Krokodilstränen

Es war nicht das erste Mal: Herr A. hatte eine Entscheidung getroffen, die ihm selbst Vorteile verschaffte, jedoch für Frau B. unangenehme Konsequenzen hatte; er hatte dabei großzügig darauf verzichtet, sie zu informieren, geschweige denn einzubinden. Als er sich mit ihren – moderaten, aber engagierten – Protesten und Unmutsbezeugungen konfrontiert sah, kehrte er erst seinen höheren Rang heraus, um kurz darauf eine halbherzige Entschuldigung nachzuschieben – dafür, dass die Form vielleicht nicht so ganz vollendet gewesen war.

Es tue ihm leid, hieß es in bestem Günther-Oettinger-Gedächtnis-Sprech, wenn sich andere von seinem Vorgehen verletzt fühlten. Aber um der gemeinsamen Sache willen müsse man nun doch bitte wieder nach vorne schauen und friedlich zusammenarbeiten. Ein Termin wurde für eine Aussprache anberaumt. Die Differenzen wurden besprochen. Frau B. musste verreisen, daher fertigte Herr A. ein für ihn ebenso stimmiges wie schmeichelhaftes Gedächtnisprotokoll an, dass er – die Zeit drängte ja – ohne Rücksprache an die gemeinsamen Vorgesetzten versandte. Frau B. widersprach Tage später der einseitigen Darstellung, doch ihr Einspruch verhallte weitgehend ungehört. Der oberste Chef sandte eine Mail in die Runde, dass man sich angesichts großer Chancen auf dem Markt im Augenblick nun wirklich keinen solchen Streit leisten könne, wie Frau B ihn gerade anzettele.

Frau B. zog die Konsequenz und kündigte. Herr A. bedauerte, dass jemand offenbar persönliche Empfindsamkeiten über das gemeinsame Projekt zu stellen bereit war. Der oberste Chef wies alle Beteiligten an, eine gemeinsame Erklärung zum Wechsel in der Abteilung zu verfassen. Herr A. und der Chef brachten sie zu Papier und Frau B. erfuhr aus der Hauspost davon. Frau B. monierte, Herr A. entschuldigte sich – wieder mal.

Als ich Frau B. so zuhörte, dachte ich: Mich erinnert das an den prügelnden Ehemann, der nach der Tat verkatert und zerknirscht auf seine Frau einredet, ihn nicht zu verlassen oder anzuzeigen. Beide wissen jedoch genau, dass er irgendwann wieder einen über den Durst trinkt und wieder ausrastet. Wenn „Vergebung“ nicht nur ein Deckmäntelchen sein soll, unter dem die alten hässlichen Muster von Machtmissbrauch fortbestehen können, dann muss man so wie Frau B. handeln und die Konsequenzen ziehen – und sich aus dem Machtbereich dessen lösen, der zu keiner konstruktiven Veränderung willens ist.

Denn vor (!!) der Aufforderung, siebzig mal siebenmal zu vergeben, steht in Matthäus 18 die Anweisung, andere für ihr Fehlverhalten zur Rede zu stellen und notfalls den Personenkreis zu erweitern, wenn der Konflikt nicht gelöst wird. Im schlimmsten Fall bricht man den Kontakt dann sogar ab. Das ist keine Anleitung zum frommen Mobbing und moralischem Pranger, sondern es sind sinnvolle Maßnahmen zum Schutz von Opfern vor übergriffigem Verhalten. Im besten Fall wird Versöhnung zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Bei Frau B. wird sich Herr A. nun nicht mehr entschuldigen müssen. Das hat sie fürsorglich so eingerichtet. Ob er ihr dafür eines Tages danken wird?

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