Am Anfang war der Gesang

Tolkien könnte mit seinem Kunstmythos, dass die Welt aus dem Gesang der Ainur entstand. gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt gewesen sein, zumindest nicht von der Art, wie Menschen ihre gemeinsame Welt erschaffen. Iain McGilchrist hat gute Argumente dafür gefunden, dass vor der Sprache die Musik, vor der Rede der Gesang war.

Man schätzt, dass Sprache als Symbolsystem im heutigen Sinne mit Silben, Wörtern und Grammatik etwa 40.000 bis 80.000 Jahre alt ist, so alt sind die ältesten Bilder und Skulpturen, die man ausgegraben hat und die auf demselben Prinzip der Repräsentation beruhen. Wesentlich älter muss das Vermögen von Menschen sein, komplexe Laute zu erzeugen, indem die Stimmbänder moduliert und die Atmung auf die komplexen Erfordernisse längerer Lautsequenzen eingestellt wurde. Bei den Vorfahren des Homo Sapiens jedenfalls waren die Nervenkanäle zum Brustkorb und Kehlkopf deutlich größer als die heutiger Primaten. Daher gelingt es trotz vieler Versuche nicht, Affen das Sprechen beizubringen, während Vögel singen und zum Teil menschliche Stimmen imitieren können, und Wale und Delphine auch für unsere Verhältnisse „musikalisch“ kommunizieren.

Das Ganze spiegelt sich in der Entwicklung des einzelnen wider. Kinder können singen, bevor sie sprechen: Sie modulieren Töne, imitieren und verstehen Rhythmen und Phrasierungen – und sie kommunizieren darüber. Während wir mit Worten über irgendetwas reden können, spricht Musik uns an. Und Sprache ohne Tonalität, wie die Blechstimmen von Navigationsgeräten, ist ein merkwürdig beschränktes Medium. Bei schriftlicher Kommunikation schließlich ist noch mehr Sorgfalt nötig, um den richtigen „Ton“ zu treffen. Anders gesagt: Prosodie kann viele „semantische Ambiguitäten“ auflösen. In jedem Fall ist sie körpernäher und gehört zu den 90% menschlicher Kommunikation, die nicht aus Worten bestehen. Es spricht wohl auch Etliches dafür, dass Poesie – gesungene Dichtung in der Regel – älter ist als Prosa. Schließlich kann man auch noch mit vielen Worten viel besser lügen und täuschen als mit Gesten, Mimik und Intonation.

Von da aus weiter gedacht: Ein wort- und vernunftlastiges (und weitgehend körperloses) Christentum, wie es unter Protestanten die Norm ist, tut vielleicht gut daran, den Wert von Musik und Gesang nicht nur zur ästhetischen Umrahmung theologischer Aussagen, sondern als eigene und sinnvolle Form der Kommunikation neu zu entdecken (das geschieht ja auch an vielen Stellen). Die Lieder (Taize macht das gut vor, einige Lobpreislieder ganz passabel nach) brauchen auch nicht immer unglaublich bedeutungsschwangere Texte zu haben. Wobei ich als Textfreak hinzufügen würde: doof müssen sie deshalb auch nicht sein. Aber das resultiert ja eher aus einem Hang zu geschwätzigen Plattitüden und unbesehenem Gebrauch von vorgestanzten Textbausteinen.

Das Ganze wirft auch ein interessantes Licht auf die oft irritiert wirkenden Kommentare, mit denen das Thema Glossolalie in der kirchlich-theologischen Literatur normalerweise abgefertigt wird. Denn auch dort geht es neben dem Reden in einer Art unverständlichen „Babysprache“ (als „ganzheitlichem Sprachgeschehen“) häufig um das Singen. Das liefert vielleicht keine „verwertbaren“ Aussagen über Gott, aber es spricht Menschen immer wieder tief an.

In Frage steht auch die moderne Unterscheidung zwischen Musikproduzenten und -konsumenten, die sich ebenfalls bis in die Kirchen hinein etabliert hat. Mehr oder weniger professionelle Solisten und Ensembles „bieten“ den tendenziell passiven Gottesdienstbesuchern einen Ohrenschmaus (oder berieseln einzelne als Konserve), während in vielen ursprünglichen Kulturen alle gemeinsam singen und tanzen, und das nicht nur zu einigen wenigen Anlässen, sondern bei allem, was das Leben ausmacht. McGilchrist spricht von einer integralen und integrativen Rolle der Musik in diesen Gesellschaften.

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