Wie natürlich ist »natürlich«?

„Natürlich“ ist ein recht dehnbarer Begriff, das wissen wir alle aus der Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion. Ich bereite mich gerade auf ein Treffen mit natürlichen Gemeindeentwicklern vor und habe dazu die deutsche NGE Website betrachtet, um zu verstehen, in welchen Kontext hinein ich auf die Fragen aus dem letzten Post antworten soll.

Das „Natürliche“ daran ist, dass die Metapher des Körpers verwendet wird. Nicht die des Leibes – den Unterschied habe ich letzte Woche hier beleuchtet. Und so kommt der Körper dort in Teile gegliedert und funktional aufgeschlüsselt daher. Ebenso könnte man auch jede Maschine beschreiben, oder einen Goldhamster, oder ein Krokodil: Muskeln, Blut, Herz, Augen, Hände (ok, hier ist das Krokodil im Nachteil). Auf die lebendige Einheit des ganzen – auf die gewachsene, unverwechselbare Persönlichkeit einzelner Gemeinden oder ganzer Kirchen – verweist zumindest die Startseite nicht.

Dazu passt ganz gut, dass unter den drei Charakteristika des Konzepts zwei Schlüsselbegriffe moderner Naturwissenschaft firmieren: „Prinzipienorientiert“ und „empirisch“. Die Prinzipen – Descartes hätte seine helle Freude an dem Projekt – sind „unabhängig von Kultur und Theologie einer Gemeinde“. Anders gesagt: sie blenden jeglichen geschichtlich-sozialen Kontext aus und erheben einen universalen Geltungsanspruch. Und auch der dritte Oberbegriff, „trinitarisch“, erscheint funktional und farbcodiert. Ist das nur notwendige pädagogische Methodik oder hat sich hier das Virus eines anwendungsorientierten Reduktionismus ausgebreitet?

Die Sprache und Begrifflichkeit weist die NGE nun also doch als ein eminent kulturgebundenes Projekt aus – ein typisches Kind der Moderne. Wachstum erscheint weniger als Geheimnis oder gar Geschenk, seine Faktoren sind entschlüsselt und mit der richtigen Technik (das Bild von der „Minimumtonne“ ist ja mechanistisches Denken par excellence) ist das dann auch zu beheben. Während bei Paulus die Pneumatologie, das Reden vom Heiligen Geist als gestaltender Kraft, der Ort ist, an dem die Gemeinde als „Leib“ in den Blick kommt, werden hier die Leiter und Berater zu den Akteuren. Müsste man sie jedoch nicht, fragt der Postmoderne, eher als Teil des Problems beschreiben – nicht mehr als andere, aber eben auch nicht weniger?

Nun gut, es ist in der Botanik ja zweifellos so, dass es Zusammenhänge von Ursache und Wirkung gibt. Und freilich ist eine Gruppe von Menschen, eine Organisation (auch wenn viele das Wort scheuen und nur von „Organismus“ reden wollen) eben doch etwas anderes als ein Pflänzchen. Aber passt dieses Verständnis von „natürlich“, das die Frage der Umwelt (sprich: Geschichte, Gesellschaft, Ort und Kultur) für mindestens zweitrangig, wenn nicht vernachlässigbar hält, nicht eher in ein Gewächshaus als in ein lebendiges, sich wandelndes Ökosystem unter freiem Himmel, zumal in Zeiten des nicht nur meteorologischen Klimawandels?

Also bin ich gespannt, was die NGE-Crew erzählt und ob der Eindruck, den die Website vermittelt, sich vielleicht auch wieder völlig relativiert, wenn man mit den Leuten intensiver redet.

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