Helden und Heilige

Andrea Roedig schreibt bei Der Freitag über das immer beliebtere Genre moderner Heldenerzählungen. Das Thema hat mich hier ja auch ab und an schon beschäftigt. Vielleicht liefert die Olympiade ja neue Dramen. Dabei kommt alles darauf an, wie hier erzählt wird. Roedig beschreibt die neue Faszination des Journalismus für die Lichtgestalten unserer Zeit so:

Kennzeichen des Heroen sind Exzeptionalität, Mut und Größe. Der Held ist außergewöhnlich durch Kraft, Genie oder eine besondere Gabe. Seinen Mut beweist er im Kampf gegen Widerstände und Mächte. Immer verläuft seine Entwicklung am narrativen Faden von siegreich zu überwindenden Schwierigkeiten. Und groß wird der Held, weil er sich übersteigt. […]

Der Held ist kein Beamter, kein Angestellter, er ist kein Stratege und auch nicht unbedingt ein Demokrat. Vor allem aber ist er eines nicht: ein Opfer. Er siegt, und wenn er unterliegt, dann klagt er nicht, er nimmt den Schmerz auf sich als notwendigen Preis für sein Ziel und den Ruhm. „The Trick is: not minding that it hurts“, erklärt Lawrence of Arabia einem Untergebenen, der sich zu lautstark an einem Streichholz verbrennt. Besser kann man die Essenz des Heroischen nicht definieren.

Dass Helden wieder Konjunktur haben, liegt an den gesellschaftlichen Verhältnissen: Aus der Aufstiegs- ist eine Abstiegsgesellschaft geworden. Allzu oft hat der Tüchtige kein Glück, während zugleich allzu viele Glückspilze alles andere als tüchtig sind. Die neoliberale Botschaft an den Normalo heißt: Durchhalten und den Schmerz ignorieren; es ist immer noch alles möglich, der tatsächliche Erfolg steht aber unter dem Vorbehalt eben jenes launischen Schicksals, das die volatilen Märkte regiert. Den Blick auf jene, die es in den Olymp geschafft haben (oder dort geboren wurden), sollte man trotzdem nicht abwenden – etwa, indem man kritisch den Preis hinterfragt, den man für den Aufstieg zu zahlen bereit ist.

Sind das am Ende säkularisierte Hagiographien, mit denen wir es hier zu tun haben? Legen Helden wie Heilige einen beschwerlichen Weg zurück, erdulden beide eine schmerzhafte Passion, werden beide zum Modellfall von Tugendhaftigkeit, vollbringen beide uneigennützig Wunder, indem sie für sich und andere Unmögliches möglich machen?

Es wäre eine interessante Aufgabe (sucht vielleicht noch jemand ein Thema für eine Diplom- oder Masterarbeit?!?), einmal alle christlichen Blogposts zum Tod von Steve Jobs auf solche Korrelationen zu untersuchen, wie man sie zwischen Heldenmythen und Heiligenviten schon erforscht hat. Und dann nach Kriterien theologischer Kritik an diesem Narrativ und seinen Adaptionen zu fragen:

  • Darf man beispielsweise Paulus‘ eschatologisch motivierte Gedanken über den Gratifikationsaufschub des Wettkämpfers in 1.Korinther 9 auf den Kontext eines weltlichen Erfolgs und Ruhmes übertragen?
  • Sind die Gründer von Megachurches, die gefragten Konferenzredner und Bestseller-Autoren solche Kultfiguren?
  • Wie lässt sich das Neue Testament so auslegen, dass es Menschen gegen zweifelhafte Ideale von Erfolg immunisiert, die nur wie die berüchtigte Karotte vor dem Maul des Esels baumeln, der den Karren anderer zieht?

Diese Vertröstung auf später wurde ja oft den christlichen Kirchen vorgeworfen, die tatsächlich in verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte mehr an möglichst gefügigen Untertanen interessiert waren als an einer Veränderung ungerechter Verhältnisse. Roedig wendet die Hermeneutik des Verdachts nun gegen eine Gesellschaft, in der das „unternehmerische Selbst“ postuliert und zunehmend die soziale Position vererbt wird, in der Heldenmythen den Status Quo eher sichern als in Frage stellen:

Wo gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse wie unbeherrschbare Naturgewalten erscheinen, braucht man die alten Geschichten. Der Mythos blendet und er tröstet, in ihm treffen sich Ideologie und Katharsis.

Es steckt also auch ein resignatives Element in diesen Geschichten. Vielleicht ist das auch ein Zeichen der Hoffnung, dass um viele „Heilige“ herum Gemeinschaften entstanden sind, die Jahrhunderte überdauert haben, nicht nur Firmen, Kapital und Medienhype. Und vielleicht ist bei einer/einem „Heiligen“ das Kriterium vor allem dies, dass sie/er einer bestimmten Berufung treu geblieben ist, egal mit welchem zählbaren Erfolg.

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Gott im „Ich“?

Ich finde die Praxis der Kontemplation eine ganz wertvolle und unverzichtbare Sache. Allerdings scheint mir, dass ich die dazugehörige Theorie manchmal erst in mein theologisches Koordinatensystem übertragen muss. In den letzten Woche habe ich das neue Buch von Franz Jaliczs gelesen. Ab und zu stolpere ich dabei über Aussagen wie diese, wo er davon spricht, die „Welt der Dualität“, wie er es nennt, hinter sich zu lassen:

Er ist kein Objekt, kein Gegenüber, das ich als Subjekt erkennen und kontaktieren kann. Wenn ich mich als ein „Ich“ von ihm abgrenzen (Subjekt) und ihn mit einer Du-Anrede von mir ausschließen könnte (Objekt oder Gegenüberstehendes), wäre er nicht mehr Gott. Gott kann man nicht begrenzen. Gott kann ich nicht von mir ausschließen, indem ich ihn als ein Gegenüber behandle. Gott ist überall und in jedem Geschöpf und auch nirgends, weil er nicht in Zeit und Raum eingeordnet werden kann. In der Wirklichkeit kann ich ihn viel mehr mit „Ich“ ansprechen als mit „Du“. Deswegen hat auch Mose Gott als „ich bin“ erkannt. Ich muss Gott in mir finden. Dort ist er unmittelbar da. (S. 141)

In der Tradition der Mystik, etwa bei Meister Eckhart, gibt es freilich viele ähnliche Aussagen. Ich denke, dass ich erahnen kann, was gemeint ist. Trotzdem finde ich die gewählte Sprache schwierig. Und die Exegese zum Gottesnamen, gelinde gesagt, sehr gewagt.

Miroslav Volf setzt sich in Von der Ausgrenzung zur Umarmung mit dieser Frage, ob die Grenzen des Selbst am Ende völlig aufgehoben werden, kritisch auseinander. Wie Jaliczs geht auch er von der Trinität als Vorbild aus. So wie sich dort Einheit und Unterschied nicht aus- sondern einschließen, Vater und Sohn also zu jedem Zeitpunkt unterscheidbar bleiben, aber nicht zu trennen sind, so gilt das auch für die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch:

Wenn sich die Trinität so der Welt zuwendet, werden der Sohn und der Geist in dem schönen Bild des Irenäus die beiden Arme Gottes, durch die die Menschheit erschaffen und in Gottes Umarmung aufgenommen wurde (vgl. Adversus Haereses 5,6,1). Dieselbe Liebe, die in der Trinität in sich nicht abgeschlossene Identitäten erhält, ist darauf aus, „in Gott“ Raum für die Menschheit zu schaffen. Die Menschheit ist jedoch nicht einfach der Andere Gottes, sondern der geliebte Andere, der zum Feind geworden ist. Wenn Gott sich daran macht, den Feind zu umarmen, ist das Kreuz das Ergebnis. Am Kreuz öffnet sich der tanzende Kreis der Selbsthingabe und gegenseitigen Einwohnung der göttlichen Personen für den Feind; in der Qual der Passion hält die Bewegung für einen kurzen Augenblick an und ein Riss erscheint, so dass die sündige Menschheit mitmachen kann (vgl. Johannes 17,21). Wir, die anderen – wir, die Feinde – werden von den göttlichen Personen umarmt mit derselben Liebe, mit der sie einander lieben, und deretwegen sie für uns in ihrer ewigen Umarmung Raum schaffen.

Also begegne ich Gott nicht als einem Fremden, ich begegne ihm nicht nur außerhalb meiner Selbst, sondern auch in mir (das darf man dann gern „Seelengrund“ nennen). Man muss aber das „Du“ nicht als etwas Ausgrenzendes missverstehen, wie Jalics es explizit tut. Nicht einmal der johanneische Jesus, der ja deutlich anders spricht als der synoptische, kann auf das „Du“ verzichten. Freilich will niemand Gott zum Objekt machen im Sinne des Ich/Es von Martin Buber. Aber hinter das richtig verstandene „Ich und Du“ geht es auch nicht richtig zurück, und da soll es vermutlich auch gar nicht.

Klar kann man Gott nicht begrenzen. Aber Gott hat sich in der Schöpfung selbst begrenzt und zurück genommen, damit Raum für etwas anderes entstehen kann. An dieser Vorstellung hängt theologisch viel zu viel, um sie zu verwischen oder aufzugeben. Zugleich hört Jalizcz ja keineswegs auf, vom „Ich“ zu reden, das ja in seiner Auffassung als Gegensatzpaar den Gedanken der Abgrenzung ebenso transportiert wie das „Du“. Das ist zumindest missverständlich.

Vielleicht wäre eine etwas entwickeltere Pneumatologie die Lösung für die Spannung, die Jalicz beschreibt. Der Heilige Geist fristet in diesem Buch jedenfalls ein Schattendasein, aus dem man ihn befreien sollte. Wenn wir überhaupt von „Unmittelbarkeit“ reden wollen, dann wohl am besten so, dass der Geist verbindet, ohne die Unterschiede obsolet zu machen.

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Sprechen Sie Papst?

Heute auf der Landesgartenschau, im GottesGarten der Religionen. Wenig Spektakuläres stand da, in einem Pavillon liegen Blumen zum Binden und vom Band ertönt eine Stimme. Noch bevor ich höre, was da geredet wird, weiß ich schon, dass es katholisch ist. Weil da dieser charakteristische Ratzinger-Singsang ist, den Josef Ratzinger gar nicht erfunden hat, sondern in dem zahllose katholische Bischöfe schon seit ich denken kann (und vermutlich länger) redeten.

Freilich haben auch Evangelische ihre Macken (ich bin sicher, ein listiger Kommentator wird sie unten alle aufzählen). Aber diesen völlig unnatürlichen Einheitstonfall gibt es bei uns einfach nicht. Faszinierend, wie hier die Institution prägend auf die Intonation durchschlägt! Wo wird das weitervermittelt? Im Gottesdienst? Im Priesterseminar?

Die brennendste Frage aber an diesem Tag: Ist Kardinal Marx wirklich katholisch? So wie der redet…?

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„Altes“ Buch – neue Möglichkeiten

Kürzlich schrieb mir ein Leser von Mit Gott im Job , der aus Asien stammt und seit einigen Jahren in Deutschland lebt:

Vor ca. 4 Wochen bin ich getauft worden. Ihr Buch lese ich seit ca. 3 Jahren finde ich immer wieder Anstöße. Es ist auch ein ganz wichtiges Thema, Arbeit und Glauben, überhaupt.

Das Buch erschien 2004, und nach so langer Zeit freut mich eine solche Rückmeldung besonders. Er fragte weiter, ob man das Buch in seine Muttersprache übersetzen könnte. Warum nicht? Eine koreanische Übersetzung existiert schon, ich kann sie nur nicht lesen…

Zurück nach Deutschland: Diese Woche habe ich nun die Rechte am Text vom Verlag zurückbekommen und möchte es (zum Beispiel für alle Montagsgläubigen, die es derzeit gibt) überarbeitet als e-Book herausbringen.

Wer also noch Anregungen für die Überarbeitung hat, kann sie hier gern als Kommentar hinterlassen oder mir anderweitig zukommen lassen!

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Chefsache

In diesen Tagen war zu lesen, dass der Ministerpräsident das Gymnasium zur „Chefsache“ erklärt hat. Da muss einem Angst und bange werden. Das letzte Mal nämlich, als Bildungspolitik zur Chefsache wurde, bekamen wir das G8. Ich frage mich ja manchmal: hätte es am Ende sogar funktionieren können, wenn man einfach die Kollegen nördlich der Staatsgrenzen, in Thüringen und Sachsen, gründlich interviewt und deren Know How übernommen hätte?

Aber Chefs erfinden das Rad neu und beweisen damit fatale Tatkraft.

Kein gutes Omen also, wenn wieder ein Regent ohne große Erfahrung in der Bildungspolitik die Sache an sich reißt. Es bedeutet nur, dass ein Jahr vor der nächsten Wahl das Thema den Interessen der Partei unterworfen wird, nicht etwa dem der Schüler, Eltern und Lehrer. Die Eltern haben das kapiert, inzwischen boomen die Realschulen und in ein paar Jahren können FOS und BOS anbauen und Lehrkräfte einstellen.

Bis irgendwann meine Enkel in die Schule kommen, ist es dann hoffentlich keine Chefsache mehr. Und hoffentlich auch nicht mehr derselbe Chef.

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Glückskeks-Bibel

Neulich wieder, eine Besprechung bei einer kirchlichen Dienststelle: Der Gesprächsleiter liest den Bibelvers aus den Losungen vor, es folgt ein kurzes freies Assoziieren in der Runde, was man aus dem in sich schon schwierigen Satz für die nun anstehende Tagesordnung für Schlüsse ziehen könnte. Wir kapitulieren und gehen schulterzuckend zur selbigen über. Losungen werden ja nicht für solche Anlässe konzipiert und ausgesucht.

Wenn das unter „Profis“ schon so läuft, wie viel mehr wird das durchschnittliche Gemeindeglied an diesem Tag ebenso konsterniert über die fehlende „Relevanz“ der Bibel in seinen Tag starten (oder das Ganze gar als schlechtes Omen werten?). Ja, ich weiß, es gab auch Tage, da traf das Losungswort voll ins Schwarze. Je nachdem, wie assoziationsfreudig jemand ist, wird das unterschiedlich oft der Fall sein, dass einem so ein Wort den Tag über neue Erfahrungen aufschließt.

Die Losungen können nichts dafür. Sie sind ja kein Orakel. Als sie erfunden wurde, las die Gemeinschaft, für die sie galten, mehr als nur (wenn überhaupt…) zwei Verse am Tag in der Schrift. Die kontextfreien Bibelschnipsel hatten also einen breiten Resonanzboden. Den kann man heute nicht mehr voraussetzen. Sie wirken eher wie eine Art christlicher Glückskeks ohne Keks.

Meine Frage ist, ob diese minimale Dosis Menschen für das dicke Buch eher interessiert oder sie immunisiert. Pauschal wird sie schwer zu beantworten sein. Ich denke, wer mit dem Bibellesen beginnt oder eher wenig liest, sollte statt einzelner Verse lieber ganze Geschichten lesen, lieber längere Zusammenhänge, lieber fortlaufend. Das wäre sozusagen der Keks zum Glücksspruch. Aber es gibt zum Glück auch andere Kekse, etwa die Tageslese.

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Pfingstkirchen und „geistliches Kapital“

Dieses Symposium an der USC – exakt 100 Jahre nach der legendären Azusa Street Revival – ist schon ein paar Jahre her, aber es enthält ein paar spannende Studien über die Pfingstbewegung und ihren gesellschaftlichen Einfluss, vor allem in Afrika, mit interessanten Ergebnissen.

In Deutschland trifft man an dieser Stelle noch viel Unkenntnis, Vorurteile und Missverständnisse an. Sieht man genau hin, dann schaffen Pfingstgemeinden eine Menge „soziales Kapital„!

Gastgeber bzw. Moderator ist der bekannte Soziologe Peter L. Berger, er kommentiert die drei Referenten.

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Bäh, langweilig!

„Mir ist langweilig!“ Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz aus einem Kindermund im Laufe der Jahre gehört habe. Die meisten Unterrichtsfächer in der Schule wurden als „langweilig“ eingestuft; mag sein, dass der eine oder andere Pädagoge auch seinen Teil dazu beitrug, vor allem aber konnte das System Schule eben kaum anstinken gegen Youtube, Xbox und iPod und die Fixierung auf deren Inhalte. Selbst Joggen im Wald ohne Berieselung auf den Ohren galt schon wieder als „langweilig“: Am besten ein Klamauk- oder Actionvideo gucken und nebenher noch chatten mit den Freunden.

Das Urteil „langweilig!“ erklingt meist im Ton der Majestätsbeleidigung. Als gebe es ein Grundrecht auf Dauerbespaßung durch die Mediengesellschaft, das einem in diesen Augenblicken boshaft verwehrt wird. Und das ist es, was mich unruhig macht: Wie lässt sich früh genug vermitteln, dass Langeweile zum Leben dazugehört? Dass jede Arbeit langweilige Anteile hat, dass es auch in der besten Beziehung nicht in einer Tour „funkt“, dass geistliches Leben immer auch Wüstenzeiten und Durststrecken enthält und dass jede persönliche Entwicklung scheitert, wenn man in solchen Momenten aussteigt und nach einem neuen Reiz sucht?

Anders gefragt: Ist es nicht ein Schlüsselthema für jegliche Art von Bildung, Menschen an Langweile zu gewöhnen? Es hat viel mit der Fähigkeit zu tun, sich selbst zu beruhigen und zu motivieren. Und sich zu interessieren, Anteil zu nehmen, Fremdheit zuzulassen! Wenn Langeweile keine Fluchtreflexe mehr auslöst, kann sie den gewohnheitsmäßigen Konsumenten zur Kreativität verleiten, zum Blick in die Tiefe ermuntern und den eingeschränkten Horizont erweitern.

Wenn mich immer jemand vor meiner Langeweile gerettet hätte, wäre ich heute kein Christ. Ich fing überhaupt erst richtig zu suchen und zu fragen an, als ich länger krank war, alle spannenden Bücher ausgelesen hatte und weil damals Fernsehen erst um 17.00 begann und ab 19.00 Uhr schon wieder langweilig wurde. Der Weg zu einem erwachsenen Umgang mit sich selbst und dem Leben führt nicht an der Langeweile vorbei, sondern durch sie hindurch. Nur: wie vermitteln wir das all den indignierten kleinen Majestäten? Ich habe schon vor einer Weile einmal Christian Schüle aus einem Beitrag für die Zeit zitiert:

Langeweile ist eine Erfindung der Beschleunigungsgesellschaft, deren Mitglieder fürchten, zu sich selbst kommen zu müssen und Leere zu finden.

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Adieu Alpha

Nach über 16 Jahren geht das Kapitel Alpha für mich am 31. Juli nun endgültig zu Ende. Die letzten drei Jahre lief es aus verschiedenen Gründen ohnehin eher auf Sparflamme: Engpässe bei den Ressourcen des Vereins, Sackgassen in unserem Schlüsselprojekt. Licht und Schatten wechselten sich also immer wieder ab. Nun freue ich mich auf Platz im Kalender für andere Aufgaben und alles, was an Begegnungen und Lernerfahrungen damit einhergeht. Im Augenblick wird das Erlanger Büro noch abgewickelt, und so ist es auch ein Moment des Rückblicks.

An einem Sonntag im März 1994 saßen Martina und ich bei Gumbels am Küchentisch. Zuvor hatten wir den Gottesdienst von HTB besucht und Nicky hatte uns mit seinem klapprigen Peugeot nach Clapham chauffiert. Ich stellte die naive Frage, ob er sich vorstellen könne, Alpha mal auf einer Gemeindefreizeit vorzustellen. Es wurde etwas größer: Im März 1996 kamen zu zwei Konferenzen binnen einer Woche fast 600 Leute, und danach fingen überall im Land Kurse an. Inzwischen gibt es schon Bischöfe mit Alpha-Erfahrung in Deutschland.

Irgendwie bliebt die Sache an mir kleben, wir gründeten einen kleinen Verein und richteten ein Büro ein, Alpha Deutschland war geboren aus einem Häuflein von Idealisten und Netzwerkern. Und die Sache wuchs munter vor sich hin, über die Grenzen von Konfessionen und unterschiedlichen Prägungen hinweg begegneten sich Christen, die gastfreundlich auf andere Menschen zugingen, um sie behutsam mit hineinzunehmen in das, was sie selbst mit Gott erlebten.

Ich fange mal mit dem Licht an. Drei Aspekte finde ich nach wie vor besonders faszinierend an Alpha:

  • Da ist erstens die schon erwähnte große Gastfreundschaft, die verhindert, dass dieser Glaubenskurs einen belehrend-informativen Volkshochschulcharakter bekommt. Stattdessen sitzen erst einmal alle um einen Tisch plaudern über alles mögliche und begegnen sich darin als Menschen. Die Verbindung, die dabei entsteht, hält auch die zum Teil erheblichen Differenzen in Glaubensfragen aus, die im Laufe des Kurses thematisiert werden. Und Gäste bleiben Gäste, daher bleibt der Umgang respektvoll, wenn es in die Diskussion geht. Wenn es ein „Geheimnis“ von Alpha gibt, eine Art pädagogischen Kniff, dann ist es diese Grundhaltung. Inzwischen haben viele andere Kurskonzepte dieses Element übernommen.
  • Zweitens die gelebte Ökumene: das ist offenbar einfacher mit den Vertretern unterschiedlicher Konfessionen, die sich nicht aufs dogmatische Rechthaben konzentrieren, sondern darauf, das Evangelium denen nahe zu bringen, die mit ihm noch nicht oder schon lange nicht mehr in Berührung gekommen sind. Bei den internationalen Treffen in London traf ich vom koptischen Bischof bis zum Pfingstler und vom Vineyardmenschen bis zur katholischen Ordensfrau die ganze Bandbreite der christlichen Kirchen und Gemeinschaften aus über 160 Ländern der Welt – alle fröhlich beieinander in der neugotischen Kirche bei Harrods um die Ecke zum Stehempfang, Kirchenpicknick, Erfahrungsaustausch und Gottesdienst. In Deutschland bildet sich das wunderbar ab in der Vielfalt der Alpha-BeraterInnen, die mit viel Herzblut dieses erstaunliche Netzwerk getragen und ausgebaut haben.
  • Drittens ist es zumindest in Ansätzen gelungen, hier verschiedene Strömungen in eine befruchtende Verbindung zu bringen: Die Tradition und gesellschaftliche Offenheit der anglikanischen Kirche, das Wochenende als Element des pfingstlich-charismatischen Christentums (global, auch wenn das in Deutschland manch einer gar nicht gern hört, die vitalste religiöse Bewegung überhaupt), die besonnene evangelikale Apologetik von C.S. Lewis und John Stott und, zumindest in Ansätzen, ein Herz für Arme, das zwar noch keine Sozialkritik á la Sojourners abwirft, aber immerhin etliche karitative Projekte und einen Beitrag zur Resozialisierung Strafentlassener.
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Der Hunger bringt den Geschmack

Ich habe Brennende Gegenwart weitergelesen: Bei den Straßenexerzitien geht es darum, Kontakt aufzunehmen mit der eigenen Sehnsucht. Sie enthält grundlegende Wahrheiten über mich selbst, aber sie wird immer wieder von anderen Dingen übertönt. Ärger, Traurigkeit oder Angst können mi die Richtung anzeigen, in der ich suchen muss. Aber auch spontane Anflüge von Freude.

Den Zugang zum Leben finden wir aber häufig in der Auseinandersetzung mit existenziellem Schmerz. So ging es der ausgeschlossenen Hagar oder Mose, der in der Fremde gestrandet war. Und das dreimalige „Nein“ Jesu in der Versuchungsgeschichte zu materieller Versorgung, sicherer Gewissheit und machtvollem Schutz kann man als ein vertrauensvolles Ja zum Leben in der Schöpfung lesen.

All das gehört zur Etappe der Fundamentsuche, der Frage nach dem eigenen Hunger, der in eine kindliche Haltung von Abhängigkeit und Erwartung führt. Am Ende dieses Abschnitts schreibt Herwartz:

Wahrnehmen des Lebens um und in uns setzt das Schweigen der eigenen schnellen Bewertungen voraus. Wir werden langsamer und finden Freude am Verkosten der Ereignisse; wir wollen ihnen nachspüren, sie ergründen.

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„Beten mit offenen Augen“

Ganz frisch liegt auf meinem Schreibtisch das kleine Buch Brennende Gegenwart von Christian Herwartz. Der Autor ist Jesuit und gehört zu den „Ordensleuten gegen Ausgrenzung“. Seit einigen Jahren bietet er Straßenexerzitien an und er bloggt unter dem Titel nackte Sohlen.

In der Einleitung beschreibt er kurz das Grundanliegen der Straßenexerzitien. Man verbringt als Gruppe Zeit in einer Stadt, bekommt dabei Begleitung und Anleitung, ist tagsüber auf den Straßen unterwegs und trifft sich dann gegen Abend zum Gottesdienst und Austausch. Es geht vor allem um die Begegnung mit Gott:

Das aufmerksame Wahrnehmen lässt sich nicht organisieren. Aber es wird durch Freiräume ohne Handlungsdruck ermöglicht. Sie sind nicht automatisch da. Absprachen sollen sie ermöglichen, damit wir still und staunend sein können.

… Überraschend begegnet uns Gott durch einen menschen, ein Zeichen oder eine spontane Freude in uns selbst. er braucht keine Bedingung, um uns zu finden. Jeder Vergleich eines besseren oder schlechteren Weges zu ihm ist lächerlich. Gott kommt auf uns zu, und wenn er bei uns eine geöffnete Tür findet, dann tritt er mit seinem Frieden identitätsstiftend ein. Jeder Ort, an dem wir ihn empfangen dürfen, wird uns heilig sein.

Herwartz orientiert sich – was mich besonders freut, nachdem ich das Kapitel seit mehr als einem Jahr immer wieder lese – dabei an Jesu Anweisungen aus Lukas 10, die er für den Kontext der Exerzitien neu auslegt: Kein Geld (sprich: Sicherheiten), kein Beutel (mit Vorräten für alle Eventualitäten), keine Schuhe (eine Haltung der Friedfertigkeit), keine Einengung durch umständliche Etikette (das tut „man“, das tut „man“ nicht). Die Exerzitien sind „Einladungen zu einer vorurteilsfreien Haltung“, zur inneren Freiheit, neuen Lebensimpulsen zu folgen.

Meine Neugier ist geweckt. In den nächsten Tagen werde ich davon schreiben, wie es weitergeht.

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Sehr bemerkenswert

Da habe ich gestern noch auf ein paar Sätze von Kardinal Woelki zur Sexualethik hingewiesen, und nun lese ich überrascht, dass in den USA kein geringerer als Alan Chambers, Präsident von Exodus International, offenbar schwer am Umdenken ist, was seine bisherige Position zur Therapierbarkeit homosexueller Orientierung angeht. Er distanziert sich von dem Konzept der „reparative therapy“.

Die New York Times hat das Thema aufgegriffen. Dort wird auch erwähnt, dass sich Chambers Rücktrittsforderungen ausgesetzt sieht, weil er nicht bestreitet, dass Homosexuelle „in den Himmel kommen“. Chambers wiederholt diesen inklusiven Standpunkt in einem TV-Interview, das auch auf Chambers‘ Blog zu sehen ist. Vielleicht ist diese Aussage auf lange Sicht noch wichtiger. Ganz ausführlich kommt Chambers in The Atlantic zu Wort. Er vertritt immer noch (wie Woelki) eine relativ konservative Theologie, aber in einem sehr moderaten Tonfall, der dieser sehr gereizten Debatte definitiv gut tut.

Der Vorstand von Exodus International soll außerdem beschlossen haben, sich jeglicher Kriminalisierung von Homosexualität zu widersetzen. Den breiteren Hintergrund der Entwicklung in den USA beleuchtet aktuell dieser Artikel in der Zeit.

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Bemerkenswert

Die Zeit zitiert Kardinal Woelki mit der für offizielle katholische Verhältnisse doch bemerkenswerten Aussage:

»Ich halte es für vorstellbar, dass dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, wo sie in einer dauerhaften homosexuellen Beziehung leben, dass das in ähnlicher Weise zu heterosexuellen Partnerschaften anzusehen ist.«

Woelki bestätigt das Zitat im Interview, bekräftigt zugleich das Bekenntnis der römischen Kirche zu Ehe und Familie, und sagt außerdem:

»Man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen«, heißt es im Katechismus über Menschen, die homosexuell veranlagt sind. Wenn ich das ernst nehme, darf ich in homosexuellen Beziehungen nicht ausschließlich den »Verstoß gegen das natürliche Gesetz« sehen, wie es der Katechismus formuliert. Ich versuche auch wahrzunehmen, dass da Menschen dauerhaft füreinander Verantwortung übernehmen, sich Treue versprochen haben und füreinander sorgen wollen, auch wenn ich einen solchen Lebensentwurf nicht teilen kann.

Bemerkenswert ist das insofern, als Woelki nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt stellt. Ist das nur freundliche Rhetorik dessen, der weiß, dass sich an der offiziellen Position ohnehin nichts ändern wird, ist das eine Einzelstimme, oder deutet sich da tatsächlich eine gewisse Offenheit an?

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Die Gottesfrage

Die Frage nach Gott ist keine Frage nach allen Dingen, sondern eine Frage aller Dinge; keine Untersuchung des Unbekannten, sondern eine Untersuchung dessen, wofür alle Dinge stehen; eine Frage, die wir für alle Dinge stellen. Man formuliert sie nicht in Kategorien des Verstandes, sondern in Taten, in denen wir über alle Worte hinaus rege sind. Der Verstand weiß nicht, wie er sie formulieren soll, aber die Seele seuzft sie, singt sie, fleht sie.

Abraham Heschel, Man is not Alone

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Es lebe die Philosophie!

In den USA hat das republikanische Wunderkind Jonathan Krohn verlauten lassen, er werde vermutlich für Obama stimmen. Der Junge ist 17 und hat im zarten Alter von 13 durch sein Buch Defining Conservatism auf sich aufmerksam gemacht. Die SZ berichtet Erstaunliches über die Hintergründe. Hier geht es, wie die SZ berichtet, nicht etwa um konservative Peinlichkeiten wie Mitt Romneys unversteuertes Auslandsvermögen in dreistelliger Millionenhöhe, sondern

Schuld am Sinneswandel des 17-Jährigen sind laut Krohn deutsche Philosophen wie Nietzsche, Wittgenstein und Kant, nach deren Lektüre er dem Konservatismus den Rücken kehrte.

Mit Bildung und deutschen Denkern aus der Krise, das lässt den schaurigen Rechtsruck der US-Konservativen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ob die Köpfe der Teaparty ausgebuffte Zyniker sind oder echte Ignoranten, spielt vielleicht eine nebensächliche Rolle. Punkten können sie nur, weil viel zu viele Menschen viel zu wenig nachdenken und das auch nie richtig gelernt haben. Kein Wunder, dass diese Politiker gar kein Interesse daran haben, Bildung zu verbessern: Die Einschaltquoten von Fox News könnten leiden.

Also, Leute, holt den Kant wieder aus dem Regal. Das Sapere Aude hat auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

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