Nicht der Standort, sondern die Richtung zählt

Die Sonne ging heute um 8:04 Uhr auf und wird um 16:15 Uhr wieder untergehen. Sie scheint heute (meist hinter der Wolkendecke) 8 Stunden und 11 Minuten, das sind nur noch drei weniger als das absolute (lokale) Minimum von 8:08 nächste Woche. Es sind die dunkelsten Tage des Jahres. Für viele ist es noch dunkel, wenn sie morgens das Haus verlassen und schon wieder dunkel, wenn sie zurückkommen.

Warum zähle ich die Zeiten hier so exakt auf? Weil es mich tröstet, dass die Wende in Sicht ist. Noch ist es lange dunkel und es bleibt auch noch eine ganze Weile bei kurzen Tagen und kalten Nächten. Aber ab nächster Woche kippt die Erdachse langsam wieder in die richtige Richtung. Und ich kann mich darauf freuen, dass es jeden Tag ein kleines bisschen heller wird.

Passend zur Jahreszeit haben auch unsere Gottesdienste sich (inspiriert von Brian McLarens neuem Buch) mit der Frage befasst, wie man im „Herbst des Glaubensgeistlich überleben und irgendwie auch reifen kann. Die Wochen von der Zeitumstellung Ende Oktober bis jetzt ungefähr fühlen sich mehr so an, als würde es in den Tunnel hineingehen. Nun allmählich macht die Röhre einen Bogen und das Licht am Ende erscheint wie ein kleiner Punkt in der Ferne. Den Sonnenaufgang nach der längsten Nacht feiere ich immer mit einem Freund draußen bei einem Feuerchen. Wir sprechen über das alte Jahr und beten zusammen, bevor wir durchgefroren frühstücken gehen, wenn die Zeit noch reicht.

Apropos Freunde: Es gibt im Herrn der Ringe eine Szene, wo sich am Tag der Wintersonnwende Sam und Frodo von ihrem neuen Freund Faramir verabschieden und nach Mordor ziehen. Unvermittelt fällt ein Sonnenstrahl auf das zerstörte Standbild eines alten Königs des Westens und Frodo sagt: „Sie können nicht auf ewig siegen“. Egal womit jeder von uns gerade zu kämpfen hat: Hoffnung bedeutet, dass wir uns eine bessere Welt noch vorstellen können, und uns von dieser Vorstellung anspornen lassen. Die wenigsten von uns müssen ja eine Hölle wie Mordor durchqueren. Aber auch andere Durststrecken können lang werden.

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Sinnliche Geschichtsstunde

Ich hatte es ja schon kurz erwähnt: Nach Meine Reise zum Leben hat Rainer Wälde mit Im Segen der irischen Mönche nun eine zweite DVD produziert, die dem Einfluss der keltischen Christen auf das geistliche Leben Europas im Mittelalter und bis heute nachgeht. Er folgt den Spuren des Heiligen Columbanus von Bangor in Irland über Luxeuil in den Vogesen bis nach Bobbio in Oberitalien.

Der Ordensgründer und Missionar hatte einen ganz erheblichen und nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Christentums in unseren Breiten, und seine Schüler, von denen vor allem Gallus (der Apostel der Alemannen) erwähnt wird, setzten dies fort. Neben Gallus kommen auch Magnus, der im Allgäu wirkte, und Pirmin, Gründer des berühmten Klosters auf der Insel Reichenau im Bodensee, in den Blick.

Ich habe den Film zweimal angesehen – beide Male mit großem Gewinn. Rainer Wälde ist es gelungen, nicht nur einen historischen Rückblick zu liefern, sondern auch Menschen zu Wort kommen zu lassen uns ins Bild zu setzen, die dieses Erbe heute noch pflegen – und nicht nur die Erinnerung, sondern auch den Geist dieser so ungemein fruchtbaren Bewegung wach halten: Historiker, ein Bischof, ein Priester, Musikerinnen und Pilger sorgen neben schönen Landschaftsbildern dafür, dass diese Geschichtsstunde auch einen angenehm sinnlichen Aspekt bekommt.

Man kann dieses Video zuhause im Wohnzimmer genießen, aber gerade in den beschriebenen Gebieten zwischen Allgäu und Vogesen lässt sich damit auch ein schöner Gemeindeabend bestreiten, dann kommt zum Sinnhaften das Sinnstiftende noch dazu. Und auch wer, wie ich, in anderen Gegenden wohnt, wird nicht nur gut informiert, sondern auch neu inspiriert. Es gibt in unserer Geschichte ja so manches problematische Kapitel, mit dem wir uns befassen müssen. Um so schöner, wenn wir uns daran erinnern lassen, dass es auch vieles Gute zu entdecken gibt.

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Verstellter Blick

Die folgenden Zeilen habe ich am Wochenende in Rilkes Stundenbuch gelesen, sie haben mich noch eine Weile beschäftigt. Zum Nachdenken in dieser ja oft als „besinnlich“ bezeichneten Zeit:

Wir bauen Bilder vor Dir auf wie Wände  

So dass schon tausend Mauern um dich stehen

Denn dich verhüllen unsre frommen Hände

sooft dich unsre Herzen offen sehn

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Geht auf die Straße!

Es war eigentlich einen nette Geste vom Fahrer des grünen Sharan, der mir letzte Woche beim Rechtsabbiegen die Vorfahrt genommen hatte, dass er, als es schon geschehen war, noch über die Schulter auf den Radweg schaute und bremste, um nun, endgültig unverrückbar mitten im Weg, ein Weilchen innezuhalten. Ich winkte ihn ungeduldig weg und war dankbar, dass meine Bremsten trotz der Nässe funktioniert und meine Ahnung mich nicht getrogen hatte. Vor ein paar Wochen hatte ich dasselbe mit einem pissgelben Fiat Panda erlebt, damals stürzte ich (glimpflich, aber schmerzhaft) und der Fahrer fuhr einfach weiter, vermutlich hatte er gar nichts gemerkt.

Neulich wurde öffentlich über die Helmpflicht für Radler debattiert. Da gibt es gute Argumente. Viel zu wenig wird aber darüber diskutiert, wie Unfälle verhindert werden können, so dass Helm und Airbag gar nicht nötig sind. Ich gewöhne mir gerade an, möglichst immer auf der Fahrbahn zu radeln. Das fühlt sich zwar nicht so an, ist aber deutlich sicherer. Solche – leider ja alltäglichen – Szenen, wo ein abbiegender PKW einen Radfahrer auf dem parallel verlaufenden Radweg über den Haufen fährt, passieren viel seltener, wen sich beide die Fahrbahn teilen müssen.

Die Stadt Erlangen hat an vielen Stellen schon reagiert und die blauen Radwegschilder (auf den ohnehin oft viel zu schmalen, farblich geteilten Bürgersteigen) abmontiert. Man darf da noch radeln, kann aber auch die Straße benutzen. Wenn Spurrillen aus Schnee und Eis dazukommen, wird die Wechsel auf die Fahrbahn ohnehin oft unausweichlich. Das Problem ist nur, dass viele Autofahrer noch gar nicht wissen, dass die Regeln geändert wurden. Aber einen Radfahrer, der ihnen sichtbar im Weg ist, fahren sie nicht so leicht um wie einen, der unsichtbar auf dem Radweg daherkommt.

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Der eine und der andere Advent

Der Advent ist eine merkwürdige Einrichtung im Kirchenjahr. Einerseits bezeichnet der Begriff die Vorweihnachtszeit und man bereitet sich auf das Christfest vor, die „erste Ankunft“ vor. Beziehungsweise darauf, sich an Weihnachten daran zu erinnern, denn dieses Kommen liegt ja zurück. Man kann – Lesslie Newbigin hat darüber gespottet – das nun pietistisch so aktualisieren, dass man sagt, der Heiland müsse eben in den Herzen immer neu geboren werden. Aber so spricht das Neue Testament nicht, aus guten Grund.

Früher lief am Heiligabend die Sendung „Wir warten auf das Christkind“. Vermutlich wurden die Kleinen damit kaltgestellt, bis die Eltern den Baum geschmückt und die Geschenke drunter abgelegt hatten. Ich finde diesen Advent als Warten auf Weihnachten ziemlich langweilig. Es ist so schrecklich vorhersagbar. Man weiß genau, was kommt, und wann es geschieht.

Klar, man kann sich einstimmen (nein, nicht -kaufen…) und vorbereiten, im frühen Mittelalter jedoch war der Advent eine Zeit des Fastens und der Buße, also ganz ohne Lebkuchen und Schokolade.

Es gibt aber auch den anderen Advent. Der besteht darin, über die Hoffnung auf das zweite Kommen Christi nachzudenken, zu sprechen und zu meditieren. Auf die Hoffnung also, dass alle Tränen abgewischt werden, alle Wunden geheilt, alle schmerzlichen Konflikte in fruchtbare Spannung verwandelt, alle zerbrochenen Beziehungen wieder hergestellt, alles Unrecht überwunden

Diesen Advent zu feiern, bedeutet nicht nach Glühwein und Früchtebrot, sondern nach Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten. Und das Seufzen der Kreatur zu teilen, des fiebrigen Planten mit steigender Temperatur. Oder (um ein abgelutschtes Wort doch noch einmal zu verwenden) Solidarität zu üben mit all den Menschen, die unter sehr viel mieseren Bedingungen leben als wir selbst, und sich jeden Tag fragen, wie lange das noch so weitergehen soll. Kerzen und Lichterketten haben dann nicht die Funktion, die jahreszeitliche Dunkelheit behaglicher zu machen, sondern ein Zeichen gegen die düsteren Ausblicke vieler und die finsteren Machenschaften einiger weniger Mächtiger zu setzen.

Es ist aber auch eine Zeit, wo nicht nur passives (Mit-)Leiden, sondern praktisches Handeln eingeübt werden kann. Das wäre das „Fasten, das Gott gefällt“ (vgl. Jes. 58). Es unterbleibt aber oft auch deshalb, weil wir unseren naturgemäß begrenzten Einsatz für unerheblich halten, nur einen Tropfen auf den heißen Stein darin sehen. Ein „Warten in Gerechtigkeit“ tut das Gute unabhängig von Kosten-Nutzen-Erwägungen. Die haben sicher auch ihr Recht, man muss die Folgen seines Tuns wohl bedenken. Aber manchmal irren wir auch nach der Seite, dass wir sie zu gering veranschlagen und apathisch werden.

Man feiert dann Weihnachten auch ganz anders: Jesus erscheint nach diesem Vorlauf als einer der Ausgeschlossenen, Ungewollten, Herumgeschobenen und Vertriebenen, das Magnificat als das „we shall overcome“ des ersten Jahrhunderts. Und das Weihnachtsessen als eine Vorwegnahme des großen Festmahls aus Jesaja 25,6-9.

PS: Wann bringt die Micha-Initiative eigentlich ihren Adventskalender heraus?

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Novemberwolke

Heute morgen haben wir im Team mit Wordle gespielt, ich habe hier meine Posts vom November eben zum Spaß auch mal in passenden Farben verwurstet und man sieht, Pete Rollins hatte einen großen Auftritt…

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Das „emergente“ Hirn: Mehr und anders denken

Der britische Psychiater Iain McGilchrist gibt in diesem Clip von RSA Animate einen Überblick über die Funktionen der beiden Hirnhälften und verwirft dabei die alten Klischees von Denken und Fühlen. Dennoch bleiben wichtige Unterschiede:

McGilchrist präzisiert, wie man die beiden Seiten unseres Denkens und unserer Phantasie besser beschreiben kann und zeigt, dass unsere Gesellschaft im Laufe der Zeit (und nicht zum ersten Mal in der Kulturgeschichte) eine starke Neigung zum Abstrakten, Dekontextualisierten, Geschlossenen, Virtuellen, Maschinellen, Isolierten und Leblosen (dafür aber Griffigen, Eindeutigen, Perfekten und Umsetzbaren) hat, mit dem wir in der Welt der Objekte und Gegenstände gut klarkommen, während wir uns schwer tun mit dem, worum es in unserer rechten Hirnhälfte geht.

Dort steht das Erkennen des Individuellen (bzw. der Differenz und des Personalen), des Kontextuellen, sich Entfaltenden, Impliziten, Vernetzten und Offenen, Leiblichen und Lebendigen im Vordergrund, das sich allerdings allen exakten Bestimmungen und aller völligen Erkenntnis oder Gewissheit entzieht und nur unscharfes Wissen, kreativen Zweifel und vor allem keine absolute Kontrolle erlaubt. Ein wunderbares Stück Modernismuskritik aus neurobiologischer Sicht, und ein starkes Plädoyer für systemisches Denken!

Wir brauchen beide Fähigkeiten: Die Klarheit des Denkens und Präzision von Sprache, die uns die linke Hirnhälfte ermöglicht, aber eben auch (und angesichts der Defizite vielleicht noch mehr) die Fähigkeit, in Beziehungen und ganzheitlich zu denken.

Wenn man die Begriffe betrachtet (fast hätte ich „analysiert“ geschrieben…), mit denen McGilchrist die Funktion der rechten Hälfte beschreibt, dann lässt sich buchstäblich jeder einzelne dieser Begriffe auf die emergent conversation anwenden. Man könnte also sagen, dass hier (sicher nicht zum ersten und einizgen Mal) die Reintegration der rechten Hemisphäre in die Theologie unternommen wird, oder vielleicht sogar ein theologischen Neuentwurf aus dieser Perspektive gewagt wird, in den dann der Ertrag anderer Richtungen, die rationalistischer ansetzen und höheren Wert auf Ordnung, Korrektheit und Kontrolle legen, zum Teil integriert werden kann, zum Teil aber auch relativiert und kritisiert wird.

Streng genommen ist als das (im dogmatischen Sinn) Rechtgläubige etwas, das quasi einseitig links geglaubt wird 🙂 Man muss aber zugleich sagen, dass ein radikaler Postmodernismus, der das linkshemisphärische Kind mit dem Bade seiner fest gefügten Gewissheiten ausschüttet, keine gute Lösung für unsere Probleme ist.

(P.S.: Könnten wir bitte mal den genialen Zeichner von RSA ausleihen und genau so ein Video für Emergent Deutschland drehen?)

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Nichts am Hut mit Lady Gaga

Tipp für die Wochenendlektüre. Die Zeit hat letzte Woche ein schönes Portrait von Slavoj Žižek veröffentlicht, dem – wie es dort heißt – „Superstar der Kapitalismuskritiker“.

Für altgediente Fans wie Erstinteressenten ein schöner Zugang zur Person, die ebenso oft dämonisiert wie bejubelt wird. Hier unterbleibt beides und der Philosoph dementiert auch noch Gerüchte über eine Liaison mit Lady Gaga.

In Zeiten der Finanzkrise ist Žižek-Leküre fast schon ein Muss. Wer nicht auf Lesen steht, kann dem Meister hier lauschen:

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Tom Saywer missional, oder: Der Mut zur Zumutung

Rodney Stark wirft in The Rise of Christianity einen interessanten Blick auf die Christenverfolgungen im Römischen Reich. Was das mit missionaler oder emergenter Kirche zu tun hat, erkläre ich gleich. Zunächst zu Starks Thesen: Stark sagt, alle religiösen Gemeinschaften haben das Problem der Trittbrettfahrer: Menschen, die von der Gruppe profitieren ohne selbst irgendeinen Beitrag dazu zu leisten. Diese unverbindliche Rosinenpickerei ist für Glaubensrichtungen, die ein soziales Leben entwickeln, ein gravierendes Problem, weil sich irgendwann die Aktiven ausgenutzt fühlen und ihr Engagement zurückfahren. Anders ist es bei religiösen Strömungen die keine Gemeinschaften bilden oder nur das Gegenüber von Meister/Guru/Medium und Heilsuchendem kennen, aber weil diesen die soziale Dimension fehlt, sind sie auch schwächer.

Man kann nun das Problem so lösen, dass man Hürden errichtet, deren anstrengendes Überwinden die Ernsthaftigkeit des Interessenten erkennen lässt: Ähnlich wie Neumitglieder in einem Verein eine Aufnahmegebühr zahlen, die nicht erstattet wird (die Forderung nach zölibatärem Leben hat soziologisch gesehen dieselbe Funktion). Das wären Maßnahmen von innen. Die Märtyrerkirche musste sich solche Fragen nicht stellen. Selbst wenn die Verfolgungen sich meist gegen die Amtsträger richteten, kaum jedoch gegen die „einfachen“ Gläubigen, war der Einsatz deutlich erhöht. Wer bereit war, den Preis zu zahlen und gelegentlich Schikanen oder Ähnliches in Kauf zu nehmen, hatte zugleich einen deutlichen Gewinn – er gehörte zu einer starken, verschworenen (warum sagen wird’s im Deutschen eigentlich so?) Gemeinschaft. Der Kaiser löste also nichtsahnend das Trittbrettfahrerproblem und er machte die Gemeinden damit nicht schwächer, sondern stärker und attraktiver. Zugleich, und Stark wird nicht müde das zu betonen, blieben die Gemeinden ein „offenes Beziehungsnetz“ – sie waren öffentlich bekannt (also keine Untergrundkirche), sehr gastfreundlich und setzten sich für ihre Nächsten praktisch ein, wenn diese krank wurden oder in Not gerieten.

Heute funktionieren viele Gemeinden quer über das ökumenische Spektrum nicht mehr als ein offenes Beziehungsnetz und viele Überlegungen gehen in die Richtung, dass man fragt, wie die Schwellen gesenkt werden können. Man betreibt Marktforschung und versucht, möglichst maßgeschneiderte Angebote zu machen. Und auf möglichst jede Sorge und Empfindsamkeit Rücksicht zu nehmen. Wir reden von centered sets, die auf alle Hürden verzichten, und schon von Willow Creek hatten alle vor Jahren schon gelernt, dass man Interessierten nicht zu schnell zu nahe treten darf, sondern man lässt sie beim Klingelbeutel aus und auch sonst so weit wie möglich in Ruhe, bis sie sich rühren. Und in manchen verschwurbelten Volkskirchentheorien wird das Nichtengagement der passiv Partizipierenden theologisch komplett verklärt.

An dem Bemühen, Menschen gerecht zu werden, ist auch gar nichts falsch. Allerdings fördert diese pauschale Hemmung, irgendwo irgendwie eine klare Grenze im Sinne einer verbindlichen Forderung zu ziehen, vermutlich auch das Trittbrettfahrertum und ermüdet die Engagierten überproportional schnell. Man müsste also bei aller Bemühen um Inklusion einen Weg finden, an anderer (und hoffentlich besserer!) Stelle wieder ein bisschen exklusiv zu werden. Das könnte zum Beispiel die Erwartung von Konsumverzicht sein, oder irgendeine andere Zumutung – ein „Stigma“, wie Stark sagen würde. Jede Gemeinschaft muss das selbst bestimmen.

Bei allen Aversion gegen falsches Leistungsdenken in Gemeinden gibt es vielleicht auch einen richtigen und guten Platz für ganz konkrete Zumutungen im Sinne von Bonhoeffers „teurer Gnade“. Dass Gott etwas von mir erwartet, kann doch auch eine gute Nachricht sein, oder? Immerhin traut er mir (im Unterschied zu manch anderen) tatsächlich etwas zu! Genial veranschaulicht hat die psychologische Dynamik dabei Mark Twain:

„Bist ganz schön beschäftigt, wie?“ versuchte er es noch einmal.

„Ach, du bist es, Ben… Hab dich gar nicht bemerkt.“

„Kommst du mit zum Schwimmen? Obwohl, vermutlich willst du lieber schuften!“

„Ich schufte doch nicht. Das mache ich aus Spaß.“

„Du behauptest allen Ernstes, dass du das gerne tust?“

Tom bewegte den Pinsel kunstvoll auf und ab. „Warum denn nicht? Wann kriegt man denn schon mal eine Chance, einen ganzen Zaun alleine anstreichen zu dürfen!“

Das ließ die Angelegenheit in einem ganz anderen Licht erscheinen. Tom malte mit äußerster Eleganz weiter, verbesserte hier und da eine Kleinigkeit, während Ben ihn nicht aus den Augen ließ. Die Sache interessierte ihn immer mehr. „Lässt du mich auch mal?“

Tom zögerte kurz. „Nein, das geht nicht, Ben… Tante Polly ist furchtbar pingelig mit ihrem Zaun. Es wird kaum einen Jungen unter tausend geben, der es ihr recht machen könnte.“

„Och, komm. Lass es mich doch wenigstens versuchen. Nur ein kleines Stückchen!“

Tom zierte sich noch ein wenig, aber als Ben ihm den Apfel dafür anbot, reichte Tom ihm scheinbar widerstrebend den Pinsel. Innerlich frohlockte er. Und während das alte ‚Dampfschiff‘ in der Sonne arbeitete, saß der Künstler auf einem Fass im Schatten und aß genüsslich den Apfel. Im Laufe des Nachmittags schlenderten noch weitere Jungen vorbei, die erst spotteten, um dann zu streichen.

Am frühen Nachmittag war aus Tom ein steinreicher Junge geworden. Vor ihm lagen Schätze wie, ein gut erhaltener Drachen, eine tote Ratte, zwölf Murmeln, eine blaue Glasscherbe zum Durchsehen und vieles mehr. Die ganze Zeit über hatte Tom gemütlich im Schatten gesessen und Unterhaltung gehabt. Eine dreifache weiße Farbschicht bedeckte den Zaun. Wäre die Farbe nicht ausgegangen, hätte Tom sämtliche Jungen des Ortes bankrott gemacht. (Quelle: Lesekorb)

 

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Caution: Bible Hazard :)

Da hatten wir es doch erst vom evangelikalen Linksruck in den USA, schon folgt das nächste Aha-Erlebnis: Christianity Today hat jüngst auf eine Studie der Baylor University hingewiesen, die der Frage nachgeht, was eigentlich mit Leuten passiert, wenn sie in der Bibel lesen. Viele würden nun erwarten, dass vor allem konservative Werte und Einstellungen davon befördert werden, und an einigen Stellen ist das auch der Fall.

Zugleich aber entdeckten die Forscher, dass Christen die rabiaten Sicherheitsgesetze des Patriot Act um so kritischer sahen, je öfter sie zur Bibel griffen. Ähnliches gilt für die Abschaffung der Todesstrafe und einen humanen Strafvollzug oder die Vereinbarkeit (!) von Bibel und moderner Wissenschaft.

Soziale Gerechtigkeit und Konsumverzicht standen bei den Viellesern deutlich höher im Kurs als bei den Weniglesern. Man fragt sich, ob der Bible Belt mit seinem stramm konservativen Wählerpotenzial seinen Namen eigentlich noch verdient, oder ob diese Positionen nicht ein Hinweis darauf sind, dass den Konservativen die Bibel herzlich egal ist oder nur insofern relevant, als sie ihre rechte Agenda vermeintlich legitimiert.

Warum das so ist, erklärt Aaron B. Franzen so:

Frequent Bible readers may have different views of biblical authority, but they tend to read it devotionally, looking for ways in which Scripture is speaking directly to them. They will read until struck by something that sticks out in the text. Even if the reader thinks the Bible has some error or needs a lot of interpretation, this thunderbolt moment can take on tremendous personal significance.

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