Hinkende und tanzende Brüder

Schon vor einer Weile erschien dieser Aufsatz von Peter Zimmerling über den Grafen Zinzendorf und sein Verhältnis zum Pietismus. Zinzendorf war ja in Halle erzogen worden, wo Francke das Bekehrungserlebnis und den „Bußkampf“ zum primären Kriterium wahren Christseins erhoben hatte. Zinzendorf lehnte das ab und orientierte sich dabei an Luther: Der Zwang zu Vergewisserung in Heilsfragen anhand des Ausmaßes eigenen, individuellen Sündenbewusstseins führt in die falsche Richtung. Zimmerling zitiert:

Nämlich eines genuinen [=echten] Pietisten Sache ist, sein Elend und Verderben zu figieren [= vorzustellen] bis ans Ende seines Lebens, und nur zum Trost auf die Seite des Heilands [= die Seitenwunde Jesu, d.h. die durch ihn vollbrachte Erlösung] zu schielen, unser Prinzipium aber ist, auf die Seite das Auge unverwandt zu figieren und mit Leib und Seele dahinein zu fahren, aber auf die Sünde und das Elend nur zuweilen und zur Beugung und Moderation [=Mäßigung] der Freude zu schielen […]. Ein solcher [Pietist] ist ein hinkender Bruder, der eben den Weg hinkt, den wir [Herrnhuter] tanzen.

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Meer Leidenschaft – muss das sein?

Am Ufer des Zürichsees treffe ich auf einen Strandkorb aus Sylt, auf dem ein Slogan prangt, der irgendwas von Meer Leidenschaft verheißt. Der Begriff „Leidenschaft“ ist ja inzwischen nicht mehr so ganz originell in der Werbung. Es scheint ein gefühltes Leidenschaftsdefizit zu geben, und mit der Aussicht auf Leidenschaft lässt sich scheinbar alles mögliche verkaufen. Freilich bleibt die Frage, wie lange eine von außen induzierte, gekaufte Passion denn hält.

Stimmt die Analyse – sind wir tatsächlich so leidenschaftslos? Und wenn ja, was hat es mit der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft zu tun und ihren tausendfachen Zerstreuungen? Oder ist auch „Leidenschaft“ (wie schon „Authentizität“) so ein überbewertetes Verkäufer-Schlagwort geworden, das irgendwie noch an ein paar vage Restsehnsüchte anderweitig übersättigter Menschen appellieren soll? Ist sie denn gezielt herstellbar oder wie Glück eher eine Begleiterscheinung, ein Abfallprodukt ganz anderer Dinge und Tätigkeiten? Kann sie überhaupt ein Ziel sein, oder er-folgt sie nur dann, wenn man es nicht auf sie abgesehen hat? Ist die Forderung nach mehr Leidenschaft vielleicht ähnlich absurd wie das beliebte „sei doch mal spontan?“

Um Ostern herum habe ich eine Diskussion verfolgt, die in eine ähnliche Richtung lief: Warum feiern Christen Ostern nicht ausgelassener, fröhlicher, begeisterter – eben: leidenschaftlicher? Jemand verglich das Ganze mit dem Jubel beim Gewinn der Fußball-WM. Zustimmung rundherum wurde geäußert. Also nicht nur spontane, sondern spontan öffentlich inszenierte Leidenschaft ist das Ziel der Übung. Stille Freude ist deswegen schon so unbefriedigend, weil sie nicht demonstrativ genug ist. Alle müssen es sehen.

Kann man je leidenschaftlich genug sein? Die Selbstbezichtigung fehlender Leidenschaft kommt mir wie ein integrierter evangelikaler Bußreflex vor – eine spätmoderne Variante der mittelalterlichen Selbstgeißelungen. Wer diesen nie-genug-Knopf drückt, erzielt immer Wirkung. Das mag mit dem Selbstbild und dem eigenen Anspruch zu tun haben: Unter viele lauen Christen sind „wir“ nicht nur die besonders engagierten, sondern auch die, die Gott am leidenschaftlichsten lieben. Freilich schwankt der Grad der Leidenschaft im wirklichen Leben, also muss immer nachjustiert werden. Niemand wagt zu sagen, dass es jetzt genug ist. Denn so fängt das Lausein bekanntlich an, das Gott so zuwider ist.

Das kann dann schon Blüten treiben (und in Stress ausarten): In der Diskussion um den Osterjubel habe ich mich gefragt, zu welcher Begeisterung selbst der glühendste Fußballfan (wenn das jetzt die neue Norm ist…) fähig wäre, wenn sein Club vor 2.000 Jahren die Champions League gewonnen hätte. Viel von diesem spontanen Jubel liegt ja an der Ungewissheit im Vorfeld und der Spannung, die sich im Augenblick des Sieges entlädt (hatten wir ja diese Woche erst…). Das aber ist eben nicht beliebig reproduzierbar.

Dass wir nach knapp 2.000 Jahren noch Ostern feiern, obwohl wir nicht mehr mitfiebern müssen, ob Jesus auch dieses Jahr wieder auferstehen wird (und uns sein Tod auch nicht mehr in abgrundtiefe Verzweiflung stürzt jeden Karfreitag), ist doch vielleicht auch schon eine ganze Menge? Soll man die zarte Freude über Gottes große Taten immer dadurch gleich wieder abwürgen, dass man pflichtschuldig darüber klagt, sie mit dem eigenen Gefühl nicht einholen zu können? Lenkt das Schielen auf den emotionalen Puls, mithin auf uns selbst, nicht davon ab. das Fest unbeschwert zu feiern und uns selbst endlich mal nicht so wichtig zu nehmen? Aber wäre nicht das der Punkt, an dem Freude wieder „spontan“ entstehen kann, weil wir – endlich einmal! – unter keinem Erwartungsdruck und unter keiner Beobachtung mehr stehen?

Ein konstruktiver Gedanke kam mir dann doch noch zu Ostern. Wenn schon der Fußball das Maß der Dinge ist, warum nicht mal einen Autokorso am Ostersonntag in aller Herrgottsfrühe – hupend und fahnenschwenkend ein paar Stunden durch die Stadt rasen? Ganz authentisch und ganz öffentlich und – da bin ich mir ganz sicher – es wird sehr, sehr leidenschaftliche Reaktionen hervorrufen.

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Den Glauben der Armen ernst nehmen

Stefan Silber beschreibt in Mission und Prophetie in Zeiten der Interkulturalität, wie eine Theologie der Religionen durch die Perspektive der Armen aus der Befreiungstheologie berührt und verändert wird. Dabei lehnt er eine universalistische Vereinnahmung aller Religionen (etwa bei John Hick) ab, weil diese nicht mehr zwischen Gott und Götzen unterscheiden kann und daher auch das zweifellos vorhandene Unheil, das konkrete Religionen auch bewirken können, nicht richtig in den Blick nimmt. Das geht bestenfalls in den Studierstuben westlicher Intellektueller auf, aber nicht im globale Süden. Silber plädiert für einen anderen Ansatz:

Die Armen sind religiös. Dies gilt für die große Mehrheit der Armen im globalen Maßstab im Unterschied zu den meist säkularisierten Armen Europas. Die Armen verstehen sich vielfach sogar zuerst als religiöse, und dann erst als arme Menschen. Aufgrund des Kontextes der Armut leben sie ihre Religiosität in aller Regel in Differenz zu den Entwürfen ihrer religiösen Autoritäten und nicht selten in mehreren Systemen zugleich.

Aus der Perspektive der Armen sind diese religiösen Ausdrucksformen nicht als defizitäre oder verderbte Praxisformen einer Hochreligion zu verurteilen. Sie sind kreative Antworten auf die Offenbarungen Gottes, die ihnen in einer konkreten Situation von Unterdrückung und Gewalt mitten im Pluralismus der Regionen zuteil geworden sind. Ihre Pluralität und oft auch ihre Ambivalenz schuldet sich dem Kontext der Armut, aus dem sie erwachsen. Eine Theologie, die aus der Option für die Armen einen epistemologischen Vorrang dieses Kontextes ableitet, wird diese Pluralität nicht abwerten, sondern als eine Herausforderung betrachten, in ihr die Wege Gottes aufzuspüren. Die Religionen der Armen werden daher in der Theologie der Befreiung gerade auch in ihrer Pluralität anerkannt, nicht weil hinter allen Religionen derselbe Gott vermutet würde, sondern weil der plurale Kontext der Armut der bevorzugte Ort der Offenbarung Gottes ist.

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Vergebung, Erlösung und viele Fragen

Bestimmte Varianten christlicher Versöhnungstheorien wirken bisweilen so, als beherzige Gott selbst die Aufforderung aus der Bergpredigt, die Rechte dürfe nicht wissen, was die Linke tut. Etwa in der Art, wie die Begriffe „Vergebung“ und „Erlösung“ aufeinander bezogen werden.

Vergebung bedeutet, jemand bekommt seine Schuld(en) erlassen: Ein Gläubiger verzichtet auf seine Forderungen, ein Geschädigter auf Genugtuung oder Vergeltung. Es handelt sich um eine juristische Metapher.

Erlösung bedeutet, dass eine Transaktion stattfindet, durch die jemand aus einer Zwangslage freikommt: Ein Gefangenenaustausch etwa oder ein Lösegeld. Hier haben wir es mit einem Bild aus der Ökonomie, wenngleich der zweifelhaften Sorte, zu tun.

Hier und da höre und lese ich, dass Gott erst vergeben konnte, nachdem Jesus sich „geopfert“ hatte – oder so ähnlich. Wenn das so ist, dann ist Vergebung streng genommen keine Vergebung, sondern der Sohn zahlt dem Vater das Lösegeld (und jeder Akt der Vergebung vor dem Kreuzestod Christi wäre eine Art vorlaufender Abbuchung von diesem imaginären „Konto“ gewesen). Damit aber landet der Vater in der Rolle des Sklavenhalters, Gefängnisdirektors oder gar Kidnappers, und das ist im Neuen Testament nun nirgends so dargestellt. Wenn Zwang und Gefangenschaft, dann durch andere Mächte.

Man muss das Verhältnis also anders bestimmen, um nicht bei einem Gott zu landen, der sich mit der einen Hand – bildlich gesprochen – das Geld selbst in die Tasche steckt, das er mit der anderen dem Schuldner schenkt oder – anders gesagt – in einen unerbittlich fordernden und einen großzügig schenkenden Teil zerfällt.

Um dem zu entgehen, kann man nun zwei Dinge tun. Entweder fragt man, worin die Gemeinsamkeit beider Vorstellungen liegt, da wird ja bildlich gesprochen. Oder man sucht ein übergreifendes Bild, in das sich beide irgendwie einfügen lassen. Letztes könnte zum Beispiel die Versöhnung sein: Gott überwindet von sich aus die Feindschaft und Entfremdung der Menschheit. Ebenso kann man sagen, dass die „Schnittmenge“ von Vergebung und Erlösung in einer gewissen Asymmetrie liegt (Gott hat den aktiven Part), dass es um einen Akt großzügiger Hingabe geht (ob er nun auf eine „Nachforderung“ verzichtet oder einen „Freikauf“ tätigt), und damit ein Neubeginn frei von Altlasten möglich wird.

Das Bild von Gott, das dabei entsteht, finde ich stimmiger als die Vorstellung des Nacheinanders von Erlösung/Vergebung (bei dem letztlich der Begriff Vergebung ausgehöhlt wird) oder die problematische Rollenteilung zwischen den trinitarischen Personen. Und man kommt ein Stück weg von Metaphern, die allzu eng an Juristerei und Ökonomie angelehnt sind.

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Alarmierende Beruhigung

Es gibt Situationen, wo Dementis genau der falsche Schritt sind und eher das Gegenteil dessen bewirken, was vordergründig gesagt wird. Vor allem ungefragte Dementis sorgen eher für Unruhe als sie zur Beruhigung beitragen. Etwa wenn ein Fußballclub am Tabellenende erklärt, der Vorstand stehe voll und ganz zum Trainer – dann ist das in der Regel Alarmstufe rot.

Neulich ging es mir so mit der Website einer christlichen Gemeinde. Dort stand unter anderem, dass die Gemeinde nicht der Besitz des Leitungsgremiums sei. Das ist natürlich richtig. Nur fragt sich der unbedarfte Leser, warum man das an dieser Stelle extra betonen musste. Ist doch selbst verständlich… – oder etwa nicht???

Solche Einsichten (mag sein, dass die in diesem Fall noch relativ jung war) im Blick auf Führungskonzepte gilt es natürlich zu beherzigen. Wo und wie man sie öffentlich kundtut, muss man sich aber auch gut überlegen.

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Die Weisheit nicht gepachtet

In den Kulturen Asiens hat das Christentum einen anderen Stand als in vielen anderen Teilen der Welt. Die katholischen Bischöfe tragen dem Rechnung, indem sie ihr Verständnis von Kirche auf das Reich Gottes ausrichten, beziehungsweise es diesem ausdrücklich unterordnen. Das bedeutet auch einen anderen Zugang zu einer religiös pluralistischen Gesellschaft, den viele Europäer und Amerikaner mühsam lernen müssen. Das zeigt sich an ihrer Haltung zum Dialog, in dem man sich behutsam zurücknimmt, ohne jedoch seine Botschaft aufzugeben:

Sobald man das Verhältnis zwischen Christentum und anderen Religionen nicht mehr als Gegenwart/Abwesenheit oder überlegen/unterlegen oder ganz/teilweise versteht, wird Dialog zu dem Kontext, in dem Verkündigung stattfinden muss. Denn selbst wenn man die gute Nachricht mit Zuversicht verkündet, sollte man das mit großem Respekt vor Gott tun, der handelt, und der Freiheit des anderen, der antwortet, und den eigenen Begrenzungen der Kirche als Zeugin. (Michael Amaladoss, Making All Things New, New York 1990, 59)

Nach Peter C. Phan bedeutet Dialog in den Kirchen Asiens nicht nur intellektuellen Austausch von Argumenten, sondern

  • einen Dialog des Lebens, wo man Freude und Leid miteinander teilt
  • einen Dialog das Handelns, wo Christen mit anderen daran arbeiten, dass Menschen sich entfalten können
  • einen theologischen Austausch, wo man einander das religiöse Erbe erläutert und nach einem tieferen Verstehen sucht
  • einen Dialog über religiöse Erfahrung, wo man miteinander die geistlichen Reichtümer wie Gebet, Kontemplation und die Suche nach Gott teilt

Im Blick auf die „prophetische“ Rolle der Gemeinden Asiens hält Phan weiter fest:

  1. Kirche ist eine geschwisterliche Gemeinschaft von Gemeinschaften
  2. Sie entsteht aus der Erkenntnis, dass alle Glieder dieser Gemeinschaft fundamental gleichrangig sind. Institutionelle Macht muss daher kollegial ausgeübt werden. Nur so wird Kirche ihrem Auftrag gerecht.
  3. Sie ist eine partizipatorische Kirche, in der jeder etwas beiträgt. Ein pastoraler Primat ist darauf angelegt, die Teilhabe und Mitverantwortung aller zu stärken
  4. Auch nach außen hin wird Dialog mit den Kulturen, Religionen und Menschen Asiens zur entscheidenden Haltung
  5. Damit weist die Kirche prophetisch über sich hinaus auf das kommende Reich Gottes und wird zum Sauerteig der Transformation. Auf dieses Reich hin ist sie als Minderheit mit (nicht gegen und auch nicht anstelle von) allen anderen Menschen unterwegs.
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Voll im Flow

Gestern hatte ich endlich Zeit, den Dokumentarfilm Work Hard – Play Hard von Carmen Losmann zu sehen. Er zeigt den alltäglichen Wahnsinn der Büro- und Personaloptimierer – ob das nun Consultants sind, Architekten, Vertreter von Personalsoftware oder Teamtrainer in Kletterguten. Die FAZ schreibt im Feuilleton ganz treffend über frische Farben und Kaffeenischen:

Man soll sich wohl fühlen, ohne faul zu werden, konzentriert und effektiv arbeiten, aber dabei einen „Flow“ bekommen, weil man sich in diesem Zustand am besten selbst ausbeutet.

Dieser innere Zwang zu Selbstausbeutung, der durch all die Manipulationen des Arbeitsumfelds ausgelöst wird, kommt wirklich gut heraus. Ein Film, den man unbedingt sehen sollte. Nicht wegen des vordergründigen Enthüllungscharakters, er zeigt ja keine Geheimnisse, die verdeckt gefilmt werden mussten. Die Akteure treten sich ja freiwillig auf.

Dennoch wird hier ganz allmählich und leise sichtbar, dass in der Branche zwar viel vom Menschen geredet wird, aber immer nur der Profit gemeint ist. In der Einstiegssequenz über den Neubau von Unilever in Hamburgs Hafencity fordert der Boss in einer grandios uninspirierten Rede eine Verdoppelung des Umsatzes (oder war’s der Gewinn?). Und niemand fragt, ob der alle Tassen im Schrank hat.

Symptomatisch für diese Kombination aus Huxley und Orwell ist vielleicht die Szene, wo bei einem Teamtraining die Crew mit verbundenen Augen durch einen Tunnel robbt, um sinnlose Aufgaben zu erledigen, und der Chef mit den Trainern alles über den Monitor beobachtet und seine Rückschlüsse daraus zieht. Einen Orden für Mut und Ehrlichkeit verdient hat dagegen die Postangestellte, die (nach Einführung des LEAN-Programms) dem Teamleiter auf die Frage, wie der gestrige Tag so verlief, antwortet: „Gut – da war ich auch nicht hier.“

Vielleicht lag es an den Sachen, die ich in den letzten Tagen gelesen habe, aber als ich aus dem Filmhaus kam, habe ich mich gefragt: Hat schon jemand darüber nachgedacht, wie eine Befreiungstheologie für die Frondienstleistenden der schönen neuen Firmenwelt aussehen müsste? Ich muss vielleicht mal bei Walter Brueggemann nachlesen…

Frage zum Schluss: Kann man eigentlich Christ sein und Unternehmensberater? Und wenn ja, was bedeutet das ganz konkret für das Berufsethos? Oder wird man unweigerlich, auch mit den besten Vorsätzen, zum Komplizen derer, die auch noch das letzte Quäntchen Leistung aus ihren Leuten herauszupressen versuchen, weil man ein unmenschliches System stabilisiert, statt es zu bekämpfen?

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Nicht jede Hilfe hilft

Die Zeit hat neulich den Kenianer James Shikwati interviewt, der sich neben anderen ernsthaften Stimmen aus Afrika schon vor Jahren sehr kritisch zur Wirkung der Entwicklungshilfe in Afrika geäußert hat – und das auch weiter tut. Die (Hinter-)Gründe dafür erläutert er so:

Das Betriebssystem der afrikanischen Köpfe, die Software, ist korrumpiert worden durch die Entwicklungshilfe-Industrie, wie wir sie kennen. Zu denken, man lebe auf einem armen Kontinent, obwohl man natürliche Ressourcen hat, um die die reichen Länder kämpfen, ist ein Resultat dieser geistigen Korruption. Es ist die ganze Idee der Entwicklungshilfe, dass man sich hilfsbedürftig fühlt, obwohl man eigentlich alles hat, um selber mehr Einkommen zu generieren.

Die Kritik gilt aber auch den Regierenden in Afrika:

An den sogenannten Regierungen in Afrika. Wie wurden diese eingesetzt? Sind sie eine Fassade, die von den Kolonialherren vor ihrem Abzug etabliert wurde? In Wahrheit sind sie einfach eine Clique von Eliten, die den Interessen der reichen Länder dient und die die afrikanische Bevölkerung als ihre Gegner ansieht. Und die Entwicklungshilfe stützt diese Fassaden-Regierungen. Ein weiterer Punkt ist: Schauen Sie mal auf das globale Wirtschaftssystem. Afrika verschickt Rohstoffe – Erze, Kaffeebohnen – in die reiche Welt, wo dann die eigentlich profitable Weiterverarbeitung betrieben wird. Und von dieser riesigen Mehrwertschöpfung kriegen wir einen kleinen Teil als Entwicklungshilfe zurück.

Just diese Woche kamen zu diesem Thema wieder schlechte Nachrichten. Friedensnobelpreisträgerin Ellen Johnson Sirleaf wird Vetternwirtschaft vorgeworfen. Aber davon einmal abgesehen – welche Hilfen können und sollen Europäer denn tatsächlich sinnvollerweise leisten in Afrika? Trifft Shikwatis Kritik auch auf die Arbeit humanitärer und kirchlicher Organisationen zu (die oft nicht mit den Regierungen, sondern mit Partnern an der Basis arbeiten), wäre das also ein anderes Thema als staatliche Entwicklungshilfe? Oder erzeugt doch schon die Hilfe an sich ungesunde Abhängigkeit, jedenfalls in den Köpfen, so dass es zu dem Effekt kommt, den er im Interview beschreibt: Alle verlassen sich auf die Feuerwehr und deshalb fragt kaum jemand, warum es ständig brennt?

Leonardo Boff hat schon vor 25 Jahren den „Assistenzialismus“ als unzureichend kritisiert, weil mit vielen Hilfsaktionen (Essen, Kleider, Medikamente) zwar einzelnen Menschen geholfen wird, das Volk aber doch immer Objekt der Mildtätigkeit anderer bleibt. Ebenso reicht der „Reformismus“ nicht aus, der zwar den Fortschritt allgemein oft fördert, aber die gesellschaftlichen Strukturen nicht so verändert, dass alle, auch die Armen, vom Wachstum profitieren. Reich werden nur die Eliten.

Wie problematisch die Prämissen mancher gut gemeinter Aktionen sind (und wie fatal deren Folgen sein können), zeigt auch die aktuelle Diskussion über „Kony 2012“, zu der Julia Leininger – ebenfalls in der Zeit – heute schreibt:

Invisible Children pflegt dabei ein Afrikabild, das dem ganzen Kontinent schadet: Angesichts eines scheinbar unkontrollierbaren Chaos, ausgelöst von Individuen, die offensichtlich das Böse verkörpern, benötigt es eine von den Vereinigten Staaten angeführte militärische Kampagne, um diese grenzenlose Brutalität im „Herzen Afrikas“ zu stoppen.

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Das älteste Buch

Neulich hatten wir es ja vom besten (theologischen) Buch. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Eindeutiger ist diese Nachricht: Europas ältestes Buch ist in den Besitz der britischen Nationalbibliothek übergegangen. Es ist das St. Cuthbert Gospel aus dem siebten Jahrhundert, eine Abschrift des Johannesevangeliums, und wurde 698 in den Sarkophag des Heiligen gepackt.

Abgeschrieben wurde es wohl im Skriptorium von Monkwearmouth-Jarrow und dem Heiligen posthum „zugesteckt“.

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Menschen sind die Worte

Vor einiger Zeit habe ich hier ein paar Gedanken zu narrativer Theologie gepostet. Das hat mit einem Verständnis von Offenbarung Gottes zu tun, dem nach Hans Waldenfels auch das Zweite Vatikanische Konzil folgt, das sich weg von einem „intruktionstheoretischen“ hin zu einem „personal qualifizierten kommunikationstheoretischen“ Ansatz bewegt:

Danach besteht Offenbarung nicht primär in einer neuen Form von Wissensvermittlung; sie ereignet sich vielmehr in einer interpersonalen Begegnung zwischen Gott und den Menschen, die sich in der Geschichte der Menschen abspielt. Edward Schillebeeckx beginnt sein Buch Menschen mit den anrührenden Sätzen »Ein kleiner Junge soll einmal gesagt haben: ‚Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichte erzählt.’« (Mission und Prophetie, in: Delgado/Sievernich, Mission und Prophetie in Zeiten der Interkulturalität, St. Ottilien 2011)

Wenn Offenbarung aber nicht bloß Information und Instruktion ist (und das ist sie leider, wenn man sich umsieht, noch viel zu oft!), sondern lebendige Begegnung, dann spielt auch der Kontext eine entscheidende Rolle für ihr Zustandekommen. Dann lassen sich Inhalt und Form nicht mehr trennen, sie gehören zusammen: Das worthafte „Zeugnis“ kann nicht vom Lebenszeugnis der Christen getrennt werden. Aber zum Zeugnishaften tritt für Waldenfels noch das Prophetische:

In seiner Vollgestalt ist der Prophet religiös eine von Gott inspirierte und gesellschaftlich inspirierend wirkende Persönlichkeit. So haben die Propheten des alten Israel bis in die Zeit Jesu gewirkt. Danach ersetzten Zeugen die Propheten, indem sie nicht mehr aus einer neuen Inspiration heraus Zeugnis gaben; sie sprachen aufgrund ihrer Rückbindung an den Ursprung und an die inspirierten Bücher der Heiligen Schrift. Wer dagegen als Prophet mit dem Anspruch einer neuen »Inspiration« auftrat, wurde bald als »falscher Prophet« verurteilt. Dennoch hat die Kirche nicht verhindern können, dass immer wieder Menschen auftraten, die auch die Botschaft Jesu aufgrund von innerer Eingebung »inspirierend« und oft auch gegen Widerstände der Kirchenleitung für Kirche und Öffentlichkeit auslegten und verkündeten.

[…] Es geht um die Mündigkeit des Laien, um den Wandel der Kirche von einer (nur) lehrenden zu einer (immer auch) lernenden Kirche, einer Kirche, die sich weniger abgrenzt von der Welt, sondern offen ist für die Menschen in aller Welt.

Waldenfels schließt mit dem Hinweis, Exodus und Befreiung seien heute die Leitmotive einer Theologie und Praxis, in der das prophetische Moment erwacht ist, und die an gesellschaftlichen Aufbrüchen nicht nur in Lateinamerika mitwirkt. Bleibende Aufgabe der Theologie ist es dabei, den Austausch mit anderen Disziplinen zu suchen, um eine neue prophetische Sprache zu finden für unsere Zeit.

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Vom Nicht-Menschen zum neuen Menschen

Nächste Woche unterrichte ich wieder Kirchengeschichte. Für meinen Geschmack kommt das 20. Jahrhundert in den Lehrbüchern viel zu kurz. Meist werden die ökumenische Bewegung und der Kirchenkampf ausführlich beschrieben, der Rest spielt eine untergeordnete Rolle. Dazu gehören die Entstehung der Pfingstbewegung und auch die Theologie der Befreiung. Beides hat in Deutschland keine große Rolle gespielt, wohl aber im Rest der Welt. Im Jahrhundert der Globalisierung darf es daher nicht unter den Tische fallen. Um diese Lücken zu schließen, lese ich gerade ein paar Sachen quer und stoße dabei auf sympathische Gedanken:

Das Evangelium wendet sich nicht allein an den modernen und kritischen Menschen, sondern hautsächlich an den „Nicht-Menschen“, das heißt an jenen, dem die Würde und fundamentalen Rechte verweigert werden. Daraus erwächst eine prophetische und solidarische Reflexion, die darauf abzielt, aus dem „Nicht-Menschen“ einen vollen Menschen und aus dem vollen Menschen einen neuen Menschen zu machen – gemäß dem Projekt des „novissimus Adam“, des neuen Adam in Jesus Christus

Leonardo und Clovodis Boff, Wie treibt man Theologie der Befreiung?, S. 18

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Bewegter Rückblick

Ereignisreiche Osterferien liegen hinter mir. Feiertage, Gemeindefreizeit,wenig Leerlauf also. Das Highlight war Gott im Berg. Zumal in visueller Hinsicht. Für alle, die nicht dabei sein konnten, oder sich gern nochmal erinnern, hier ein kleiner Clip:

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… und dann macht es leise „plopp“

Bei Menschen ist das Altern zwangsläufig, bei Organisationen nicht. Ein pointiertes Zitat aus Kirchenvisionen von Paul M. Zulehner:

… das Altwerden einer Organisation [setzt] just dann ein, wenn die Kraft der Vision nachlässt. Es ist […] eine beliebte Zeit für Jubiläen. Die jubilierenden Gemeinschaften der Kirche schauen (wie Ehepaare, Ordensleute, Priester, Vereine) zurück und freuen sich über die Kraft des Anfangs und was daraus geworden ist.

Nach den Visionen werden die Programme alt, wenn sie nicht rechtzeitig aktualisiert werden. Was bleibt, ist eine gut verwaltete, selbstzufriedene, aber zugleich alternde Gemeinschaft. Geht auch die Gemeinschaft verloren, regiert nur noch die Administration mit ihrer Lust an visionsarmen Strukturen. Es geht dann oft nur noch um Geld, kaum noch um Gott. Eine sterbende Kirchengestalt wird erfolgreich verwaltet. Ihr Ende: der organisatorische Tod nach einer schleichenden, lautlosen Implosion.

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Allah (8): Ist mit monotheistischen Religionen ein Staat zu machen?

Toby Faix hat mich jüngst daran erinnert, dass meine Besprechung von Allah. A Christian Response noch der Vollendung harrt. Also, packen wir es an!

Viele religiöse Konflikte sind durch die Globalisierung entstanden oder doch verschärft worden, schreibt Miroslav Volf im Kapitel 12 von Allah. Und er geht der Frage nach, ob Menschen, die exklusiven Religionen angehören (also durchaus konkurrierende Wahrheitsansprüche erheben) friedlich in einem Staat zusammenleben können.

Monotheismus, sagt Volf mit dem Ägyptologen Jan Assmann, ist nicht einfach die Vorstellung eines höchsten Gottes, sondern des einen wahren Gottes, dem gegenüber alle anderen Götter falsche Götter sind, bloße Götzen also und Gegenstand des Aberglaubens sind. Monotheismus war von Anfang an aber auch mit einer politischen Vision verbunden. Das kann eine imperialistische Vision sein (ein Gott- ein Kaiser bzw. ein Papst) und dann stünde sich Christentum und Islam in einem Kampf um die Weltherrschaft gegenüber. Der allerdings wäre auch im religiös pluralistischen Polytheismus keineswegs ausgeschlossen, wie die Geschichte zeigt.

Andererseits gab es im Monotheismus immer auch die gegenläufige Tendenz: Der Glaube an den einen wahren Gott verträgt sich nicht mit der Unterwerfung eines Menschen durch andere. Zudem, so argumentieren die Advokaten des Monotheismus, ist er inklusiv: Der wahre Gott ist der Gott aller Menschen. Freilich, so lässt sich kritisch einwenden, ist diese Inklusivität an Bedingungen geknüpft: Nur wer Gott anerkennt, ist „drin“.

Verträgt sich religiöser Exklusivismus (nicht alle Religionen sind gleich „wahr“) mit politischem Pluralismus? Oder muss (wie nach dem Augsburger Religionsfrieden) der jeweilige Staat/Herrscher dafür sorgen, dass in seinem Machtbereich einheitlich geglaubt wird? Politischer Pluralismus würde beuteten, dass verschiedene Religionen gleichberechtigt koexistieren und sich am politischen Leben konstruktiv beteiligen können.

Neben der Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ hat der Monotheismus auch die Alternative „gerecht“ und „ungerecht“ gesellschaftsfähig gemacht. Er hat daher eine grundlegende ethische Dimension (vgl. Micha 6,8): Die Liebe zum Nächsten. Polytheistische Religionen dagegen sind primär kultisch strukturiert. Zweitens hat der Monotheismus die Religion von Staats- und Stammesangehörigkeit abgekoppelt. Die christliche Kirche bestand von Anfang an aus verschiedenen Nationalitäten und nie war eine einzelne Nation zu hundert Prozent christlich. Es entsteht ein Riss in bis dahin homogenen Gemeinschaften: Volf zitiert Nicholas Woltersdorf, der sagt: „Immer wenn die Kirche in einer Gesellschaft Fuß fasst, zerstört sie jegliche religiös-ethnische Einheit, die dieser Gesellschaft bis dahin zu eigen war. Jetzt gibt es nur noch religiösen Pluralismus.“ Staat und Religion sind ab sofort nicht mehr deckungsgleich.

Glaube aber ist zu allererst eine Angelegenheit des Herzens. Viele Christen und viele Muslime, sagt Volf, würden den folgenden Thesen zustimmen:

  1. Der eine gnädige Gott begegnet allen Menschen zu gleichen Bedingungen.
  2. Die Nächstenliebe erfordert es, anderen die gleichen Freiheiten zuzugestehen, die man sich selbst wünscht
  3. In Glaubensfragen darf es keinen Zwang geben

Bleibt noch das Problem der Apostasie: Etliche heutige islamische Staaten stellen wie das römische Reich nach der Konstantinischen Wende den Abfall vom Glauben unter Strafe, oft wird sogar die Todesstrafe verhängt. Das aber ist eine verfehlte Verknüpfung des Wahrheitsbegriffs mit dem Glauben an den einen Gott, wenn die Religionsfreiheit eingeschränkt wird. So lange sich eine Religion in der Minderheit befand, forderte sie gleiche Rechte ein, so bald sie in der Mehrheit war, baute sie ihre Privilegien aus. Richtig verstandener Monotheismus aber würde dazu führen, allen Religionen gleiche Rechte einzuräumen und allen Menschen das Recht, die Religionszugehörigkeit zu wechseln.

In einer religiöse inhomogenen (aber eben auch auf Dauer in erheblichen Teilen religiösen) Gesellschaft müssen drei Prinzipien gelten:

  1. Keine Identifizierung von Staat und Religion. Staatliche Gesetze sind also nicht unbedingt als Wille Gottes zu verstehen
  2. Keine völlig Trennung zwischen Religion und Staat: Unparteilichkeit bedeutet nicht, Religion an sich (die im Leben vieler Bürger ein wichtige Rolle spielt) und das Ringen verschiedener Religionen um Gerechtigkeit und Wahrheit aus dem öffentlichen Leben zu verbannen.
  3. Ein unparteiischer Staat ermöglicht es Christen wie Muslimen, ihren beiden wichtigsten Grundsätzen treu zu bleiben: Dass Gott der Gott aller Menschen ist und dass er es gebietet, Recht zu üben und allen Menschen in Liebe zu begegnen.

 

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