Postliberale Theologie (4): Heilige, Reformatoren, Kopfjäger und Nazis

Hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 dieser Serie.

Verstehen wir Glauben sprachlich-kulturell, dann wird es auch möglich, intuitiv zwischen authentischen und nichtauthentischen Objektivierungen der Religion zu unterscheiden. In anderen Zusammenhängen wird diese Unterscheidungsfähigkeit mit dem Verweis auf den Geist Christi oder im Sinne einer Wesensverwandtschaft mit der Weisheit gedeutet.

Was ist gemeint? In Sprachen und Kulturen gibt es ungeschriebene Regeln, die man intuitiv befolgt. Und es gibt überall Menschen, die keine Regeln formulieren (sprich: keinen Grammatikunterricht geben) könnten und dennoch ihre Sprache virtuos sprechen. Anders gesagt: Es gibt Theologen, und es gibt Heilige. Und in manchen Situationen können die Theologen keine Auskünfte geben, ein „Heiliger“, jemand also, der zutiefst in der Sprache und Kultur des Evangeliums verwurzelt ist, kann intuitiv sagen, was richtig ist. Für so etwas wie Intuition, Weisheit und Kunst gibt es im kognitivistischen Propositionalismus keinen rechten Platz, ebenso wenig wie für Weiterentwicklungen.

Denn religiöse Innovation ist in einer sich verändernden Welt auch immer möglich und nötig. Sie ist nun nicht einfach Produkt „neuer Erfahrungen“, sondern Zusammenwirken eines kulturell-sprachlichen Systems mit neuen Situationen. Religiöse Innovation (wie etwa Luthers berühmtes Turmerlebnis) entspringt daher nicht einfach nur einer neuen Erfahrung und Gefühlslage im Hinblick auf Gott, die Welt und das Selbst,

… sondern weil ein religiöses Interpretationsschema (wie immer in der religiösen Praxis und im Glauben eingebettet) Anomalien bei der Anwendung auf neue Kontexte entwickelt. (…) Prophetische Gestalten spüren – oft unter dramatischen Umständen -, wie die überlieferten Glaubensmuster, Handlungen und Rituale einer Neuprägung bedürfen (und dass sie neu geprägt werden können). Religiöse Erfahrungen resultieren dann aus diesen neuen konzeptionellen Mustern, anstatt ihre Quelle zu sein. (S. 67)

Die religiöse Erfahrung dagegen ist logisch (und eventuell auch kausal) sekundär. Das konzeptionelle Muster in Luthers reformatorischer Entdeckung ging der individuellen Erfahrung voraus, auch bei Luther selbst. Wir hatten diese Relativierung des Individuellen ganz ähnlich schon einmal im Blick auf die Emergenz der Reformation.

Um noch einmal zurückzukommen auf die Frage nach dem gemeinsamen Kern religiöser Erfahrungen: Wenn diese so vielfältig sind wie die Interpretationsschemata, die Religionen verkörpern, dann kann es keine einheitliche Erfahrung geben. Buddhistisches Mitleid, christliche Liebe und die Fraternité der französischen Revolution sind „radikal unterschiedliche Wege der Erfahrung und Orientierung gegenüber dem Selbst, dem Nächsten und dem Kosmos.“ Ähnlichkeiten sind zweifellos vorhanden, können aber naturalistisch verstanden werden. Dazu noch einmal Lindbeck selbst:

Die ihnen gemeinsamen affektiven Merkmale sind sozusagen Teil ihres Rohmaterials, sind Funktionen jener Gefühle der Nähe zum unmittelbar Nächsten, die von allen geteilt werden, auch von Nazis und Kopfjägern. Es ist genauso ein Fehler, sie als eine Gattung zu klassifizieren, wie zu behaupten, dass alle roten Dinge, ob Äpfel, Indianer oder der rote Platz in Moskau zur gleichen Gattung gehören. (S. 69)

(…) Man kann nicht behaupten, dass zwei Sprachen einander gleichen, indem man zeigt, dass beide sich überlappende Bestände an Lauten gebrauchen oder Referenzobjekte gemeinsam haben (z.B. Mutter, Kind, Wasser, Feuer und hervorragendere Personen und Gegenstände der Welt, die sich Menschen teilen). Was bei der Bestimmung der Ähnlichkeiten unter den Sprachen zählt, sind die grammatischen Muster, die Verweisvorgänge, die semantischen und syntaktischen Strukturen. Etwas entfernt Analoges kann im Fall der Religionen gesagt werden. Die gegebene Tatsache, dass alle Religionen etwas anempfehlen, das »Liebe« zu dem, was am Wichtigsten (»Gott«) zu nehmen ist, genannt werden kann, ist genauso banal wie die uninteressante Tatsache, dass alle Sprachen gesprochen werden (oder wurden). Das Entscheidende sind die unverwechselbaren Erzähl-, Glaubens-, Ritual- und Verhaltensmuster, die »Liebe« und »Gott« ihre spezifische und manchmal sich widersprechende Bedeutung geben. (S. 71)

Zum letzten Punkt erzählt Lindbeck ein hilfreiches Beispiel: Das Bekenntnis „Jesus ist Herr“ ist nur in einem bestimmten Lebenszusammenhang wahr und sinnvoll. Denn wenn die spanischen Conquistadores oder andere Eroberer es zum Schlachtruf für ihre Feldzüge machen, wird der Satz sinnlos oder falsch. Die dazugehörige Praxis macht deutlich, dass „Herrschaft“ in diesem Fall völlig anders verstanden wurde als Jesus selbst und die Mehrheit seiner Nachfolger sie verstanden haben, nämlich nicht als imperiale Legitimation von Unterwerfung oder „getaufte“ Variante der Pax Romana. Das ist eine andere Sprache und eine andere Kultur, und selbst wenn sie dieselben Wörter oder Wendungen benutzt (wir tun das zum Beispiel mit dem Wort „handy„), dann meint sie noch lange nicht dasselbe.

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