Mörderisches Potenzial

Sensibilisiert von unserer momentanen Predigtreihe über die Zehn Gebote stieß ich letzte Woche auf diesen Beitrag in der Zeit, wo Hans-Ludwig Gröber vom Institut für forensische Psychiatrie sich mit der menschlichen Mordlust in jedem von uns befasst. Mörder sind eben nicht per definitionen geisteskrank und im Umkehrschluss ließe sich dann zur allgemeinen Beruhigung auch sagen, dass „wir Gesunden“ ja über jeden Mordverdacht erhaben wären.

Stattdessen können gesunde Persönlichkeiten sich an der Macht, zu töten berauschen, und wenn sich die Zeiten und Bedrohungslagen ändern, wenn wir „gute“ Vorwände finden, den anderen zum Un(ter)menschen zu erklären und präventiv kalt zu stellen, bevor er uns etwas antun kann, dann wären, wie das Beispiel des Dritten Reichs oder auch des Balkankrieges zeigt, auch brave, empathische Bürger zu Mördern. Gröber schreibt:

Den Artgenossen töten ist ein – im biologischen, nicht im moralischen Sinne – zutiefst menschlicher Akt. Nachvollziehbar, wenn das Motiv rational ist: Beute machen zum Beispiel, materiell oder sexuell. Um Macht zu etablieren oder aufrechtzuerhalten. Auch emotionale Motive sind verständlich: Angst, Notwehr, Wut, Eifersucht, Niedertracht. Und nicht zu vergessen: Rache! (Rache, hat der Philosoph Friedrich Nietzsche gesagt, ist das reinste Motiv. Manche nennen es auch: Bestrafung.) Auch ein Grund zum Töten: die Lust an der Zerstörung. (Es gibt Menschen, sagt der böse Joker am Ende von Batman 2, die für kein Geld der Welt morden würden – sondern bloß, um zu zerstören.) Das könnte man vielleicht als »Rache an dieser Welt« bezeichnen. Und dann gibt es auch noch sehr eigenartige, aber gar nicht seltene Tötungsdelikte, vor allem von ganz jungen Männern, die der Täter begeht, um sich selbst zu erfahren. Um zu merken, wie stark er sein kann, was er aushält, wie viel Macht ihm durch diese unglaubliche Tat zuwachsen kann. Viele junge Männer haben das früher in Uniform herausgefunden. Und wurden dafür mit Orden behängt.

Es folgen eine ganze Reihe lebendig geschilderter Beispiele, und dann fragt Gröber, wie der Gewaltneigung vor allem junger Männer beizukommen ist, wenn man sie nicht als Fall für den Therapeuten hinstellen will. Am Ende unterstreicht er im Grunde die ungebrochene Aktualität des fünften Gebots, wenn er die Aufgaben benennt, die auf uns warten:

Der Mörder ist in uns allen. Doch er wird erfolgreich domestiziert durch eine energische Pädagogik, machtvolle Vorbilder, einen entschiedenen Staat und eine Kultur, die Gewalt ablehnt und gesundes Durchsetzungsvermögen fördert.

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Schluss mit lästig

Vor einer Weile hatte ich, in der Hoffnung, dass es die Möglichkeiten erweitert, das Kommentarsystem Disqus installiert. Seither gab es zahlreiche Rückmeldungen, dass das Kommentieren hier entweder umständlicher geworden ist oder gar nicht mehr funktioniert – unterm Strich war das also ein eher lästiger „Helfer“.

Es tut mir leid, dass das bei einigen Frust verursacht hat. Und danke an alle, die mich darauf aufmerksam gemacht haben!

Vorgestern habe ich ich Disqus wieder abgestellt und hoffe, der Meinungsaustausch hier kann wieder ungestört laufen.

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Globale Emergenz: Neue Stimmen, Formen und Kulturen

In diesen Tagen ist bei Baker Academics die Festschrift für Prof. em. Eddie Gibbs vom Fuller Seminary erschienen. Herausgeber ist Ryan Bolger, der vor ein paar Jahren mit Gibbs das Buch Emerging Churches: Creating Christian Community in Postmodern Cultures veröffentlicht hat.

Der Titel des neuen Buches lautet The Gospel After Christendom: New Voices, New Cultures, New Expressions. Ryan Bolger hat 28 Beiträge aus der ganzen Welt gesammelt und die machen in ihrer vielfältigen Unterschiedlichkeit wie in den beachtlichen Gemeinsamkeiten, den Reiz dieses einzigartigen Bandes aus. Man kann wegen der lockeren Systematik alles der Reihenfolge nach lesen, oder auch kreuz und quer durchs Buch „zappen“.

Aus Deutschland haben neben mir auch Tobias Faix aus Marburg und Markus Weimer mitgewirkt, alle auf Englisch übrigens. Der Jubilar soll sich sehr gefreut haben. Hier ein Video von der Buchpräsentation in Pasadena:

Und schließlich noch das Inhaltsverzeichnis für alle Interessierten:

Introduction Ryan K. Bolger

I. Peoples

1. Iglesias Emergentes in Latin America Osias Segura-Guzman

2. Emerging Churches in Aotearoa New Zealand Steve Taylor

3. Emerging Missional Churches in Australia Darren Cronshaw

4. New Expressions of Church in Scandinavia Ruth Skree

5. New Expressions of Church in the Low Countries Nico-Dirk Van Loo

6. Fresh Expressions of Missional Church in French-Speaking Europe Blayne Waltrip

7. Emerging Christian Communities in German-Speaking Europe Peter Aschoff

II. Cultures

8. New Monastic Community in a Time of Environmental Crisis Ian Mobsby

9. Mission within Hybrid Cultures: Transnationality and the Glocal Church Oscar Garcia Johnson

10. Distinctly Welcoming: The Church in a Pluralist Culture Richard J. Sudworth

11. Our P(art) within an Age of Beauty Troy Bronsink

12. Mission Among Individual Consumers Stefan Paas

13. Mission in a New Spirituality Culture Steve Hollinghurst

III. Practices

14. Rethinking Worship as an Emerging Christian Practice Paul Roberts

15. Formation in the Post-Christendom Era: Exilic Practices and Missional Identity Dwight J. Friesen

16. Towards a Holistic Process of Transformational Mission Tobias Faix

17. Leadership as Body and Environment: The Rider and the Horse MaryKate Morse

IV. Experiments

18. The Underground: The Living Mural of a Hip Hop Church Ralph C. Watkins

19. Bykirken (The City-Church), Pray and Eat Andreas Østerlund Nielsen

20. House of Sinners and Saints Nadia Bolz-Weber

21. L’Autre Rive (the Other Bank or Shore) Eric Zander

22. With: An Experimental Church Eileen Suico

23. The Jesus Dojo Mark Scandrette

24. St. Toms: From Gathered to Scattered Bob Whitesel

25. Urban Abbey: The Power of Small, Sustainable, Nimble Micro-Communities of Jesus Kelly Bean

V. Traditions

26. Indigenous and Anglican: A Truly Native Church Emerges in the Anglican Church of Canada Mark MacDonald

27. Turning the Ocean Liner: The Fresh Expressions Initiative Graham Cray

28. On the Move: Towards Fresh Expressions of Church in Germany Markus Weimer

Conclusion Ryan K. Bolger

Afterword Eddie Gibbs

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Zusammendenken, was zusammen gehört

Gerade kommt „Die Vermessung der Welt“ in die Kinos (ich bleibe wohl lieber beim Buch). Von Kehlmanns Protagonisten lebt der eine in der Welt des abstrakten Geistes und der andere schlägt sich sammelnd und katalogisierend durch die unwegsame und unerbittliche Wildnis. Zwei Vertreter einer Moderne, die Geist und Materie nicht mehr zusammenbringt.

Der Anthropologe und Kybernetiker Gregory Bateson hielt gegen Ende seines Lebens die Überwindung dieses Dualismus für eine lebensnotwendige Aufgabe. Seine Tochter hat das Manuskript zu Wo Engel zögern nach seinem Tod fertiggestellt und veröffentlicht. Bateson grenzt sich von den sympathischen, aber abergläubisch-esoterischen Nachbarn, die auf Geister und Übersinnliches abfahren, ebenso ab wie von den Kollegen aus den Naturwissenschaften, die sich aufs Messen von Quantitäten und simple Kausalitäten haben reduzieren lassen.

Bateson ist ein origineller Denker und sein Buch eine anregende Lektüre. Seine Themenstellung – die Wiederentdeckung einer zusammenhängenden, geistleiblichen Wirklichkeit (er kann auch von „Monismus“ reden) – finde ich jedenfalls faszinierend:

Meine Aufgabe ist es, zu erforschen, ob es irgendwo zwischen diesen beiden Schreckgespenstern des Unsinns [d.h. des Materialismus und des Supranaturalismus, die beide die cartesische Spaltung der Welt in Geist und Materie widerspiegeln] einen geistig gesunden und gültigen Platz für die Religion gibt. Ob sich, wenn die Religion weder die Wirrköpfigkeit noch Scheinheiligkeit nötig hat, in Erkenntnis und Kunst die stützende Grundlage einer Affirmation des Heiligen finden ließe, die die natürliche Einheit zu Ehren bringen würde.

Würde eine solche Religion eine Einheit neuer Art bieten? Und könnte sie eine neue und dringend benötigte Demut wecken?

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Weisheit der Woche: Metaphorisches Reden

Muss denn eine Geschichte wirklich passiert sein, um wahr zu sein? Nein, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Um eine Wahrheit über Beziehungen zu kommunizieren oder um eine Idee exemplarisch darzustellen. Die meisten wahrhaft wichtigen Geschichten handeln nicht von Dingen, die wirklich passiert sind – sie sind in der Gegenwart wahr, nicht in der Vergangenheit.

Mary Catherine und Gregory Bateson, Wo Engel zögern. Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen

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Lernender Glaube: Eine Theologie und Spiritualität der Entwicklungsfähigkeit

Vor längerer Zeit hatte ich ein Gespräch mit jemandem, der unsere Gemeinde verließ, weil dort Menschen meditieren. Sein Argument war, dass es derartiges auch in anderen Religionen gebe, ergo könne es nicht christlich sein. Er könne solche Dinge nicht mittragen oder tolerieren.

Immer wieder argumentieren Menschen genealogisch – sie verfolgen den eine Idee (oder in diesem Fall eine bestimmte Praxis) zurück zu ihren Ursprüngen, und wenn die nicht zweifelsfrei in der Bibel oder der Kirche zu lokalisieren sind, schlagen sie Synkretismusalarm: Reiner Glaube und Lehre werden kontaminiert, und das muss natürlich böse enden. Mit der Frage „Wer hat’s erfunden?“ lassen sich viele Dinge diskreditieren. Zugleich geht sie von einem starren Gegensatz aus: Alle Wahrheit ist „hier drinnen“ zu finden, „da draußen“ nichts als Lüge und Irrtum. Die fromme Variante des Not-invented-here-Syndroms.

Die Argumentation gibt es in verschiedenen Variationen. Zum Beispiel wird gern „hebräisches Denken“ gegen „griechisches Denken“ ausgespielt, wobei ersteres per Definitionen gut und letzteres schlecht ist. In Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Schon beim Apostelkonzil wurde die theologische Grundlage dafür gelegt, dass das Christentum den Raum der jüdischen Kultur überschreiten konnte. Der Fehler kam – wenn überhaupt – viel später, als man sich an dieser Herkunft nicht mehr erinnern wollte oder konnte. Und natürlich hat man bei der Kontextualisierung des Glaubens in griechisch-römischen Kulturkreis nicht auf Anhieb alles richtig gemacht und manche Ideen von Platon etwas zu optimistisch und unkritisch übernommen. Man muss also differenzierter hinsehen.

Interessant fand ich in diesem Zusammenhang eine Beobachtung von Michael Pflaum in seiner pastoraltheologischen Dissertation über Die aktive und die kontemplative Seite der Freiheit. Dort beschreibt er den Integrationsprozess neuer Elemente in die christliche Spiritualität am Beispiel der Wüstenväter. Konkret ging es um die Übereinstimmung mit der Natur, das Nachdenken über den eigenen Tod, die Gewissenserforschung, die Formulierung von Lebensregeln und Sentenzen, die drei Stufen oder Etappen des geistlichen Weges und andere Ideen oder „Sprachspiele“.

Diese Integration verlief keineswegs unkritisch. Die Mönche setzten Inhalte der Schrift und antike Übungen in eine durchdachte Beziehung zu einander und vertrauten dabei demütig auf die göttliche Gnade. Und deshalb ist grundsätzlich erst einmal nichts einzuwenden gegen eine theologisch verantwortete Integration von Einsichten der Philosophie oder Psychotherapie in christliche Theologie und seelsorgerliche Praxis.

Als Kriterien für eine „Unterscheidung der Geister“ nennt Michael Pflaum

  • die Verträglichkeit mit der Lehre Jesu
  • die Ausrichtung auf Gott und Bereitschaft, Leid anzunehmen
  • die intuitive Empfindung, dass mich ein Gedanke oder Text bereichert
  • Transparenz und Glaubwürdigkeit der Quelle/des Autors und positive Früchte

Theologische Arbeit folgt dem Muster der „Idiomenkommunikation“. Das ist ein Begriff aus der christologischen Zweinaturenlehre, der die Einheit der Person stärkt. Die menschliche „Natur“ Christi hat Anteil an den göttlichen Eigenschaften und umgekehrt. Auf die Theologie angewandt heißt das dann, dass man nicht nur mit Hilfe des Evangeliums zerstörerische Tendenzen der Gegenwartskultur erkennt, sondern dass auch die jeweilige Kultur zu einem neuen und vertieften Verständnis des Evangeliums führen kann:

Es kann nicht von einer Einbahnstraße vom Dogma zur Pastoral oder vom Evangelium zur Kultur ausgegangen werden. weil die eine Seite immer auch die andere miteinbegriffen hat, müssen beide Bewegungen, die Bewegung vom Göttlichen zum Menschlichen und die Bewegung vom Menschlichen zum Göttlichen, gerade auch in ihrer unhintergehbaren Divergenz als wesentlich erkannt werden. (S. 16)

Darauf lässt sich doch gut aufbauen. Ich bin gespannt auf den Rest des Buches.

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Es ist noch kein Buch vom Himmel gefallen…

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also ließ auch Evangelium. Gottes langer Marsch durch seine Welt ein Weilchen auf sich warten, jetzt ist es erhältlich und ich hatte eben mein erstes Exemplar in der Hand. Walter Faerber und ich hatten viel Spaß beim Schreiben an diesem kleinen Buch und hoffen, dass alle Leser es ähnlich inspirierend finden.

Es geht um die Frage „Was ist das Evangelium?“. Wir sind beide der Meinung, dass man auf diese Frage letzten Endes nur sinnvoll antworten kann, indem man Teil dieser Geschichte wird, sie zugleich erzählt und lebt.

Verdienen werden wir mit dem Titel nichts, der Erlös kommt der Arbeit von Emergent Deutschland zugute. Warum die wichtig sein könnte, versteht man vielleicht auch besser, wenn man die 91 Seiten gelesen hat. Oder er/sie liest gleich weiter, etwa den kaffeebraunen Cousin aus der Reihe „Einfach Emergent“ mit dem (ähnlich langen) Titel: Emerging Church verstehen. Eine Einladung zum Dialog von Arne Bachmann, Tobias Faix und Tobias Künkler.

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Solche und solche Taufsprüche

Über die letzten Jahre fiel mir auf, dass viele selbstgewählte Tauf- und Konfirmationssprüche sich in dem großen Themenkreis von Schutz und Bewahrung bewegen. Da spüren Eltern ehrfürchtig, wie verwundbar ihr Kind ist oder ein(e) Konfirmand(in) fühlt sich unsicher auf dem Weg zum Erwachsenwerden, und das spiegelt sich in der Auswahl wider: Wir wünschen uns Gott an und auf unserer Seite als Beschützer und Trost.

Verständlich so weit.

In der aufsteigenden Ordnung menschlicher Bedürfnisse nach Abraham Maslow würden diese Anliegen auf den unteren Stufen rangieren, besonders der des Sicherheitsbedürfnisses. Wenn alles gut läuft, entwickelt sich der Glaube so, dass auch die anderen Bedürfnisse in Beziehung zu Gott gesetzt werden können, zumal in der erweiterten Form bei Maslow „Transzendenz“ als Ziel in den Blick kommt und der Gedanke des Wachstums die oberen Ebenen bestimmt.

Aber zwingend ist das nicht. Manch eine/-r scheint Gottes Rolle auf die des elementaren Schutzpatrons zu begrenzen, der uns weitgehend schmerzfreie Existenz garantiert, aber womöglich eher hinderlich wäre, wenn es um „Individualbedürfnisse“ oder Selbstverwirklichung geht. Was erklären würde, warum manche Menschen in bestimmten Lebenskrisen ihren „Kinderglauben“ an den „lieben Gott“ verlieren, weil der „seinen“ Leuten, rein statistisch gesehen, kaum weniger Schicksalsschläge widerfahren lässt als allen anderen.

Jetzt die Frage:

Könnte nicht gerade ein Tauf- oder Konfirmationsspruch, der Menschen ja ein Leben lang begleiten soll, so gewählt werden, dass er dem Täufling oder Konfirmanden den Blick dafür öffnet, dass Gott nicht nur die ganz drängenden und unmittelbaren Sorgen und Bedürfnisse (das „tägliche Brot“) kennt, sondern dass es (um in Matthäus 6 zu bleiben) uns vor allem um sein Reich gehen sollte? Dass er also nicht nur die ersten Etappen des Wegs erhellt, sondern die ganze Strecke? Kann man diesen Begriff so verstehen und erklären, dass Gottes kommende Herrschaft ausdrücklich die soziale, kognitive, ästhetische Dimension des Lebens einschließt und uns letztlich dazu drängt, über uns selbst hinauszuwachsen?

Ist nicht genau das die Stoßrichtung des Evangeliums vom Kreuz und der Auferstehung, dass wird dem Leid nicht ausweichen, es auch nicht verklären müssen, und dass wir, indem wir es durchleben, nicht umkommen, sondern in eine neue Dimension erfüllten Lebens vorstoßen?

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Vom Segen der Rücksichtnahme

Romano Guardinis Die Lebensalter gehört zu den Büchern, die man wenigstens alle drei bis fünf Jahre wieder lesen sollte. Auf den wenigen Seiten findet man so viel hochverdichtete Weisheit, dass jeder neue Durchgang wieder frische Offenbarungen vermittelt. Zum Beispiel darüber, warum wir es uns nicht leisten können, alte Menschen zu vernachlässigen:

Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass die Pflicht des lebensstarken Menschen gegenüber dem alten nicht nur für den letzteren wichtig ist… Gesundheit […] kann den Menschen roh, und, in einem tiefen Sinn, dumm machen. Der antike Weise würde sagen: sie macht ihn anfällig für das Schicksal. Die Sorge für den Schwachen schützt den Starken selbst. Indem dieser die Hilfsbedürftigkeit des Alten versteht und durch Rücksichtnahme auf ihn die eigene Lebensungeduld mäßigt, wird er vor vielem bewahrt, was ihn zu Fall bringen kann.

… der Mensch, der es ablehnt, dem sinkenden Leben gut zu sein, und der fortschreitenden Einengung, die es erfährt, zu Hilfe zu kommen, versäumt eine wichtige Chance, zu verstehen, was überhaupt Leben ist, wie unerbittlich seine Tragik, wie tief seine Einsamkeit, und wie sehr wir Menschen miteinander solidarisch sind.

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Verkannte Kindheit

Ein kleiner Nachtrag zum Post von gestern, aus Romano Guardinis weisen Buch „Die Lebensalter“:

Je weniger aber das Alter gesehen und anerkannt ist, desto unbekannter wird auch die echte Kindheit: Die meisten Kinder sind Erwachsene im Miniaturformat. Wirkliche Kinder sind Menschenwesen, die in jener Einheit des Lebens existieren […]. Zum Beispiel sind sie fähig, Märchen zu hören, das heißt, mythisch zu denken. Soweit aber heute überhaupt Märchen erzählt werden, werden sie rationalisiert oder ästhetisiert. Kinder sind fähig, zu spielen, Gestalten zu schaffen, Figuren des Lebens, Zeremonien. Stattdessen sehen wir überall die technisierten Spielzeuge, die ja in Wahrheit vom Erwachsenen her gedacht sind. Wenn aber einmal glücklich etwas Kindhaftes entsteht, man zum Beispiel gesehen hat, wie bedeutungsvoll Kinderzeichnungen sein können, dann werden Theorien dazu gemacht, Ausstellungen veranstaltet und Preise gegeben, und alles verdirbt.

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Wahr oder erfunden? Was man von Karius und Baktus über die Bibel lernen kann

Meine Kinder haben im Kindergarten die Geschichte von Karius und Baktus gehört. Die Auswirkungen waren sehr positiv, bis heute putzen sie recht gewissenhaft ihre Zähne. Und niemand kommt auf die Idee, die Geschichte als erfunden und daher gar nicht wahr zu bezeichnen oder umgekehrt zu behaupten, man müsse das buchstäblich so glauben, wie es geschrieben steht. Kinder denken nun mal in Geschichten, und Karius und Baktus ist eine Geschichte, die ihnen eine wichtige Wahrheit nahebringt. Mit wissenschaftlichen Studien zur Dentalhygiene hingegen können Vorschulkinder nichts anfangen.

Kürzlich hat mich das Thema Schöpfung und Wissenschaft wieder beschäftigt. Der Streit zwischen fundamentalistischen Atheisten und fundamentalistischen Christen über die biblische Urgeschichte kommt mir vor wie ein Streit über Karius und Baktus. Natürlich ist dieser Text von Menschen und für Menschen in einer vorwissenschaftlichen Zeit geschrieben, in der es überhaupt nur Geschichten – Mythen – gab, mit denen man die Welt erklärte. Vermutlich nicht einmal so sehr die Frage, wie genau alles entstanden ist und was früher war (oder nicht war), sondern eine Beschreibung dessen, wie die Welt hier und jetzt ist und wie man in ihr richtig lebt.

Wenn man diese Geschichte verstehen will, muss man sich erstens auf sie einlassen, man muss in die Welt ihrer Vorstellungen von Urflut und Himmelsgewölbe eintauchen, und man muss zweitens verstehen, wo und wie sie sich von den anderen Geschichten unterscheidet, die zeitgleich im Umlauf waren: all den altorientalischen und antiken Schöpfungs- und Göttermythen. Zum Beispiel präsentiert uns Genesis 1 eine gewaltlose Schöpfung, eine völlig entdämonisierte Welt und depotenzierte Elementarmächte, während im Enuma Elish die Götter sagen „Lasst uns Dämonen machen“.

Im Übrigen hat ja auch Jesus niemand gefragt, ob die Geschichte vom verlorenen Sohn eine „wahre“ Geschichte ist. Natürlich ist sie „erfunden“. Aber sie ist genial erfunden, weil sie besser (und kürzer!!) als jede christliche Dogmatik Gottes Wesen charakterisiert. Und anders als unsere Wissenschaftsprosa kann die Poesie der Genesis etwas über Sinn und Schönheit des Lebens aussagen.

Wir sollten die Aussagen von Genesis 1-11 in unser heutiges, wissenschaftliches Weltbild integrieren und darüber nachdenken, was sie uns im 21. Jahrhundert denn sagen. Der Psychologe James Hillman hat die „modernen Mythen“ (des Materialismus, Positivismus und Szientismus) dafür kritisiert, dass sie Menschen weder Hoffnung noch Halt und Geborgenheit vermitteln können. Hillman möchte deshalb – aus therapeutischen Gründen – wieder zurück zu Göttern, Geistern und Seelenwanderung. Die biblische Schöpfungsgeschichte stützt weder das eine noch das andere Extrem. Und sie ist eingebettet in eine bunte Überlieferung, die von Gottes Handeln in der Geschichte und in konkreter menschlicher Erfahrung spricht.

PS: Chris Ellis hat mich gestern auf das folgende Video hingewiesen, da wird einiges noch einmal gut auf den Punkt gebracht

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Alpha analysiert (5): Die Zweinaturenbibel

In den letzten Jahren haben sich für mich eine ganze Reihe von Fragen an „Fragen an das Leben“ ergeben. Vor einigen Wochen habe ich begonnen, die in einer Serie von Blogposts etwas zu bearbeiten. Zum einen ist das eine Antwort auf etliche Anfragen, die mich zu den Themen des Kurses erreicht haben, zum anderen denke ich, dass von einer offenen Diskussion alle profitieren, auch wenn der eine oder andere Kommentar unten kritisch ausfällt. Die positiven Seiten habe ich übrigens hier gewürdigt.

Die Frage nach der Gewissheit ist eng verknüpft mit der Lehre von der Schrift, und tatsächlich ähnelt sich die Argumentationsstruktur der beiden Kapitel: Die Bibel wird zunächst als eine Art Buch der Superlative eingeführt. Sie ist erstens „konkurrenzlos“, zweitens „kraftvoll“ und drittens „kostbar“, weil Gott in ihr redet. Das ist schon einmal eine steile Behauptung für die Skeptiker unter den Lesern. Zur Begründung heißt es weiter:

Jesus sagte: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Matthäus 4,4). Das Wort „kommt“ steht grammatikalisch gesehen im Originaltext im Partizip Präsens und bezeichnet einen ständig ablaufenden Prozess. Es ergießt sich sozusagen ununterbrochen aus dem Mund Gottes, wie ein Strom aus der Quelle hervorsprudelt. Mit anderen Worten: Gott möchte ununterbrochen mit uns kommunizieren. Und das tut er in erster Linie durch dieses Buch, die Bibel.

Nun kann man an dieser Stelle einwenden: Entweder ist Gottes Reden ein fortlaufender Prozess und ein stetes Geplätscher, dann wäre die Frage, wozu man die Worte konserviert, wenn es sie auch frisch gibt. Oder es ist im Grunde doch festgeschrieben und alles, was uns heute bleibt, ist ein frischer Aufguss des Alten. Passt beides irgendwie zusammen?

Nicky Gumbel importiert die Zweinaturenlehre aus der Christologie, um zu erklären (aber im Grunde ist es nur eine Behauptung), dass die Bibel ganz Menschenwort und zugleich ganz Gotteswort sein kann. Und wie in der klassischen Christologie verschwindet auch hier die schwache menschliche Seite umgehend hinter der göttlichen, denn es folgt eine scholastisch anmutende Akkumulation kirchlicher Autoritäten, die der Bibel – freilich nicht überraschend – Vollkommenheit und Unfehlbarkeit attestieren.

Nun kann man sich darüber freuen, wie hier eher unapologetisch ein ökumenischer Konsens (Irenäus – Luther – das II. Vaticanum) geäußert wird. Oder man wundert sich, dass die Traditionslinie zielstrebig auf Billy Graham zuläuft, der als Kronzeuge eines naiven Biblizismus zitiert wird, und von da ab beherrscht der Begriff „Autorität“ das Feld. Auf Bibelkritik – sei sie wissenschaftlich-historisch oder auch nur die Hilflosigkeit des einfachen Bibellesers angesichts verstörender Gewaltszenen – wird überhaupt nicht eingegangen, es wird lediglich eingeräumt, dass es wohl gewisse Schwierigkeiten beim Verstehen gebe und – freilich nur scheinbare – Widersprüche.

Vielsagend sind die Analogien, die dieses Bibel-Kapitel durchziehen. Da vergleicht Nicky Gumbel die Bibel mit der St. Paul’s Cathedral, deren Architekt Sir Christopher Wren keinen einzigen Stein in die Hand genommen habe und dennoch der Schöpfer des Kunstwerks sei, so wie Gott keinen Buchstaben selbst schrieb, aber trotzdem der eigentliche Autor der Bibel sei. Freilich sieht jeder, dass St. Paul’s ein Werk aus einem Guss ist, während die Entstehung der Bibel doch eher einem Haus gleicht, das an allen Ecken und Enden umgebaut und erweitert wurde, und entsprechend verwinkelt sind manche ihrer Zusammenhänge. Statt kultureller Komplexität und historischer Vielschichtigkeit wird hier eine im Grunde zeitlose Homogenität behauptet.

In eine ähnliche Richtung weisen die drei Metaphern gegen Ende des Kapitels: Das Regelwerk, die Bedienungsanleitung und der Liebesbrief. Regeln schützen und dienen dem Frieden, sie engen nicht nur ein – klar soweit. Tatsächlich finden wir in der Bibel unter anderem auch Gebote und Rechtssatzungen. Dass in der Bibel aber auch manche verstörende Regeln stehen und dass da zum Teil von drakonischen Strafen die Rede ist, bleibt außen vor. Unter dem Leitgedanken der Erziehung und Lebenshilfe erfolgt der Übergang zum Bild von der Gebrauchsanweisung. Der lässt sich deutlich schlechter verifizieren. Denn die biblischen Texte sind etwas ganz anderes als das Handbuch für ein technisches Gerät und das menschliche Leben ist viel komplizierter als eine Maschine, die „funktioniert“, wenn sie nur korrekt bedient wird. Wenn die Bibel eins nicht ist, dann ein Handbuch mit Patentlösungen und schrittweisen Anleitungen für alle Lebenslagen!

Um das Starre und Mechanistische etwas zu lindern, wird die Bibel schließlich unter Verweis auf Augustinus („Die Bibel erzählt von nichts anderem als von Gottes Liebe zu uns“) als „Liebesbrief“ beschrieben. Aber auch hier bleibt das Faktum unkommentiert, dass sich das dicke, alte und wundersame Buch so ganz und gar nicht wie ein persönlicher Brief Gottes an mich liest. Vielmehr ist da von allen möglichen Leuten die Rede, die zu anderen Zeiten in anderen Situationen lebten, teils ähnliche und teils ganz andere Sorgen und Probleme hatten als wir, und die oft genug alles andere als vorbildlich agierten.

Augustinus‘ oben zitierter Satz hatte ein Schlüsselwort enthalten: Das Erzählen. Warum nur wird die Bibel hier als dieses oder jenes angepriesen, ohne zu erläutern, dass sie vor allem eine Sammlung geschichtlicher Texte ist? Texte, die geschichtliche Erinnerungen an Gottes Handeln mit den Menschen festhalten und diese im Erzählen weiterentwickeln; Texte die in einem lockeren, aber eben keineswegs monolithischen, und eben deshalb nach vielen Seiten offenen und anschlussfähigen Traditionszusammenhang stehen. Texte, die auch und gerade deshalb vom Geist Gottes auf unerwartete Weise aktualisiert werden können. Texte, die unsere Kultur und Geschichte schon seit Jahrhunderten geprägt haben, selbst wenn das eine oder andere folgenschwere Missverständnis auch ein Teil ihrer Wirkungsgeschichte ist.

Wird dieses unkritische Harmonisieren der in Wirklichkeit kantigen Bibel und das Aufstellen von Behauptungen, die zu keinem Zeitpunkt die fromme Binnenperspektive verlassen, den Lesern von „Fragen an das Leben“ und den Gästen eines Alpha-Kurses (der richtet sich ja Skeptiker und Suchende) eigentlich gerecht? Ist das ehrlich empfunden, dass die schwierigen Seiten der Bibel ungefähr so vernachlässigbar sind wie deren flüchtige Erwähnung im Text dieses Kapitels, oder meint Nicky Gumbel, das einem Anfänger im Glauben (noch) nicht zumuten zu dürfen?

Zuletzt: Warum drehen wir das Argument eigentlich nicht um und arbeiten heraus, wie gerade die Vielfalt der Perspektiven und Stimmen oder auch die Weigerung der Juden und später der Christen, peinliche oder höchst erklärungsbedürftige Passagen nachträglich zu frisieren und Widersprüche zu tilgen, also gerade auch das Menschliche, die Bibel glaubwürdig macht? Welche andere religiöse Tradition hat denn etwas Vergleichbares zu bieten? Lässt sich vielleicht gerade auch darin Gottes Reden und Handeln erkennen?

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