Alpha analysiert (3): Das „blaue“ Kreuz

In den letzten Jahren haben sich für mich eine ganze Reihe von Fragen an „Fragen an das Leben“ ergeben. Vor einigen Wochen habe ich begonnen, die in einer Serie von Blogposts etwas zu bearbeiten. Zum einen ist das eine Antwort auf etliche Anfragen, die mich zu den Themen des Kurses erreicht haben, zum anderen denke ich, dass von einer offenen Diskussion alle profitieren, auch wenn der eine oder andere Kommentar unten kritisch ausfällt. Die positiven Seiten habe ich übrigens hier gewürdigt.

Im zweiten Kapitel das Alpha-Kurses folgt der Christologie die Soteriologie, also die Lehre von der Erlösung. Auch hier ist der modernistische Charakter der Logik und Begrifflichkeit unübersehbar. Und wieder ist der Einstieg sehr direkt: Nicky Gumbel beginnt mit „dem Problem“ – Sünde – auf das dann „die Lösung“ – Kreuz – folgt.

Sünde wird klassisch als individuelle moralische Schuld verstanden, die jedem anhaftet, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Sie wird mit den Begriffen „Korruption“ (hier als Verunreinigung und Verderbnis verstanden) und „Kontrolle“ (Unfreiheit) bezeichnet, die „Kosten“ heißen Tod und die „Konsequenz“ ewige Trennung von Gott. Im theologisch konservativen Spektrum ist das nichts Ungewöhnliches, aber der soziale und strukturelle Aspekt fällt dabei ebenso unter den Tisch wie andere Vorstellungen, die nicht in Kategorien von Recht und Moral angesiedelt sind, etwa der Verlust der Gottebenbildlichkeit. Wieder kann man diskutieren: Notwendige Elementarisierung oder problematische Verkürzung? Ich tippe eher auf Verkürzung, das zeigt sich im weiteren Verlauf des Kapitels auch immer deutlicher.

Es folgen zwei deftig ausgemalte Hinrichtungsszenen: Pater Maximilian Kolbe, der in Auschwitz für einen Mithäftling stirbt, und die Kreuzigung Christi. Mit einem Zitat von Raniero Cantamalessa wird schließlich gesagt, dass Jesus stellvertretend für jeden einzelnen Menschen den Zorn Gottes erleidet. Ob und inwiefern irgendein Zusammenhang zwischen Leben und Verkündigung Jesu und diesem stellvertretenden Tod besteht, wird dabei mit keinem Satz bedacht. Die Problematik der Verbindung Gott-Zorn-Gewalt bleibt ebenfalls unkommentiert. Wie schon die Gestalt Jesu erscheint auch das Ereignis der Kreuzigung aus allen historisch-politischen Bezügen gelöst. Dabei hätte man wunderbar beschreiben können, wie seine Solidarität mit den ausgewiesenen „Sündern“ Jesus auch ganz konkret ans Kreuz brachte.

Vier Bilder – ein Muster

In Anlehnung an John Stott werden – und auch das hätte vom Ansatz her gut werden können – nun vier Metaphern für das Kreuz thematisiert: Aus dem Kultus der Begriff des Opfers, das Bild des Lösegeldes im Sinne des Freikaufs eines Sklaven oder Verschleppten, der Begriff des Freispruchs vor Gericht – der allerdings durch eine eilig angefügte Beispielgeschichte ad absurdum geführt wird, in der ein Richter die Strafe eines schuldig gesprochenen Delinquenten aus eigener Tasche bezahlt, ihn also gerade nicht freispricht und damit auch nicht „rechtfertigt. Viertens klappert das Thema „Versöhnung“ etwas nach, zu dessen Illustration der verlorene Sohn angeführt wird. Dass in dieser Geschichte überhaupt keine Transaktion „nötig“ war, die Vergebung des Vaters weder ein „Opfer“ noch einen „Preis“, ja nicht einmal eine Entschuldigung voraussetzte, bleibt auffällig unkommentiert.

Von den vier Bildern bleibt für die weitere Argumentation letztlich doch nur eben jene Kombination aus Opfer und Lösegeld übrig, die in den meisten zeitgenössischen Kolportagen von Anselms Satisfaktionslehre üblicherweise erscheint. Warum aber Gott einen Unschuldigen brutal töten muss, um mir vergeben zu können, bleibt unklar. Am Ende kommt die Zuspitzung im Sinne des augustinischen „Gott und die Seele“: Nicht nur gilt der Tod Christi jedem einzelnen, es geht auch, so muss man das wohl doch lesen, um nichts anderes als die Versöhnung des Individuums mit Gott.

Vereinfacht oder verengt?

Nun war die Vergebung individueller Schuld ja bereits unter den Bedingungen des „alten“ Bundes kein Problem – dafür gab es den Tempel, die Opfer, die Priesterschaft, die Kultvorschriften. In der Verkündigung Jesu erscheint dieser Aspekt als viel weniger problematisch, vielmehr tritt – je länger, je mehr – Gottes Gericht über sein Volk in den Vordergrund, dessen „Sünde“ nicht in moralischer Verkommenheit, nicht einmal in arroganter Leistungsfrömmigkeit bestand, sondern darin, dass es seinen geschichtlichen Auftrag aus dem Blick verloren hatte, die Spirale der Gewalt nicht bremste und so für den Rest der Welt weder Segen noch Licht mehr war. Deshalb wählt ja der Leidensmessias den Märtyrertod, um einen eschatologischen Neuanfang mitten in der gefallenen Welt zu setzen und einen neuen, gemeinschaftlichen Exodus aus der Herrschaft lebensfeindlicher Kräfte zu ermöglichen. Das Kreuz Christi ist nach Darstellung der synoptischen Evangelien Resultat eines politischen Prozesses und weder ein kultisches Ereignis noch eine Form von Satisfaktion. Ausgerechnet diese beiden Metaphern sind heute für viele Menschen ohne fromme Sozialisation unverständlicher denn je, taugen also nur sehr eingeschränkt.

Vor ein paar Jahren war ich auf einer Tagung und habe dort über die verschiedenen Farben der „Spiral Dynamics“ gesprochen und wie das Evangelium auf den unterschiedlichen Frequenzen ganz unterschiedlich erscheint. Am Nachmittag sprach mich eine Teilnehmerin auf den zweiten Abend des Alpha-Kurses an uns sagte, der sei ja tiefblau. Ich denke, sie hat das ganz richtig beobachtet. In der Art und Weise, wie das Kreuz hier thematisiert wird, findet nicht nur eine notwendige Zuspitzung, sondern eine hinderliche Verengung statt, die es manchen Hörern eher erschweren dürfte, einen Zugang zu finden – wenn sie nämlich nicht aus dem Milieu der Traditionalisten und Corporate Achievers stammen, wie John Drane es nannte, wo die Logik von Schuld und Strafe, beziehungsweise die Ökonomie der Transaktionen, weitgehend unhinterfragt gilt.

Man könnte die Perspektive aber auch ganz anders wählen. Slavioj Žižek hat das in Die gnadenlose Liebe recht anregend getan, wenn er schreibt:

Das Opfer Christi ist daher in einem radikalen Sinne sinnlos: kein Tauschakt, sondern eine überflüssige, exzessive, ungerechtfertigte Geste, die Seine Liebe zu uns, zur sündigen Menschheit beweisen soll. Es ist so, wie wenn wir in unserem Alltagsleben jemandem »beweisen« wollen, dass wir ihn/sie wirklich lieben, und dies nur mittels einer überflüssigen Geste der Verausgabung tun können. Christus »zahlt« nicht für unsere Sünden; Paulus hat deutlich gemacht, dass eben diese Logik der Bezahlung, des Tausches, gewissermaßen die Sünde selbst ist und die Wette von Christi Tat darin besteht, zu zeigen, dass diese Kette des Tausches durchbrochen werden kann.

Christus erlöst die Menschheit nicht dadurch, dass er den Preis für unsere Sünden entrichtet, sondern indem er uns zeigt, dass wir aus dem Teufelskreis von Sünde und Vergeltung ausbrechen können. Statt für unsere Sünden zu bezahlen, löscht Christus sie buchstäblich aus und macht sie durch seine Liebe rückwirkend »ungeschehen«.

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