Die Kinderbibel-Illusion

Immer wieder begegnet mir bei Jugendlichen, die mit Kindergottesdienst und Religionsunterricht groß geworden sind, ein eher gelangweiltes Verhältnis zur Bibel. „Kenn‘ ich doch schon alles…“, heißt es da oft. Und das stimmt auch in gewisser Weise. Sie kennen den Kanon im Kanon, der in Kinderbibeln, Kindergottesdienstmaterial und Lehrplänen tatsächlich mehrfach durchgehechelt wird.

Und weil sie an jedem dieser Denkmäler schon mehrfach vorbeichauffiert wurden, denken sie, sie haben alles gesehen. Wie Touristen, die schon die dritte Stadtrundfahrt durch London machen. In Wirklichkeit haben sie bei dieser Sightseeing-Tour nur die üblichen Postkartenmotive abgeklappert. London kennen ist dagegen eine ganz andere Sache.

Leider erscheinen die nicht gerade benutzerfreundlichen Paulusbriefe tatsächlich wie die weniger pittoresken Seitenstraßen im Vergleich zum bunten, (ver)einfach(t)en Hochglanzrepertoire des Kinderkanons. Das weckt nicht gerade die spontane Lust am Lesen. Der Umstieg auf die „richtige“ Bibel kann zwar erleichtert werden durch sprachlich aktuelle Übersetzungen („modern“ ist irgendwie kein passendes Wort dafür, finde ich). Aber es bleibt auch so noch eine Erwachsenenbibel, in deren Teig deutlich weniger Rosinen stecken als erhofft.

Der Weg ist nicht ganz leicht, vor allem beginnt er mit der Entdeckung, dass man die tatsächliche Bibel noch gar nicht richtig kennengelernt hat. Ein kleiner Ausschnitt ist zu oft traktiert worden, der Rest fiel unter den Tisch. Wenn es ganz dumm läuft, haben wir dann am Ende Menschen mit einer geringen Dosis Bibel sogar immunisiert?

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Barth missional (2)

Weiter geht es mit einem Kommentar aus KD IV,3 über die Beziehung zwischen dem Volk Gottes und den Völkern der Welt in alttestamentlicher Perspektive:

Entscheidend ist vielmehr auch für die Weltvölker dies, was derselbe Gott auch für sie ist: daß nämlich auch sie gerade in ihrer so kritischen Funktion im Verhältnis zu seinem Volk nicht etwa souverän oder zufällig oder schicksalshaft, sondern ihnen selbst verborgen, aber höchst real, von ihm geführt und regiert, nach seinem Willen von ihm dazu eingesetzt werden.

Er macht seinem Volk Raum in ihrer Mitte. Er führt seine Kriege und er gibt ihm Frieden. Er stellt es durch sie als seine Nachbarn, durch ihre Art und Unart, auf die Probe. Er läßt es ihre Vitalität und Macht erfahren, um es um so zwingender an ihn selbst zu erinnern und ihm selbst zu verpflichten. Er läßt es jetzt über sie siegen und triumphieren, jetzt ihnen unterliegen und zur Beute werden. Er wirkt und redet in der Schwachheit und in der Stärke dieser Völker ihm gegenüber. Es geht auch in dem, was sie tun und zu leiden haben, um seine Sache.

Er führt den Pharao, und er die Potentaten von Assur, Babylon und Persien auf den Plan. Er braucht sie zu Vollstreckern seiner Gerichte, aber wie jenen Cyrus auch als Werkzeuge seiner Treue und Güte. Er setzt ihrem Tun aber auch seine Grenzen. Er läßt auch ihre Reiche steigen, stehen und fallen. Er ist auch ihr Richter und handelt auch an ihnen als solcher. Er zerstört jeden auch nur auftauchenden Schein einer Konkurrenz ihres Wollens, Könnens und Vollbringens mit dem seinigen. Er und in Wahrheit er allein ist auch in ihnen groß. (S. 791)

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