Zuspruch und Wirklichkeit

Heute las ich einen Bibeltext, der, wie ich zunächst fand, den Mund gehörig voll nahm bei der Beschreibung der Wende, die Jesus für die Welt und das Leben der Christen (nein, aller Menschen) gebracht hat. Meine eigene Erfahrung und der Vergleich mit dem, was Menschen um mich her erleben, erschien mir in dem Augenblick weit hinterherzuhinken. Spontan war mir mehr danach, Gott darum zu bitten, dass er uns hilft, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verringern.

Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass es so gar nicht gemeint war. Ein Wortspiel aus dem Englischen fiel mir ein: „Not an expectation to live up to, but a promise to live into“. Und genau das ist es! Auch zwischen Zuspruch und Wirklichkeit besteht noch eine Kluft, aber sie wird dadurch geschlossen, dass wir auf dem Weg bleiben, dem Zuspruch vertrauen und uns immer wieder die Verheißungen vor Augen halten. GInge es um einen Anspruch, dann stellte sich sofort die Schuldfrage: Wer trägt die Verantwortung dafür, dass meine persönliche Erfahrung nur ein fader Abklatsch dieser Aussagen ist? Aber Gott und die biblischen Autoren legen uns hier keine Latte vor die Nase, die wir nur überspringen oder reißen können, sondern sie bauen uns ein Sprungbrett. Die Kluft ist erst dann ein Problem, wenn ich nicht mehr springen will.

Es geht dabei auch um die Richtung der Zeit. Der biblische Zuspruch blickt vom herrlichen Ende zurück und sieht den Sonnenaufgang auf den Gesichtern derer, die ihm entgegen gehen. Von hinten betrachtet, aus der Perspektive dessen, der noch auf dem Weg (oder erst am Anfang des Weges ist) verdunkeln wir bloß den Schimmer am Horizont. Aber wenn irgendetwas mit dieser Welt – und mit mir – besser werden soll, dann muss ich mir diese Perspektive der Verheißung schenken lassen, die im Senfkorn schon den großen Baum sehen kann.

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