aus der Gemeinde mit seiner Stiefmutter liiert war. Es lässt sich aus dem Text selber nicht mehr rekonstruieren, ob der Vater gestorben, die Ehe zwischen Vater und Stiefmutter geschieden und die beiden eventuell sogar irgendwie rechtskräftig ein Paar waren. Ein Kommentator spekuliert zu der Stelle, es müsse ein Fall von ganz besonders schwerem Ehebruch vorgelegen haben, weil Paulus so heftig reagierte.

Aber vielleicht war das, wie Luthers Beispiel zeigt, ja gar nicht der Fall. Vielleicht hatte da tatsächlich nur einer die verwitwete Stiefmutter geheiratet oder heiraten wollen? Nach Deuteronomium 23,1 ist das an sich ein schweres moralisches Vergehen, und nach Paulus‘ Darstellung war es das angeblich auch in den Augen der nichtjüdischen Welt.

Wenn sich das also so verhielt, dann ist das Spannende an diesen beiden Episoden ja dies, dass wir heute (und das zeigt ja schon das Postulat des Kommentators, da müsse doch noch mehr dahinter stecken!) die Aufregung in beiden Fällen nicht mehr verstehen und dass der gesellschaftliche Skandal, den Paulus an die Wand malt, bei uns gar nicht mehr zu befürchten wäre. Gewiss würde der eine oder andere den Kopf schütteln oder die Nase rümpfen, aber das war’s dann auch schon.

Wir bewerten manche Dinge heute anders. Anders als Luther, der von „Blutschande“ (also Inzest) sprach, auch anders als Paulus. Es ist richtig und notwendig, dass wir das tun und uns ein eigenes Urteil bilden und dabei auch der veränderten Rechtslage Rechnung tragen. Ich weiß nicht, wie Dtn 23,1 im heutigen Judentum interpretiert wird – vermutlich gibt es dazu auch mehr als eine Meinung. Als Christen können wir solche Aussagen eben auch nicht einfach nur biblizistisch unmittelbar auf heutige Situationen übertragen, selbst wenn das bei Paulus noch möglich (oder gar kulturell angebracht) gewesen sein sollte.

Spalatin hat mutig entschieden und dafür einen hohen Preis bezahlt. Die Wittenberger wollten ihm jene evangelische Freiheit nicht zugestehen, die sie selbst (durchaus höchst umstritten) in Anspruch nahmen

So weit die Geschichte. Eventuelle Parallelen zur Gegenwart darf sich jeder selbst überlegen.

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Barmherziger ist gerechter

Eine Welle der Anteilnahme hat gestern die Nachricht ausgelöst, dass Rick Warrens jüngster Sohn sich das Leben genommen hat. Die Familie Warren, die für ihren Sohn lange gekämpft und mit ihm gelitten hat, hat das ebenso verdient wie viele andere, weniger bekannte Menschen, die mit dem Suizid eines Angehörigen zurecht kommen mussten und müssen. Die meisten von uns kennen betroffene Familien und wir alle ahnen, was für ein schwerer Schatten damit auf ihr Leben gefallen ist.

Freilich ist diese positive Anteilnahme in der Geschichte christlicher Moralvorstellungen ein relativ junges Phänomen. In früheren Zeiten wurden Selbstmörder nicht kirchlich bestattet oder zumindest nicht in „geweihter Erde“. Familien fürchteten die Schande und das böse Gerede der anderen und deshalb wurden viele Selbstmorde geleugnet oder vertuscht. Trauern musste man dann ganz heimlich. Heute schütteln wir – völlig zu Recht – darüber nur noch den Kopf.

Theoretisch kann man mühelos „biblisch“ begründen, warum es eine Sünde ist, sich das Leben zu nehmen. Aber wird man damit der konkreten Situation und vor allem Motivation dessen gerecht, dem seine Lage womöglich so ausweglos erscheint, dass er keine andere Lösung findet? Und hilft man mit der kategorischen Verurteilung und der sozialen Ächtung einer solchen Tat (und damit auch der Person, die sie begeht und sich nicht mehr von ihr distanzieren kann) denen, die mit den Folgen leben müssen und sich ohnehin oft genug schon mitschuldig am Tod des geliebten Menschen fühlen?

Wie gesagt, das alles muss man zum Glück kaum noch jemandem erklären. Die Frage wäre, ob man diesen Fortschritt nun noch auf ein paar andere Situationen übertragen könnte, wo das mit der Annahme und Barmherzigkeit und dem Aussetzen des Urteils noch nicht so gut funktioniert.

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Risiken und Nebenwirkungen der Reformation

Neulich habe ich Iain McGilchrists kritische Perspektive auf Wesen und kulturelle Wirkung der Reformation hier skizziert. Wer das interessant fand, hat vielleicht auch Spaß an dieser Vorlesung des US-Historikers Brad S. Gregory, der die Reformation indirekt und unbeabsichtigterweise für etliche Charakteristika unserer westlichen Zivilisation verantwortlich macht, allen voran den „Hyperpluralismus“ – die unvermittelte Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Wahrheitsbehauptungen. Was unsere Gesellschaften heute de facto einzig noch verbindet, sind die Ausrichtung auf Konsum und materiellen Wohlstand. Religion ist dagegen ausgerechnet durch die gesellschaftliche Wirkung der Reformation zur Privatangelegenheit geworden, die abgelöst vom übrigen Leben persönlichen Präferenzen überlassen bleibt.

Wenn er Recht hat, dann wäre die konservative Vorstellung, der Rekurs auf die Theologie der Reformatoren, allem voran auf das Schriftprinzip, sei der Weg zur verloren gegangenen Einheit des Glaubens, eine tragische Illusion. Ob er Recht hat, darüber lässt sich streiten. Aber vorher muss man ihm erst einmal zuhören, und das ist bei der gehobenen Sprache und dem vorgelegten Tempo keine Kleinigkeit.

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Torn (12): Die Spannung offen aushalten

Im Schlusskapitel von Torn bringt Justin Lee nach den schon beschriebenen Ratschlägen noch einen weiteren wichtigen Gedanken ins Spiel. Christen, die zu ihrer Homosexualität stehen, sagt er, sollten ihren Platz in der Kirche finden. Er selbst habe sich immer gefragt, ob Gott etwas mit ihm anfangen könne, obwohl er doch homosexuell sei. Nun sieht er, dass er nicht trotz, sondern wegen seiner Orientierung etwas Besonderes zu geben hat.

Christen wie er können dazu beitragen, die schon ausführlich thematisierte Kluft zwischen den beiden „Lagern“ zu überwinden. Viele haben tiefe Krisen und Zweifel durchlebt, und haben dabei zu inneren Klärungen und einem tieferen Gottvertrauen gefunden. Und weil viele von ihnen auch unter den Zuständen in den Kirchen gelitten haben, können sie einen authentischen Beitrag zur Versöhnung leisten.

Dazu müssen sie sich aber auf allen Ebenen des Gemeindelebens einbringen dürfen, was zu erheblichen Spannungen führen kann, wenn etwa ein homosexuelles Paar auf eine Gemeinde trifft, die davon überzeugt ist, dass die beiden zölibatär leben sollten. Oft wird in diesem Zusammenhang dann auf 1.Korinther 5 Bezug genommen, wo Paulus darauf beharrt, dass Christen sich in einem Umfeld, dass sie misstrauisch beäugte, moralisch tadellos verhalten sollten. Heute ist in westlichen Ländern die Situation freilich umgekehrt: Kaum jemand lauert auf eine Chance, Christen als moralisch verwerflich zu diskreditieren, vielmehr werden konservative Christen als strenge Moralapostel gemieden. Der gesellschaftliche Konsens, dass Homosexualität prinzipiell „falsch“ sei, bricht momentan überall zusammen, allmählich auch unter Evangelikalen.

Statt in 1.Korinther 5 liefert uns Paulus den Schlüssel zum richtigen Umgang mit unterschiedlichen moralischen Urteilen in Römer 14, wo Paulus dazu aufruft, dass die verschiedenen Seiten einander erlauben, ihrem Gewissen zu folgen. Selbst unter homosexuellen Christen gibt es unterschiedliche Positionen, die im Gay Christian Network miteinander ins Gespräch gebracht werden. Es gibt durchaus gleichgeschlechtliche Paare, die sich aus bewusst einer Gemeinde angeschlossen haben, die ihre Beziehung offiziell nicht unterstützt, weil sie sich dorthin von Gott gerufen sehen.

Damit das gelingt, muss man sich im Dialog üben: Eltern müssen lernen, ihren homosexuellen Kindern zuzuhören, statt voreilige Schlüsse zu ziehen. Schwule und lesbische ChristInnen sollten mit ihren Verwandten und Freunden Geduld haben, unüberlegte Äußerungen nicht auf die Goldwaage legen, und ehrlich von den eigenen inneren Kämpfen reden. In Gemeinden und zwischen Gemeinden gilt es, offen und ohne Druck ins Gespräch zu kommen über die unterschiedlichen Standpunkte.

Das ist Christen ja generell aufgetragen: den Anderen ernsthaft verstehen zu wollen, auch wenn man selbst noch nicht verstanden wird – etwa, indem wir Vorurteile aussetzen und die Sprache des anderen lernen. Das bedeutet sich den Verzicht auf die eigene Meinung, aber die Bereitschaft, sie als etwas Vorläufiges zu betrachten. Schließlich haben wir täglich mit Menschen zu tun, die in vielen Fragen ganz anderer Auffassung sind als wir selbst. Wenn wir einander im Licht der Gnade sehen, dann treten diese Unterschiede zurück und die Gemeinsamkeiten rücken in den Vordergrund.

Ich hoffe, der Kurzdurchgang hat gezeigt, dass sich die Lektüre von Torn lohnt. Momentan ist leider kaum zu erwarten, dass sich ein evangelikaler Verlag an eine Übersetzung wagt. Das allein zeigt natürlich auch, wie tief die Gräben derzeit noch sind. Aber es muss ja nicht ewig dabei bleiben.

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Alles drin!

Mir ist das auch nicht immer in allen Einzelheiten bewusst, aber es lohnt sich, hin und wieder einmal kurz durchzubuchstabieren, wie sich ganze Geschehen von Passion und Ostern im Abendmahl verdichtet:

Da ist der Gründonnerstag mit den Vorbereitungen für das Mahl, und auch jede Abendmahlsfeier hatte ihre Vorbereitung bis hin zur Herstellung von Brot und Wein. Schon die scheinbar profanen Handgriffe, die kaum jemand mitbekommen hat, sind Teil dieses geistlichen Ereignisses.

Dann ist da das Abschiedsmahl selbst, in dem Jesus sein bevorstehendes Leiden mit der Erinnerung an den ersten und der damals sehr lebendigen Hoffnung auf einen neuen Exodus verbindet. Zuvor hatte er schon am Tempel und in Jerusalem deutlich gemacht, dass der eigentliche Feind nicht die Römer waren und sich Licht und Finsternis nicht einfach auf den Kontrast von Juden und Nichtjuden hin deuten ließ. Die Heilsgeschichte ließ sich nur dann aus der Blockade befreien, wenn Israel sich den eigenen Schatten stellt und statt gewaltsamer Vergeltung gewaltlose Versöhnung mit Gott und dem Feind sucht. Jesus identifiziert, fernab des Tempels, wo die Opfer stattfanden, die beiden alltäglichsten Elemente dieses Mahls, Brot und Wein, mit seinem Leib und Blut. Blut steht für Leben und Lebenskraft, der Leib für die ganze Vielfalt der konkreten Beziehungen und der einzigartigen Geschichte, die Jesus ausmachten.

Der Weg ins „gelobte Land“ oder das Kommen des Reiches Gottes führt durch Finsternis, Leid, Einsamkeit, Schmerz und Tod – für Jesus selbst, aber auch für viele seiner Nachfolger. So wie der Weg, den Mose seine Landsleute geführt hatte, am Ufer des Schilfmeers anscheinend auch in den sicheren Untergang führte. Daher verlassen Jesus und seine Jünger das Haus wieder und ziehen in den Garten Gethsemane, wo die Jünger vergeblich mit dem Schlaf ringen während Jesus sich einsam der Todesangst stellt.

Es folgen die Ereignisse der Karfreitags – eine lange Kette psychischer und physischer Gewalt, in der der Leib gebrochen und das Blut vergossen wird und sich der Himmel in der Todesstunde verdunkelt. Aber das ist auch der Augenblick, wo der Vorhang zum Allerheiligsten reißt und die Toten sich rühren. Einen Moment lang wackelt die gewohnte Ordnung der Wirklichkeit mit ihren säuberlichen Trennungen.

Und etwas mehr als eine vollen Erdumdrehung später zeigt sich, dass das Beben einen epochalen Umbruch angedeutet hatte. Der macht sich zunächst negativ bemerkbar – am leeren Grab. Er wird begleitet von weiteren Erscheinungen, statt der Toten sind es aber nun Engel. Die tauchen bevorzugt an den großen Wendepunkten von Gottes Geschichte auf. Und schließlich tritt mit dem auferstandenen Jesus der „Prototyp“ einer neuen Wirklichkeit mitten in den Raum (beziehungsweise ans Ufer des Sees) und lädt seine völlig überraschten Jünger zum Essen ein. Da schließt sich der Kreis.

So wie sich Israel beim Passah nicht einfach nur erinnerte, sondern in der Feier den Auszug aus der Sklaverei im Blick auf die verheißene Zukunft vergegenwärtigte, so vergegenwärtigt das Abendmahl diesen Weg Jesu und seine bleibende Gegenwart, die keine rein „geistige“ und damit „reine“ und eben auch abstrakte, sondern (darauf beharrte Luther stur bis zum Abwinken) eine leibliche Gegenwart ist, eine Gegenwart mitten in den Wehen und Wirren unseres Lebens, dessen Gastgeber er ist. Deshalb kehren wir, so oft wie es geht, an seinen Tisch zurück, an dem seine Geschichte auch unsere Geschichte wird, sein Tod unser Tod ist und sein Leben in unserem Leben eine neue Richtung, Entschlossenheit und Hoffnung zur Geburt bringt.

Das Abendmahl ist das Konzentrat der biblischen Heilsgeschichte von Mose bis zum Tag X. Mit einfachsten Mitteln und ganz wenigen Worten, die niemanden überfordern – und doch von einer Tiefe, die wir auch nach Jahrzehnten des Feierns noch nicht völlig ergründet haben.

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Es gibt eine Alternative

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Ein bewegtes Osterwochenende neigt sich dem Ende zu. Am Gründonnerstag und Karfreitag hatten wir über 1.800 Gäste im Henninger-Keller. Im Bericht der Erlanger Nachrichten gestern hieß es am Ende, viele hätten auch nach dem Verlassen des Kreuzwegs noch geflüstert (leider waren aber nicht alle so leise…). Immerhin – es war auch sehr bewegend zu sehen, wie viele Eltern ihren Kindern die Leidensgeschichte erklärt haben. Vielleicht setzen sich diese Gespräche aus dem Keller in den Familien ja noch weiter fort.

Die vierte Kreuzwegstation beschreibt die Begegnung zwischen Jesus und seiner Mutter Maria. Hier sieht man unsere bildhafte Umsetzung aus diesem Jahr: eine Fotomontage, die auf die Kellerwand projiziert wurde. Für mich war sie besonders persönlich, weil mein Sohn das Schild hält auf dem Foto (das Jesusgesicht in der Endmontage ist freilich ein anderes). Es hat mich schon die ganze Karwoche über begleitet.

Den Kindern anderer Menschen Gewalt anzutun ist eine der übelsten Formen des Terrors – etwas, das im Repertoire der organisierten Kriminalität ebenso wie bei zahlreichen Diktatoren auftaucht. Dagegen kann man sich noch weniger wehren als gegen Schmerz, den man am eigenen Leib spürt. Es ist eine doppelte Geiselnahme: Auch der, der körperlich unversehrt bleibt, wird zum Opfer von Folter und Erpressung.

Maria folgt trotz dieser Qualen ihrem Sohn durch diese letzten Stunden; sie ist deshalb auch eine der Frauen, denen der Auferstandene an Ostern zuerst begegnet. Und damit ist sie für alle Christen ein Vorbild: Wer in der Nähe des Leidenden bliebt, der wird auch Zeuge der Macht Gottes über den Tod. Wer sich abwendet, wer sich raushält, wer sich zurückzieht, der verpasst das Wichtigste.

Dass dieses schmerzhafte Dranbleiben auch eine politische Dimension hat, hat Jakob Augstein heute in seiner Kolumne auf SPON herausgestellt:

Man muss kein Christ sein um die Bedeutung der Auferstehung schätzen zu lernen. Die Auferstehung ist der Sieg des utopischen Denkens. Und zwar im Diesseits. Nicht in irgendeinem Wolkenkuckucksheim. Das ist der Triumph der Utopie über die Hoffnungslosigkeit des Todes. Der Tod kommt daher wie ein Finanzkapitalist und sagt „There is No Alternative“ – und dann straft die Auferstehung Christi diese Worte Lügen. Das ist unerhört. Es gibt eine Alternative.

Wir sind gewiss nicht immun gegen Schmerz; aber die Hoffnung darauf, dass das Leid nicht das letzte Wort hat, kann uns weniger erpressbar machen. Frohe Ostern!

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